Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Während des Mittagsschläfchens, das ungefähr eine Viertelstunde dauerte, saß das Ehepaar zu Grand'mamans Füßen und rührte sich nicht. Es durfte nicht wahr sein, daß sie schlief. Sie verwarf die ›kannibalische Sitte‹ des Mittagsschlafes und duldete auch in diesem Falle nicht, daß man den lieben Gott beleidige und ihm seinen Tag wegstehle.
»Bei den Negern mag das am Platze sein«, meinte sie und fügte wohl auch den Negern ›gewisse, krankhaft veranlagte Familien‹ hinzu, worunter natürlich die Familie Walter zu verstehen war.
Dementsprechend leugnete sie stets, auch nur eine Minute geschlafen zu haben – sie ruhte nur ein wenig über dem Zeitungslesen aus, das war alles.
Gewöhnlich wurde sie davon wach, daß die Lesebrille über die Nasenspitze hinausrutschte, worauf sie unter dem Ruf: »Nun wäre ich doch beinahe eingeschlafen!« die Brille im Fluge erwischte und zu ihrer Zeitung zurückkehrte. Manchmal, wenn sie angenehm geträumt hatte, sagte sie auch: »Da seht ihr's, Kinder! Es steckt in jedem von uns ein kleiner Neger – oder sonst so was. Nie kann die Tugend die Waffen ablegen. Es hätte mich, weiß Gott, um ein Haar überwältigt.«
Bis dahin mußten die beiden andern stillhalten, um sich keines Eingriffs in den verleugneten Schlaf schuldig zu machen. Was wäre geschehn, wenn Grand'maman, durch einen ungewöhnlichen, vielleicht gar von der Schwiegertochter herrührenden Laut vorzeitig aufgeschreckt, in die Notwendigkeit versetzt worden wäre, die von ihr eingesetzte Todsünde am eigenen Leibe gleichsam mit Händen zu greifen?
Als das Haupt mit der Spitzenhaube, wie von einer höheren Macht vernebelt, langsam abwärtsschwankte, dann, nach kurzen, krampfhaften Zuckungen, die die Versuche Grand'mamans, sich gegen die Natur aufzulehnen, in kläglicher Weise deutlich machten, auch das Händepaar mit dem Temps absank, winkte Marie-Louise ihrem Gatten über den Tisch hinweg zu und begann mit ihren roten, etwas zu kurzen Lippen lautlos auf ihn einzureden.
Die Regel war das nicht, es geschah nur bei besonderen Anlässen, um eine durch das eheliche Zusammenleben gefährdete Überlieferung nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Wäre Edouard taubstumm geboren, er hätte die Lippensprache seiner Frau nicht besser verstanden. Er wußte ihr auch geläufig zu erwidern, und im Grunde zog er diese Verständigung jeder andern vor. War nicht die gesprochene Rede mit spitzen Worten gespickt wie der Igel mit Stacheln? In den Jahren ihrer heimlichen Verlobung, als sie dauernd im Kampf mit der Großmutter und ihren Spionen lagen, hatten sie beide ihre Taubstummensprache ausgebildet bis zur Vollkommenheit. Da die Alte ihre Beziehungen vom ersten Tag an mit dem Interdikt belegte, konnten sie sich fast nur in der Familie und in Gesellschaft sehen, und so lernten sie, sich mit der Kühnheit von Maskierten gefährliche Geschichten zu erzählen, sich in der Luft zu küssen und zu umarmen, ehe sie noch ein Geständnis oder auch nur einen verschwiegenen Händedruck ausgetauscht hatten. Die Augen lieferten den Rohstoff der Sprache, die Lippen formten lautlos die Sätze. »Wir sind als Luftgeister in die Ehe geschlichen«, pflegte Marie-Louise später zu sagen. »Wir spazierten durch geschlossene Türen und Mauern.«
Sogar durch Grand'maman! Es geschah so leise, daß diese sich nicht einmal auf ihr schwaches Herz berufen konnte, womit sie sonst Rebellen im Zaum hielt. Da thronte sie auf dem Podium im Erker, zu ihren Füßen die Familie oder ein Kreis von Bekannten. Edouard und Marie-Louise saßen auf den äußersten Flügeln. Sie fühlten die Aufsicht nicht nur der Großmutter, sondern einer ganzen, in deren Dienst und Gehorsam stehenden Feme – es war ein aufregender, zuweilen etwas quälender Kitzel. Und immer sah nur Edouard allein Marie-Louise an oder Marie-Louise Edouard, niemals begegneten sich ihre Blicke. Sie schienen es gar nicht zu bemerken, wenn einer den andern ansah. Er und sie folgten der Erzählung eines Gastes mit solcher Spannung, daß die Lippen sich wie unwillkürlich mitbewegten. Was war dagegen zu sagen? Die Alte nahm den Anschlag auf die Moral, als welcher der ausdauernde Blick des einen zu gelten hatte, zur Kenntnis, zugleich notgedrungen auch das Alibi des andern, und obwohl sie weit davon entfernt war zu erraten, daß jene Lippen eigenwillige Worte formten, die ihren Bestimmungsort mühelos erreichten, wurde sie von Unruhe ergriffen. Es kam ihr unnatürlich vor, wie die beiden einander verleugneten. Auch entsann sie sich nicht, die Gewohnheit des leisen Mitsprechens früher an ihnen wahrgenommen zu haben – sie waren eher aufmerksame Kinder gewesen. Die Alte spürte etwas wie das Walten unbotmäßiger Gewalten in ihrem Bereich, und zornig löste sie die Schleifen der schwarzen Spitzenhaube unter dem Kinn, um sie im gleichen Handgriff wieder zu binden. Das wohlbekannte Zeichen des Unwillens hatte nach einer Funkpause, die von den Liebenden als Anstandspause gedacht war, das Mißtrauen der Alten jedoch nur bekräftigte, einen Wechsel der Sende- und Empfangsstation zur Folge. Hatte bisher Edouard, scheinbar zerstreut oder stumpfsinnig, auf Marie-Louises bebende Lippen geschaut, so war es jetzt an Marie-Louise, in die reine Anschauung Edouards zu verfallen, dessen Mund seinerseits lautlose Worte zu formen begann.
Vorsichtshalber wurde nicht mehr fortlaufend, sondern mit Unterbrechung gesendet, nötigenfalls auch Sendung und Empfang häufiger gewechselt. Später fiel es ihnen leicht, die Funksprache im Fluge aufzufangen, ohne längere Zeit mit dem Blick auf dem andern verweilt zu haben. Das sicherste war, wenn der sendende Teil einfach die Großmutter anstaunte. Sie bildete ohnehin den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Sofern dann dem Auf- und Zubinden der Haubenschleifen ein von Mißtrauen schepperndes »Was guckst du mich denn so an?« folgte oder, im Wiederholungsfall: »Das Kind guckt mich an, als ob es mich vor Liebe fressen wollte!« – mußten da nicht selbst die untertänigsten Diener der Feme still für sich zugeben, daß die vornehme, alte Dame ihres Amtes als Großinquisitor etwas allzu hartmäulig walte!
Ewig konnte freilich der Buschkrieg nicht dauern. Früh oder spät mußten sie sich Grand'maman in offenem Felde stellen. Eines Tages nahmen sie ihren Mut zusammen und öffneten zu ungewohnter Stunde die Tür des Erkerzimmers, darauf gefaßt, allein schon durch das Ungewöhnliche des Vorganges die ironisch gedämpften Posaunen des Jüngsten Gerichts zu entfesseln.
Es war die knabenhaft schmächtige Marie-Louise, die den stämmigen Edouard führte.
Als sie eintraten, sprang die Alte in ihrem Glaskäfig auf, schüttelte mit dem Kopf, schüttelte ingrimmig, bis das Eislicht ihres Lächelns ausgebreitet auf dem Antlitz lag. Dann setzte sie sich und sagte: »Ich weiß ... Dankeschön ... Ihr könnt gehn. Ich lasse mir niemand über den Kopf wachsen.«
Marie-Louise hüpfte einen Schritt auf Grand'maman zu und hob in flehender Gebärde die Arme: »Oh, Grand'maman ... Bitte!«
Sie glich einem Schulmädchen, das die Lehrerin um Gnade für ein Vergehen anfleht, dessentwegen sie rechtens von der Schule gejagt werden sollte. Das üppige, zu Ohrenschnecken zusammengerollte Haar lockerte sich, und dies erweckte den Eindruck, als ob sie mißhandelt worden wäre – eine ebenso feurige wie erbarmungswürdige Erscheinung. Gleich darauf schämte sie sich ihres leidenschaftlichen Ausbruchs und errötete.
»Es ist gut, mein Kind«, sagte Grand'maman. »Tut, was ihr nicht lassen könnt. Ich will kein Hindernis sein für euer Glück. Ich nicht. Gott bewahre!«
Am nächsten Tag verlegte sie ihren Wohnsitz zu Verwandten auf dem Land und kehrte erst nach einem Jahr zurück, als ihr die bevorstehende Geburt Roberts gemeldet wurde.
Sie haßte das Landleben. Der Umgang mit dem Dorfpfarrer ersetzte ihr nicht den Blick auf die große Welt, wie ihn die Fenster eines Erkers am Schiffleutstaden gewährten. Der Mann Gottes sah auch viel zu wohlgenährt aus. Der Temps traf einen ganzen Tag später ein als in der Stadt. Die Gläubigkeit der Verwandten war von einfältiger, schlafsüchtiger Art. Sie wußten nichts vom Schwert der Erzengel. Was bei ihnen Zufriedenheit hieß, nannte sie mit Betonung: Selbstzufriedenheit, und schon war, wie bei einem Kartenkunststück, aus einer Tugend eine Sünde gemacht. Den Pfarrer, der von Seelenfrieden sprach, wies sie darauf hin, daß dies der Tümpel sei, worin der Teufel die fettesten Frösche fange. Kurz, sie langweilte sich. Gab es eine bessere Gelegenheit, den früheren Zustand wiederherzustellen, das Regiment im Haus und über die weitere Familie wieder an sich zu nehmen, als das Kindbett der Schwiegertochter?
Sie tat es mit fester Hand und ohne viel Mühe, da inzwischen ihrer Klage gegen Schmittlin & Walter, Baugeschäft auf Auszahlung ihres sehr beträchtlichen Geschäftsanteils in allen Instanzen stattgegeben worden war und die flüssigen Mittel der Firma zur Befriedigung ihres Anspruchs nicht ausgereicht hätten.
Das Ehepaar bemühte sich, wenigstens einen Schimmer vom reinen Gold des ersten, allein verbrachten Ehejahres festzuhalten und gemeinsam die verlorene Freiheit auf Schleichwegen wiederzufinden.
Nach Roberts Geburt schien Grand'maman Marie-Louise Generalablaß erteilt zu haben. Als junge Mutter erinnerte die Kleine nun erst recht an ein Schulmädchen. Ein wenig blaß unter der wie aufgemalten Frische ihres Gesichtes, ging sie mit dem Säugling um wie mit einer zu großen Puppe.
»Du siehst verboten aus – rührend schön, aber verboten«, meinte Grand'maman. »Du bist einfach zu jung für eine Mutter. Das Kind sieht bald erwachsener aus als du, meine arme Marie-Louise.«
Grand'maman bemitleidete sie, nicht ohne Mißtrauen, denn in den braunen Augen, die gewöhnlich so erstaunt guckten, konnte unvermutet mit Funken und Glanzlichtern ein karnevalistisches Treiben losgehn, das sich entweder überhaupt nicht um die Mitwelt, also auch nicht um Grand'maman, kümmerte oder aber diese zur Hauptfigur und Zielscheibe des Trubels machte. Zwar trat der Unfug niemals in greifbare Erscheinung, aber es genügte, um Grand'maman vor den Anzeichen einer inneren Überlegenheit der Schwiegertochter erschauern zu lassen, und bestärkte sie in der Meinung, die ›Waltersche Unschuld‹ habe es ›sündhaft dick hinter den Ohren‹. Mit der Zeit, dachte sie, werde sich schon zeigen, wieweit gegen die Überheblichkeit deutlicher vorgegangen werden müsse. Grand'maman richtete den Blick ihrer wasserblauen, erfrischend klaren Augen auf Marie-Louise und lächelte.
Vorläufig begnügte sie sich damit, die Verfolgung des ›Roßapfeljungen‹, des kleinen Walter, wieder aufzunehmen. Sie beschuldigte ihn neuerdings, Marie-Louise aus dem einzigen Grund in die Familie Schmittlin eingeschmuggelt zu haben, um sich selbst seine Stellung in der Firma zu ergattern. Er war mit einer Person verheiratet, die ›nie jemand zu Gesicht bekommen hatte, fragt nur nicht, warum‹, obwohl sie und ihr Mann im Zwischengebäude des Schmittlinschen Anwesens über den Geschäftsräumen wohnten. Sie war natürlich mager und schick, sofern eine Ziege schick sein konnte. Sie ließ ihre Kleider, schlechterdings unzüchtige Gegenstände, aus Paris kommen, und das Geschäft bezahlte sie. Kinder gab es natürlich nicht. Leider zwang die Tatsache, daß der Mensch überall beliebt war, die Großmacht in schwarzer Spitzenhaube immer wieder, umständliche Vorbereitungen zu seiner Niederwerfung zu treffen.
Die Walter (ohne h) stammten aus guter, aber Grand'mamans Meinung nach etwas geistesschwacher Familie.
So standen die Dinge an dem Tage, als die ehrwürdige alte Dame ihren Mittagsschlaf zum letztenmal vor Zeugen hielt, die ihren Augen nicht trauen durften, und Marie-Louise, statt wie sonst stumpfsinnig dazusitzen und zu warten, bis die erwachte Alte sie gnädig entließ, zum erstenmal nach langer Zeit sich unterfing, ihren Gatten mit der Zauberkraft roter, etwas zu kurz geschwungener Lippen zu betören. Das lautlose Gespräch ging um so leichter vonstatten, als sie ihm pantomimisch nachhelfen konnte. Manchmal fiel ein Stichwort, wenn etwa der Gegenstand des Gesprächs wechselte oder wenn Edouard kneifen wollte und sich versuchsweise stellte, als verstünde er nicht. Im Eifer konnte sie sogar in ein zusammenhängendes Flüstern verfallen – es war so lange ungefährlich, als das Geräusch sich harmonisch in das Summen der Fliegen einfügte.
Ich hab dich lieb, sagte Marie-Louise, jawohl, ich hab dich lieb ... Wie gern würde ich an deiner Brust schlafen und zwischendurch ein bißchen wach werden, um mich zu vergewissern, ob du noch da bist! Erinnerst du dich an die Zeit, als wir noch allein im Hause waren? ... Unglaublich, was wir uns da alles unbestraft erlauben durften! ... Ich brauche nur um mich zu blicken, in Gedanken durch die Zimmer zu gehen – und komme nicht heraus aus dem Erröten. ... Was für ein unternehmungslustiger Bursche du warst! ... Ich staune heute noch, wenn ich an deine Kühnheit denke ... Und ich bin dir kein einziges Mal davongelaufen, damals. Das fing erst an, als sie wieder da war ... Ach ja! Es ist eine Schande für die ganze Familie. Aber damals ... Erinnerst du dich? Alles gelang dir. Wie sagte dein Cäsar? »Cäsar«, flüsterte sie »Cäsar! Veni, vidi, vici!« Latein. – Ich kam, sah und siegte. Es ist mein einziges Latein. Jawohl, so warst du – sollte man es für möglich halten! Auch im Geschäft. Ob es das Büro war oder der Bauplatz – wenn du kamst, wurden sie alle vergnügt. Siegesgewiß. Der große Cäsar ließ bei jedem Schritt einen kleinen Cäsar hinter sich zurück, und als ich einmal heimlich nach dir sehen ging, marschiertest du herum wie eine Henne vor ihren Kücken. Wo du auf dem Gerüst auftauchtest, malte die Sonne dir das Zeichen des Genies ins Gesicht ...
Hier öffnete Edouard den Mund zu einem »Was?«
»Genie«, wiederholte Marie-Louise, »Genie.«
Er begriff erst, als sie es halblaut aussprach (das Wort stand nicht in ihrem Lexikon), und lächelte bescheiden.
»Ja, und jetzt«, fuhr sie fort – »seit wann hast du nicht mehr von Cäsar gesprochen? Was ist aus den drei haushohen V geworden?« ... Marie-Louise hauchte sie mit gewaltiger Steigerung in die Luft: » Veni, Vidi, Vici!!! Ja, schau nur! Dort im Erker, da sitzen sie, drei Hündlein unterm Rock einer alten Frau ... Ach, laß mich weinen über meine Helden! Und über mich arme, verlassene Marie-Louise! ... Soll das – bitte, soll das nun immer so bleiben?«
Edouard verneinte mutig mit Haupt und Armen.
»Wirklich nicht? Deine Mutter, weißt du, ist eine furchtbar kriegerische Frau – eine Sansculottin in ihrer Art ... Eine Sansculottin!« Wieder begriff er nicht. Marie-Louise zog den Rock hoch, zeigte den Spitzenrand einer Hose und schnippte sie gleichsam mit den Fingern weg, »ohne Hose, Sansculotte! Verstanden?«
Sein Gesicht war plötzlich entwölkt, und er bekam so leuchtende Augen, daß sie den Anschauungsunterricht überhastet abbrach.
»Großmutter muß den Kopf des kleinen Walter rollen sehen«, erklärte sie, und guillotinierte mit einem Handstreich den kleinen Walter. »Sie muß den Kopf auf die Pike nehmen« – Marie-Louise hielt den Zeigefinger hoch, schüttelte wie Grand'maman und lächelte plötzlich eiskalt – ... Edouard lief ein Schauer über den Rücken.
»Grand'maman meint, mein Brüderchen habe heute im Hof unserm Robby aufgelauert mit dem Vorsatz, den Däumling zu einem schlechten Lebenswandel zu verführen.« ... Marie-Louise goß pantomimisch Wein in ihre Gurgel, umarmte die Luft und schaukelte auf Flügeln in die Welt hinaus ... »Der Arme! Er wird sich hüten! Er wagt überhaupt nur noch zu leben, weil seine Wohnung kein Fenster auf unsern Hof hinaus hat, und verläßt das Haus erhobenen Hauptes nur, wenn er weiß, daß die Königinmutter schläft ... Ich würde mich nicht wundern, wenn er eines Tages statt eines Roßapfels eine Bombe in den Erker schleuderte ... Und nun, Edouard, komm! Wir müssen das Unrecht wiedergutmachen. Dein Sohn hat nicht gelogen. Komm, mein Lieber, komm! ...«
Die beiden schlichen auf den Fußspitzen zur Tür von Robbys Zimmer und öffneten leise. Das Kind, das die Tür heimlich aufgehn sah, machte sich auf das Erscheinen der Mutter gefaßt. Als der Vater eintrat, war es überwältigt.
Während die Mutter hinter sich die Türe schloß, stand es sprachlos, dann stürzte es mit dem Ruf »Papa« in die Arme des Vaters, in dessen entwölktem Gesicht große, dunkelblaue Augen strahlten.
»Armer Robby«, sagte Schmittlin. »Haben wir dir unrecht getan? Hast du nicht gelogen?«
»Nein«, jubelte das Kind.
»Leise! Leise, mein guter Junge! Grand'maman schläft.«
Aber Robert lachte wie von Sinnen und hörte auf wiederholtes Bitten des Vaters mit dem Lachen nur auf, um in den gebieterischen Ruf auszubrechen: »Ich will meinen neuen Onkel sehn!«
»Still«, flehte Vater Schmittlin leise. »Um Gottes willen, Robby, sei still. Hör mal!«
Mit einem Ruck setzte er den Jungen ab.
Robby drückte sich ängstlich an die Hüfte des Vaters, und sie horchten zur Tür hin.
Im Nebenzimmer ging etwas vor sich. Marie-Louise trippelte auf den Fußspitzen zur Tür, um zu lauschen.
Nicht das geringste Geräusch war zu hören, und doch standen sie alle drei in Furcht erstarrt.
Auf einmal wurde laut und deutlich ein Schlüssel gedreht. Hinter der Tür sagte die Stimme der Großmutter: »In Zukunft trinkt ihr euern Kaffee, wo ihr ungestört schreien könnt. Am besten beim neuen Onkel. Ich lasse mir niemand über den Kopf wachsen.«
Sie lauschten noch eine Weile, vernahmen nichts mehr. »Auch das noch!« stöhnte Edouard.
In einer Aufwallung von Mitleid bedeckte Robby die Hand des Vaters mit Küssen, Marie-Louise aber wollte nicht dulden, daß die strahlend blauen, die guten, die wärmenden Augen so bald erloschen. Sie griff mit den Fingern nach den Lippen, die bereits wieder traurig herabhingen, sie hielt sie fest und sagte: »Du, Liebling! Jetzt springen Veni, Vidi, Vici alle drei frei im Zimmer herum. Pfeif ihnen mal! Auf jeden von uns kommt einer ... Damit schaffen wir's ... Edouard! Was machst du denn für ein Gesicht! ... Es ist doch niemand gestorben! Pfeif mal dem Trio! Versuch's ... Bitte!«
Edouard blickte auf die Tür.
»Nein«, lächelte er mühsam. »Weiß Gott, nein! Es ist niemand gestorben ...«
Er preßte den Mund zusammen, der Kopf lief rot an, mit zwei Schritten war er bei der Tür. Er rüttelte, schlug einmal auch mit der Faust dagegen und blickte entschlossen zur andern Tür. Diese führte durch das elterliche Schlafzimmer in den Flur, von wo er sowohl das Erkerzimmer wie das Zimmer der Großmutter erreichen konnte – in einem von beiden mußte sie zu finden sein.
»Ich kann meine Frau nicht so behandeln lassen«, äußerte er mit bebenden Lippen. »Von mir rede ich nicht. Mich hat sie schon als Kind kaputtgemacht ... Was sind das für Manieren – bei einer vornehmen, alten Dame! ... Das geht nicht! ... Das muß ein für allemal aufhören. Ich bin imstand und –«
Er hob die Hand, als packte er jemand am Kragen, und ging auf die andre Tür los.
Reglos blickten Frau und Kind hinter ihm her. Allem Anschein nach sollten heute entscheidende und furchtbare Taten geschehn. Robert strotzte vor grausamer Neugier, er guckte aus Leibeskräften, und Marie-Louise, mit fahlem, wie windverwehtem Gesicht, biß blind auf ihre Lippen. Sie glaubten immer noch an den schwer vorstellbaren Schicksalsschlag, der sie befreien sollte, als Schmittlin dicht vor der Tür haltmachte und sie die Muße fanden, seinen Rücken auszumustern. Gerade dieser Rücken war es, der ihre Hoffnung am Leben erhielt, so überzeugend schien der gesammelte, ja gewalttätige Willen, den er ausdrückte.
Endlich kam Marie-Louise ihrem Gatten zu Hilfe.
»Bleib nur, Edouard«, sagte sie. »Es hat keinen Sinn.«
Aber als er sich umdrehte, senkte sie schamvoll die Augen.
»Sie kann von Glück reden, daß die Tür vorhin zu war«, versicherte er – und bedeutend leiser: »Ich kann doch nicht meine eigene Mutter aus dem Hause werfen!«
»Gewiß nicht«, stimmte Marie-Louise bei. »Die Mutter – bleibt die Mutter.«
Und jetzt sah auch der Junge zu Boden und hielt den Blick gesenkt, bis die Tür sich hinter dem Vater geschlossen hatte.
Allein gelassen, betrachteten sie einander ernst und schweigend. Robert kaute die Fingernägel, Marie-Louise, was Grand'maman nicht minder verabscheute, die roten, kurz geschwungenen Lippen.
»Fest, mein Kind!« sagte Marie-Louise. »Kau, was du kannst!« Nach einer weiteren Pause verkündete sie: »Jetzt sitzen Veni, Vidi, Vici wieder unter ihrem Rock!«
»Wer?« fragte der Junge.
Da erfuhr er nun, daß früher einmal, als das Schmittlinsche Anwesen noch von einem Kaiser namens Cäsar bewohnt war, drei prächtige Leoparden darin frei herumliefen, die im allgemeinen artig, aber sehr stolz waren. Der Kaiser liebte sie mehr als die Menschen, denn keiner seiner Untertanen war so schön und so edel wie sie. Damit erregte er jedoch die Eifersucht einer Hexe, und durch deren Zauberei schrumpften die Tiere allmählich zu winzigen Hündchen zusammen. Der Kaiser liebte sie noch immer. Da begann die Hexe, sie unter ihrem Rock zu verstecken. »Und dort sitzen sie noch.«
»Und der Kaiser?« fragte Robert. »Was sagte der Kaiser dazu? Und was war das für eine Hexe?«
»Das möchte ich auch wissen«, meinte sie zerstreut.
Der Junge riß die Augen auf: »Das weißt du nicht, Mutter?«
Marie-Louise schämte sich und brachte, so gut es in der Eile ging, das angesponnene Märchen zu Ende.
Die Hexe also – die Hexe war die Schlüsselbewahrerin des Reiches, eine uralte Person, die der Kaiser von seinem Vorgänger geerbt hatte. Sie versteckte die Hündchen unter ihrem Rock, aber es half ihr nicht viel, denn sobald der Kaiser ins Zimmer trat, wimmerten die Tierchen, und dann befreite er sie aus ihrem muffigen Gefängnis ...
»Und was sagte er?« wollte Robert wissen.
Marie-Louise dachte nach.
»›Eine Schande!‹ sagte der Kaiser. ›Eine Schande für die ganze Familie.‹«
»Und dann?«
»Und dann?«
Eines Nachts tötete die Hexe eines der Hündchen und setzte es zum Geburtstag des Kaisers den andern als Festessen vor. Die aber rochen den Braten und fuhren der Alten an die Beine. Sie schrie auf und wollte das Zauberwort sagen, das kleine Hunde in Fliegen verwandelt. In ihrem Schrecken versprach sie sich und rief ein Wort, das den Hündchen ihre frühere Gestalt wiedergab, und die Alte wurde aufgefressen bis auf ein paar besonders harte Knochen, die der Kaiser vom Erker aus ins Wasser warf ...
»Über die Waschpritschen hinweg?«
»Über die Waschpritschen hinweg!«
Wie das Wort lautete, das die Gerechtigkeit wiederherstellte, konnte die Mutter nicht sagen. Sie wußte nur, daß es lateinisch war – weshalb zu erwarten stand, daß Robert ihm später auf der Schule begegnen werde.
»Gut«, meinte Robert, »dann erfährst du's durch mich.«