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Sie bot die gesamte Familienpolizei auf und schreckte zuletzt auch vor der Belästigung der Frau Bürgermeister nicht zurück. Mit diesem Schritt wurde Marraine betraut.
Er bereitete ihr die ›größte Seelenqual ihres Lebens‹, wie sie Grand'maman unter flehentlichen Bitten, sie von dem ›Henkersgang‹ zu entbinden, tagtäglich versicherte.
Es gab da eine alte Geschichte – ach! Grand'maman kannte sie nur zu gut! Eines Tages war in dem Kolonialwarengeschäft en gros et en détail, dem ›ersten am Platze‹, das Schreiben eines Rechtsanwaltes eingetroffen, worin das alte Handelshaus eine Räuberhöhle und ihre Besitzer Ehrabschneider en gros et en détail genannt wurden. Marraine sah sich beschuldigt, ein ganzes Stadtviertel mit ihrem ›gemeingefährlichen Klatsch verpestet zu haben‹, weil Frau Bürgermeister Klein die Annahme einer unfrischen Ware, wie sie vielleicht für weniger zahlungskräftige Kunden zurückgestellt zu werden pflegte, abgelehnt und seitdem das Geschäft gemieden habe. Nach Aufzählung der ärgsten, von Marraine ausgestreuten Verleumdungen schloß das Schreiben mit der Ankündigung einer Beleidigungsklage, der die Veröffentlichung des Urteils ›zu Lasten der Beklagten‹ in den Zeitungen folgen werde. Marraine, im Glasverschlag unter dem sausenden Gaslicht, las das Schreiben, las es ein zweites, las es ein drittes Mal. Dann holte sie ihr großes Taschentuch aus der Schublade und trocknete sich die Stirn.
Sie wunderte sich, daß draußen die Sonne schien – bei jedem Menschen, der an der offenen Ladentür vorbeiging, schrak sie zusammen, sie haßte den Kommis, der sich, als wäre nichts geschehn, im Laden zu schaffen machte. Sie hätte geschworen, daß keiner der Ausdrücke, wie sie, als von ihr stammend, in dem Schreiben vermerkt standen, je über ihre Lippen gekommen sei, nicht einmal ihren bösartigen Kunden mochte sie derartige Verleumdungen zutrauen (geschrieben klangen sie tatsächlich ganz anders), nie war ihr die Familie des Bürgermeisters so ehrwürdig, um nicht zu sagen: heilig erschienen. Sie schickte den Kommis in den Keller, rief ihren Gatten, und als das unscheinbare Männchen zu ihr in den Glasverschlag trat, fiel sie ihm um den Hals und rief, er habe eine Verbrecherin zur Frau – aber das komme davon, wenn der Mann kein richtiger Mann sei und immer nur die Schnäpse probiere und die Frau Tag und Nacht sich selbst überlasse. Woher solle eine Frau zum Beispiel die Gesetze kennen?
Nein, sagte der Mann, das komme davon, daß sie unter der Schürze ein Seidenes anhabe und die Kunden mit dem Vornehmrascheln demütige.
Da sehe man es wieder, versetzte sie, wenn es gelte, sich das Unglück einer Frau zunutze zu machen, sei er vornedran, sonst jedoch, ohne zu wanken, hinter den Likörflaschen.
Der Gatte wußte aus Erfahrung, daß sein Mut nicht länger dauern werde als ihre Tränen, deshalb schwieg er und griff nach dem Schreiben, das sie ihm hinhielt. Er hatte noch nicht die Hälfte gelesen, da legte er es vorsichtig auf das Pult, sagte: »Ich weiß von nichts«, und ging ins Hinterstübchen, dessen Tür er lautlos hinter sich schloß. Sie lief ihm nach, öffnete einen Spalt und sagte: »Wenn du ein richtiger Mann wärst –«
»Wenn ich ein richtiger Mann wäre«, unterbrach er sie ruhig, »würde ich dich windelweich hauen.« Er drückte die Türe zu und drehte den Schlüssel, worauf Marraine ihre Versuche, zu ihrem natürlichen Tröster zu gelangen, nicht fortsetzte, sondern nur ausrief: »Nicht von der Chartreuse! Bitte, nicht von der teuern Chartreuse!«
Die Kunden, in den nächsten Stunden von dem drohenden Unheil in Kenntnis gesetzt, verloren den Glauben und rieten zur Unterwerfung. Marraines Behauptung, dies und jenes aus dem Schreiben habe sie jedenfalls nicht so geäußert, stieß auf ungläubiges Lächeln, und als sie darauf bestand, meldeten sich Zeugen, die sich anheischig machten, die wortgetreue Wiedergabe der Lästerung zu beeiden. Am bestimmtesten in dieser Richtung äußerten sich solche, die am höchsten in der Kreide standen – zuerst war sie verblüfft, dann lächelte auch sie, lächelte wie jemand, der dem Undank und der Bosheit der Welt bis auf den Grund geblickt hat. »Es ist gut«, sagte sie, »es ist gut, Hebe Leute. Ich will alles auf mich nehmen.«
Grand'maman, zu der sie nach Ladenschluß kam, meinte freudig bekümmert: »Dein armer Mann! Er wird dir den ganzen Laden austrinken!«
Im übrigen baute sie auf die stadtbekannte Herzensgüte der Frau Bürgermeister, und obwohl es schon Abend war, ließ sie unverzüglich anspannen und brachte Marraine im Coupé zum Bürgermeisteramt. »Sollte die Dame gar zu stolz sein«, sprach sie, »dann denke daran, daß ihr Großvater noch im Württembergischen zu Hause war.« Gleich darauf schärfte sie ihr ein, zu der Dame wie zum eigenen Beichtvater zu sprechen und einfach, »es kann dir für einmal nicht schaden, ganz einfach die Wahrheit zu sagen«, und übergab sie dem herbeigeeilten Pförtner. Sie selbst setzte sich auf den Rücksitz des Wagens, ließ die eine Laterne umdrehn und verrichtete in deren Licht ihre Abendgebete.
Marraine war bald wieder da, sie hatte die Frau Bürgermeister beim Abendessen gestört. »Sie kam in den Salon und saß in ihrem Sessel wie deine Kaiserin Eugénie in der Pariser Oper«, berichtete sie, und sie beglückwünschte sich, daß sie der Dame ›in die Suppenschüssel gefallen‹ sei, was nicht wenig zur schnellen Abwicklung der Sache beigetragen habe. Grand'maman, die fand, daß die Sünderin viel zu billig weggekommen sei, suchte nach Gründen für das Versagen der Gerechtigkeit,
»Du hast geflennt«, behauptete sie.
»Nein, ich habe an den Großvater im Württembergischen gedacht«, kicherte das törichte Weib.
Da wußte Grand'maman, daß sie log, und war zufrieden, und als die andre das Versprechen der Frau Bürgermeister erwähnte, sie in Zukunft bei ihren Einkäufen wieder zu berücksichtigen, schlug sie die Hände zusammen:
»Du lieber Himmel, die arme Frau! Da werden die Leute meinen, es sei doch etwas an deinem Gerede gewesen! Du hättest ihr davon abraten sollen, du selbst, meine Liebe – falls noch ein Funke von Anstand in dir wäre!«
Eine Weile staunte Marraine mit offenem Mund, dann sagte sie: »Eine Frau wie die gehört heiliggesprochen, jawohl – heiliggesprochen!«
Frau Bürgermeister Klein hielt ihr Versprechen nicht, wahrscheinlich, weil ihr Gatte, ein politischer Mensch wie Grand'maman, deren Bedenken teilte. Auch wurde ihre Heiligsprechung von Marraine nicht weiter betrieben.
Ist es da ein Wunder, wenn Marraine dem Verlangen Grand'mamans, Frau Klein nach Evas Verbleib am Tag der Schlacht bei den Pyramiden auszuhorchen, so hartnäckigen Widerstand entgegensetzte!
»Du demütigst mich wie einen treuen Hund«, klagte sie.
»Ich bezweifle, daß Hunde treu sind«, versetzte die Alte.
»Wenn sie mich sieht«, jammerte Marraine, »glaubt sie, ich wolle sie an ihr Versprechen erinnern. Dürfen andre Leute als Sie, Grand'maman, keine Ehre haben?«
»Es fragt sich, was für Leute. Und deine Geschichte, die ist so alt wie die Fischkonserve, die du Frau Klein andrehn wolltest. Sie stinkt schon, meine Liebe. Laß mich gefälligst damit in Ruhe!« Und nun wurde die Alte gefährlich. Sie schüttelte mit dem Kopf, und ihre Stimme schepperte.
»Hier wird keiner gezwungen. Aber ich lasse mir auch niemand über den Kopf wachsen. Du hast die Wahl. Wir sperren deinen Laden für die Familie Schmittlin und Walter, oder du gehst.«
»Dann geben Sie mir wenigstens Ihren Wagen.«
»Es ist nicht mein Wagen, er gehört: dem Geschäft. Und rege mich bitte nicht weiter auf. Denk an mein Herz!«
»Ich gehe nur im Wagen«, beharrte Marraine und begann zu weinen.
»Du gehst zu Fuß!«
»Im Wagen!« schluchzte die andre.
»Zu Fuß! Und sofort!«
Der Kopf, weiß mit einem Goldton wie altes Elfenbein, stand still, die hellblauen Augen, stella matutina, der Morgenstern, schwammen im Licht des frühen Morgens, das klarer ist als alle irdischen Quellen und gleichsam die Seele von allem Licht. Sie lächelte wie ein Gletscher.
»Im Jenseits«, stammelte Marraine, die der Tür zueilte, »im Jenseits ... Sie werden es büßen!«
Marraine machte ihren ›Henkersgang‹ umsonst. Frau Klein erklärte ihr, sie wisse, wo ihre Tochter Eva sich an dem fraglichen Sonntagnachmittag aufgehalten habe.
Marraine kicherte schadenfroh: »Ich auch!«
»Na also«, meinte die Dame.
Marraine jubelte: »Und was die Kinder da getrieben haben, geht mich nichts an.«
Die Dame beugte sich vertraulich vor: »Ich weiß es«, flüsterte sie und hielt mit drolliger Anmut den Finger vor den Mund. »Sie haben die Schlacht bei den Pyramiden aufgeführt. Aber, nicht wahr? Es soll unter uns bleiben. Sie verraten uns nicht!«
Marraine wäre ihr beinahe um den Hals gefallen. Ihre armen, vom lebenslänglichen Ladenstehn abgenutzten Füße trugen sie beschwingt zum Schiffleutstaden, wo sie das Scheitern der Unternehmung verkündete wie einen Sieg.
Das Bewußtsein, mit der ersten Dame der Stadt ein Geheimnis zu teilen, das sie der Beherrscherin der Familie vorenthielt, schenkte ihr bisher unbekannte Wonnen. Sie stand auf einem Gipfel und genoß die Aussicht.
»Vielleicht, Grand'maman«, sagte sie heuchlerisch, »vielleicht wenn Sie es selbst bei der Dame versuchen wollten –?« Grand'maman witterte Verrat und wurde böse.
»Ich bin nicht deine Grand'maman! Ihr seid der Schandfleck der Familie. Deine richtige Grand'maman, meine Liebe, verkaufte keine Heringe, sondern getrüffelte Fasanen. Deshalb hatte sie es auch nicht nötig, ein Seidenes unter der Ladenschürze zu tragen. Und jetzt mach, daß du fortkommst!«
Nachdem sich Marraine mit überschwenglicher Freundlichkeit, die verschiedenen Nachstößen zwischen Tür und Angel unverändert standhielt, verabschiedet hatte, griff Grand'maman nach einer Spieluhr und setzte sie in Gang. Sie zirpte leise, beinah zärtlich die Marseillaise.
Die Dose gehörte Grand'maman und befand sich gewöhnlich in der Vitrine ihres Zimmers. Gudulas Nichte und Helferin Amanda hatte sie im Speicher gefunden, auf einer halbzertrümmerten Kiste, die teils Flaschen, teils Scherben von Flaschen enthielt. Niemand konnte sagen, wie die Dose dort hingekommen sei, niemand auch, was die von den Dachbalken herabhängenden Gardinen, zwei Säbel und ein Gewehr und andre Merkwürdigkeiten mehr bedeuteten, von denen Amanda unter Aufsicht Gudulas berichtet hatte ... Niemand konnte es sagen? Grand'maman zweifelte nicht im geringsten, daß die von ihr angerufenen Erwachsenen genauso Bescheid wußten wie sie selbst. Die Kinder hatten Theater gespielt, auf gemeine und schauerliche Weise, es war Blut geflossen, die Mennigfarbe am Säbel und an der Serviette bewies es, und dazu hatten sie auch Musik gemacht.
Trotzdem leugneten alle – die Eltern an der Spitze. Die Dummköpfe weigerten sich, Strafen zu verhängen, bevor die Schuld erwiesen sei. Demgegenüber vertrat Grand'maman die strafrechtliche Auffassung, in Fällen wie diesem käme die Schuld immer erst durch die Strafe ans Licht, die deshalb unverzüglich verhängt und nötigenfalls bis zum erfolgten Geständnis verschärft werden müsse.
»Denn, nicht wahr? Hand aufs Herz! Ihr zweifelt doch nicht?«
»Doch«, behaupteten störrisch die Alten, »wir zweifeln.«
»Mir scheint, ihr werdet vor den Jahren kindisch«, sagte die Großmutter und zuckte die Achseln.
Die Kinder merkten, daß die Eltern heimlich zu ihnen hielten, und fest wie eine Mauer mit soviel Schießscharten wie Augen und Münder, verfolgten sie, finster belustigt, die Bemühungen um sie und begutachteten sachverständig die Manövrierkunst der Alten.
Grand'maman wurde eingekreist wie Napoleon bei Sedan. Edouard erfrechte sich sogar, in einer Anwandlung guter Laune anzudeuten, die Theaterrequisiten könnten womöglich aus seiner eigenen Kindheit stammen.
»Armer Junge«, wehrte sie ab. »Du hast nie Theater gespielt.« Das überlegene Lächeln erstarb ihm auf den Lippen.
Als sie sich, nach Marraines Besuch bei Frau Klein, schon beträchtlich erschöpft, darauf zurückzog, was ihre Augen unzweifelhaft gesehen hatten, nämlich die den Staden hinuntergaloppierende Kinderschar und die langsam folgende, verweinte Eva, mußte sie sich von Dr. Walter sagen lassen, dafür gebe es eine Erklärung: sie sei einfach das Opfer einer Sinnestäuschung geworden – was in ihrem Alter weder zu Verwunderung noch zu Besorgnis Anlaß gebe, er, der Doktor, wünsche sich in ihrem Alter nichts Besseres als ihre Robustheit. »Trotz des schwachen Herzens«, fügte er ernst hinzu. Sie blickte rasch zu ihm auf. Er blieb ernst.
»Ihr seid ärger als Kinder«, zürnte sie. »Die wissen nur halb, was sie tun, ihr aber seid ausgewachsene Teufel. Robustheit! Robustheit! Ich laß mir nichts vormachen. Deine Frau, lieber Edouard, die ist robust – robust wie ein unscheinbarer Luftzug, von dem man die Lungenentzündung bekommt ... So führen sich Eltern auf! Das ist das Ende aller Gesittung, das Ende der Welt – allgemeine Verwilderung und Barbarei. Ich lasse mir niemand über den Kopf wachsen. Macht gefälligst, daß ihr fortkommt! Ein Menschenauge kann euern Anblick nicht ertragen. Ihr seid schlimmer als Tiere. Die Tiere leiten ihre Jungen zu einem Leben an, wie der Schöpfer es für sie bestimmt hat. Ihr aber verderbt sie mit der Gerissenheit von Teufeln. Und übrigens steckt hinter allem Marie-Louise. Und die war schon immer ein Kindskopf. Deshalb wird sie auch von allem, was Kind ist, angebetet. Von andern weniger.«
»Danke«, murmelte Edouard.
»Danke«, sagte Marie-Louise.