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Wie lange mochte es her sein, daß Robert unschuldig der Lüge geziehen worden war? Vielleicht Monate, vielleicht Jahre. Jedenfalls war ihm bis zu diesem Zeitpunkt die Lüge fremd geblieben.
Aber die Lüge, die Lüge als solche, die Lüge als seltsames Phänomen begann nun Robert anzuziehn. Sie eröffnete ihm ungeahnte Möglichkeiten. Er versuchte es, erst im kleinen – sie schmeckte wie Bonbons, die giftig aussehn und doch ehrlich süß sind. Aber der Auftritt mit Grand'maman hatte seinen Geschmack verdorben. Es verlangte ihn nicht nach Süßem, sondern nach Bitterem, das einen tiefen, tiefen Beigeschmack von Süße hat. Schöner als zu lügen war es, unschuldig der Lüge geziehen zu werden, und so suchte er nach Gelegenheiten, das Leiden, das ihm bei jenem Tischgespräch und erst recht im Nachgenuß so tief ins Fleisch geschnitten hatte, zu erneuern und womöglich zu vermehren. Dabei erfüllte ihn ein düsterer Glanz, eine Überlegenheit über ›jene, die nicht wissen‹, ein Hochmut, den er um so stärker empfand, als er ihn tief in sich versteckte, und dessen Kraft sich bis zum Rausche steigern konnte.
Sofern die Anlässe sich nicht von selbst einstellten, schuf er sie, indem er sich dieses und jenes Vergehens bezichtigte und die Strafe mit verhaltener Leidenschaft über sich ergehn ließ.
Das Glücksgefühl rührte nicht zuletzt daher, daß er sich im Verlauf des Strafgerichts am eigenen Feuer erhitzte und zu seiner Verwunderung eine bedeutende Erfindungsgabe entwickelte. Das Vergehn, dessen er sich meist aufs Geratewohl anklagte, pflegte nämlich erst durch das Spiel von Frage und Antwort Gestalt zu gewinnen, es mußte gewissermaßen im Stegreif zu einer richtigen Geschichte ausgebaut werden – ein viel kühneres Beginnen, als es das ernsthafteste Verbrechen gewesen wäre, etwa daß man auf dem Brückengeländer lief oder den ›kleinen Walter‹ im Halbdunkel des Torweges ansprach oder im hintersten Winkel des Nachttisches eine Lisa geraubte Haarschleife aufbewahrte.
Marie-Louise hatte ihren Sohn längst durchschaut. Sie ließ ihn aber nicht nur gewähren, sie unterstützte ihn im stillen und bewahrte ihn vor empfindlichen Strafen, obwohl sich Robert durch körperliche Züchtigung gewiß nicht von seinem Dulderweg hätte abbringen lassen. Eher läßt sich das Gegenteil vermuten. Bei mancher besonders dramatischen Steigerung hätte sie den natürlichen Höhepunkt gebildet, und es kam vor, daß Robert sie aufrichtig vermißte.
Marie-Louise bereitete es eine Genugtuung, zu sehn, wie die Weisheit der Gewalthaber Prüfungen unterzogen wurde, die notwendigerweise zu ihren Ungunsten verliefen. Denn in den sehr seltenen Fällen, in denen der Schwindel herauskam, zum Beispiel, als der Junge den Verlust einer vom Zimmermädchen zerschlagenen, kostbaren Vase auf sich nahm, lag der Lüge (wer wollte es leugnen?) ein edler Trieb zugrunde, und wenn sich einer schämen mußte, so war es die Großmutter, deren hochnotpeinliche Untersuchung ein klägliches Ende nahm. Freilich tat sie niemand den Gefallen. Statt vor so viel Nächstenliebe zu erschauern, kam sie auf die zwar irrtümliche, aber gar nicht dumme Vermutung, Robert mische angebliche und tatsächliche Vergehn absichtlich durcheinander, um diese hinter jenen verschwinden zu lassen. Und sie behauptete, hierbei habe man es mit einem geläufigen Kniff Satans zu tun, und die Weltgeschichte sei voll von seinen Listen.
Vater Schmittlin, von Marie-Louise zwar nicht geradezu aufgeklärt, aber doch in halbes Licht gesetzt, beteiligte sich nicht mehr an den Sitzungen der Inquisition, seitdem er einmal Zweifel an der Wirksamkeit von Grand'mamans Untersuchungsmethoden geäußert hatte und sie ihm mit der Bemerkung über den Mund gefahren war: von einem der beiden Eltern müsse der unglückselige Junge es doch wohl haben, und damit stehe Edouards Voreingenommenheit außer Frage.
Wie es dem Wachstum seiner Einbildungskraft entsprach, genoß Robert die Wonnen des zu Unrecht Verfolgten allmählich mit soviel Ungestüm, daß Grand'maman alle andern Unvollkommenheiten der Welt einschließlich des ›kleinen Walter‹ vergaß und ihre ganze Kraft in die Bekämpfung der über ihre Familie hereingebrochenen ›Pest‹ setzte. Sie verordnete die gleichen Maßnahmen, mit der man die Geißel der Menschheit in den Welthäfen niederzuhalten sucht.
Um das Haus wurde ein ›sanitärer Kordon‹ gezogen und über Roberts Kameraden eine ›Quarantäne‹ verhängt. Ja, Grand'maman nannte die Dinge beim Namen, und sie unterließ es auch nicht, in ihre gegenwärtigen Besorgnisse erschreckende Einzelheiten aus früheren Pestzeiten einzuflechten.
Die Wache nach der Straße zu versah Grand'maman, Hof und Treppe unterstanden der Aufsicht der Köchin Gudula, einer älteren Person, deren Gestalt, lang und hager, wie sie war, mit der Axt aus Hartholz herausgehauen schien. Einmal war die Axt ausgeglitten. Gudula fehlte ein Ohr. Statt des fehlenden Ohres hatte sie ein rotes Loch im Kopf, das Robert noch immer mit einer Mischung von Grauen und Neugier betrachtete. Das schmutzig-weiße Haar war zurückgekämmt, um das Loch frei zu lassen. Auf dem richtigen Ohr war Gudula taub, weshalb es auch als überflüssig unter den Haaren versteckt blieb. Den Kundschafterdienst bei Beginn und Ende der Schule besorgte Gudulas Nichte, die mit ihr zusammen den Schmittlinschen Haushalt versah. Amanda war selbst noch ein halbes Kind, sechzehn oder siebzehn Jahre alt, überaus häßlich und dementsprechend voller Eifer als Spion. Sie galt, wie ihre Tante gern behauptete, bei den Männern für eingebildet – »eingebildet wie eine Heilige«, sagte Gudula. Die Tante schrieb es dem Namen zu. Ihr selbst war es in ihrer Jugend nicht anders ergangen. Sie stammten aus einer stolzen Familie, die zur Zeit des großen Napoleon bessere Tage gekannt hatte.
Ein Großonkel war nach der Schlacht an der Moskwa vom Kaiser zum Oberst befördert und eigenhändig mit dem Kreuz der Ehrenlegion ausgezeichnet worden. Das Kreuz mit dem roten Band hing eingerahmt in Gudulas Mansarde am Fußende des Bettes. Am Kopfende hing ein Kruzifix aus Elfenbein zwischen zwei Kürassiersäbeln. Mehr war vom Glanz der Familie nicht geblieben. Ohne das Dazwischentreten Gudulas hätte Amanda den Verlust der kostbaren Vase auf Robert sitzen lassen. Warum auch nicht, da er es offenbar so haben wollte! Warum aber wollte er es so haben? Darüber hatte Amanda, nachdem ihr von Grand'maman zwei Monatslöhne abgezogen worden waren, nachgedacht und ihren viel zu kleinen Kopf nicht wenig angestrengt. Sie war zu dem Schluß gekommen, daß der Junge sündhaft in sie verliebt sei, und nachts stand sie vor dem Spiegel, die Kerze in der Hand, und schwur sich in ihr armes häßliches Gesicht, die Neigung zu erwidern. Als sie den Auftrag der Großmutter begriffen hatte, konnte sie vor lauter Freude nur durch blödes Grinsen ihr Einverständnis erklären. Dann lief sie in ihre Kammer, warf sich aufs Bett und schrie vor Seligkeit.
»Ich bin heimlich verlobt«, sagte sie am Abend zu Gudula, nachdem die Küche aufgeräumt war und sie einander wie gewohnt am gescheuerten Tisch gegenübersaßen. Gudula blickte von ihrem Gebetbuch auf und fragte: »Mit wem, du armes Kind?«
»Du wirst es nie erfahren«, antwortete Amanda, bückte sich und biß in die Tischkante.
Zu Roberts Glück grenzte Amandas angeborene Lügenhaftigkeit an Geisterseherei. Es war ihm untersagt, außerhalb der Schule mit Kameraden zu sprechen, ein sinnloses Verbot, das er auf das gewissenhafteste einhielt. Für Grand'maman hatte es immerhin den Vorzug, daß seine Befolgung im Gegensatz zu dem, was in der Schule geschah, festgestellt werden konnte, weshalb sie es auch trotz kritischen Gelächters in der Familie ›als Prüfstein für den Gehorsam‹ aufrechterhielt.
Gerade auf dem Schulweg begann nun Robert auf einmal mit Abenteuern gesegnet zu werden, die er weder bestanden noch erfunden hatte und die ihn, so oft sie ihm vorgehalten wurden, jedesmal wieder ehrlich verblüfften – bevor er sie sich unter den Beschwörungen Grand'mamans, sein Gewissen durch ein freimütiges Geständnis zu erleichtern, mit Hingebung zu eigen machte. Da gingen Kameraden an ihm vorbei und ließen einen Zettel fallen, den er schnell aufhob, die Bedürfnisanstalt an der Wilhelmerbrücke sah trotzige Versammlungen unter ihrem Wellblechdach, er warf Mädchen, die auf der Elektrischen vorbeifuhren, Kußhände zu, die sie schamlos erwiderten, und einmal sandte Lisa ihm mit Hilfe einer Gummischleuder über die Ill hinweg eine Botschaft vor die freudig stolpernden Füße. Robert fragte sich nur, wo die Großmutter die Geschichten alle hernahm, und wußte nicht, wen er mehr bewundern sollte, den Erfinder der Abenteuer oder sich selbst, der die gelieferte Skizze prächtig auszuführen verstand. Es war Lisa, die den lügenhaften Spion entdeckte, und sie ließ Robert durch ihren Bruder Ferdinand benachrichtigen.
Beileibe nicht, um das Scheusal zu widerlegen, lediglich zur Erhöhung der Spannung ließ sich Robert von jetzt an in einigem Abstand von Schulkameraden begleiten. Sie waren eingeweiht und hielten Augen und Ohren offen. Lisa, von ihrem Zufallstreffer entzückt, bezog am Nachmittag, der für die Mädchen schulfrei war, Punkt vier Uhr den Schußplatz am hochgelegenen Fenster und paßte auf, und als die Dinge sich infolge von Amandas Verschlagenheit zuspitzten, zog sie als vereidigte Zeugin für den erwarteten Blattschuß ihre Mutter bei. So wandelte Robert, ein kleiner Heiliger, von höchster Stelle begutachtet, in einer Prozession über die Wilhelmerbrücke und den Schiffleutstaden und blickte weder rechts noch links, sondern geradeaus nach dem Erker.
Die Großmutter stellte fest, daß eine große Anzahl von Roberts Klassenkameraden seit kurzem den Heimweg über den Staden einschlug, griff auch den einen und andern, den sie kannte, heraus und wies nach, daß der Bursche sich einen Umweg anmaße, und legte das Unterfangen als freche Herausforderung aus. Eingreifen konnte sie aber erst, als die Verhöhnung ihrer erzieherischen Absichten klar zutage trat. Das häßliche Mädchen wurde beim Verlassen eines Ladens, in dem sie vorsorglich etwas eingekauft hatte, von Lisas Bruder Ferdinand erkannt und von der Bande ein weites Stück bis zu ›dem Brand ein Ende‹ gejagt, wo sie in die Hände ihrer Verfolger fiel. Sie behauptete, die jungen Herren hätten sie mißhandelt, bis die Polizei gekommen sei, und ihr dann aufgetragen, die ›Olle‹ zu grüßen und ihr zu bestellen, sie sei ›rundum gepickt‹.
Dazu wies sie verschiedene blaue Flecken an den Armen vor. Die Großmutter, kopflos vor Entsetzen, schenkte ihr eine halbe Mark und ordnete an, daß Robert heute noch (es war ein Samstag) zur Beichte ginge. Gegen so viel Verworfenheit konnte der liebe Gott allein vielleicht noch etwas ausrichten. Da Marie-Louise, aus dem Schamgefühl der heimlich Mitverschworenen heraus, die Begleitung ablehnte, wurde Gudula zu dem Gang befohlen. Robert muß sich sonntäglich kleiden, die Figur aus Hartholz ebenfalls.
Zur festgesetzten Stunde erschien Gudula in einem wollenen himmelblauen Gewand, kniff den Mund und nahm Robert in Verwahrung. Grand'maman sah sie mit Männerschritten den Staden hinabmarschieren und alle Augenblicke den Kopf nach Robert hinwenden, der mit mürrischem Rücken hinter ihr herging.
Die Beichte verlief nicht, wie der Junge gedacht hatte. Statt sich von dem kleinen, von Selbstzufriedenheit geblähten Heiligen die Sünden der Großmutter aufzählen zu lassen und sich darüber zu entrüsten, ging der Priester mit peinlicher Genauigkeit die Ereignisse durch und deckte die Fallstricke auf, in die Robert seine gute Grand'maman hatte fallen lassen, und bestritt überhaupt die Notwendigkeit für einen Christenmenschen, seine Unschuld durch Lügen zu erhärten. Lüge sei Lüge, wiederholte er, und die bösartige Absicht des Lügners in diesem Falle unverkennbar. Zerknirscht machte sich der Junge hinter der mächtig ausschreitenden Gudula auf den Heimweg.
Zu Hause erwartete Robert eine Katastrophe, die seinem scheinheiligen Lebenswandel auch dann ein Ende gemacht hätte, wenn die Ermahnungen des Priesters etwa in Vergessenheit geraten wären.
Das häßliche Mädchen, das dem Beichtkind und seiner Behüterin nachgeschlichen war, hatte Grand'maman bereits gemeldet: beim Verlassen des Münsters durch das Pförtchen auf der Nordseite habe Robert die Gudula vorausgehn lassen, worauf er die Münstergasse hinuntergelaufen und in die Judengasse eingebogen sei, was er dort getrieben habe, konnte sie nicht sagen, sie wußte nur, daß in der Judengasse sein Schatz wohnte.
»Die Eva?« rief die Großmutter.
»Kann schon sein«, meinte Amanda,
»Aber die wohnt doch in der Brandgasse!«
»Kann schon sein. Aber treffen tun sie sich in der Judengasse.«
»Warum gerade in der Judengasse?« forschte die Großmutter.
»Ja, da gibt's eine Likörstube. Von außen sieht man nichts. Die Vorhänge sind zu.«
»Da kommen sie«, sagte Grand'maman.
Amanda, in deren kleinem Kopf der Gedanke an Gudula bisher keinen Platz gehabt hatte, beeilte sich zu erklären, daß Robert auf dem Stephansplatz wieder zu Gudula gestoßen sei, ohne daß diese von der ganzen Sache etwas gemerkt habe. Dann hüpfte sie beseligt in die Küche, und als die beiden zur Großmutter ins Zimmer getreten waren, schlich sie an die Tür und lauschte.
»Was hast du in der Likörstube gemacht?« herrschte Grand'maman ihren Enkel an.
»Nichts«, sagte Robert.
»Er lügt schon wieder«, stöhnte sie und begann verzweifelt mit dem Kopf zu schütteln.
»Gleich nach der Beichte! Junge! Gleich nach der Beichte! Er treibt Schindluder mit dem lieben Gott, Gudula! Es ist nichts zu machen. Er muß in eine Besserungsanstalt.«
Gudula kniff die Lippen und blickte streng auf Robert hinunter.
Das Schütteln nahm kein Ende.
»Wozu habe ich dich denn mitgeschickt, Gudula«, meckerte die Alte. »Du kannst dir einen andern Platz suchen, du bist gekündigt. Hinaus mit euch!«
Robert stellte sich in seinem Zimmer ans Fenster, schaute zum Münsterturm hinüber und dachte schadenfroh an den Beichtvater und die Fallstricke, in die er, Robert, die arme Grand'maman locke, und daß Lüge Lüge sei und seine bösartige Absicht unverkennbar – und sein Gerechtigkeitsgefühl befahl ihm, von den zwanzig Vaterunsern der Buße die Hälfte zu streichen. Sogar im Beichtstuhl war er seines Lebens nicht sicher!
Im Verlauf des Nachmittags dämmerte der ganz verstörten Gudula, daß etwas an der sonst: wie ein Uhrwerk geregelten Welt mutwillig in Unordnung gebracht worden sei. Während sie nachdachte, hing Amanda mit leuchtenden Augen an ihr und verfolgte jede ihrer Bewegungen.
»Kind, hast du mir nichts zu sagen?« fragte Gudula zwei- oder dreimal.
»Was denn, Tante?« versetzte jedesmal erwartungsvoll strahlend das Mädchen.
Am Abend, die Küche war aufgeräumt und der Tisch gescheuert, schloß sich Gudula mit der Nichte ein und ergriff die Klopfpeitsche, mit der die Teppiche gestäubt wurden. Beim ersten Hieb duckte sich Amanda und biß in die Tischkante. Solange die Hiebe auf sie niedersausten, verharrte sie in dieser Stellung, ohne einen Laut von sich zu geben, und als Gudula den Arm ermattet sinken ließ und sich zu ihrem Gebetbuch setzte, richtete sie sich auf und sah mit verzerrtem Lächeln auf die Tante.
Gudula nickte ihr zu, betete ein Stückchen, und als sie wieder zu Atem gekommen war, legte sie ein Zeichen in das Buch und schloß es. Amanda schlug rasch ihr Gebiß in die Tischkante, und Gudula bearbeitete sie mit der Klopfpeitsche. Darauf kehrte sie wortlos zu ihrem Gebetbuch zurück. Amanda richtete sich auf und blickte sie an. Sie lächelte nicht mehr. Unverhohlener Haß stand in ihren Zügen.
Beim dritten Gang traf Gudula die Nase des Mädchens. Als Amanda Blut sah, ließen ihre starken Zähne den Tisch los, und sie brüllte wie ein Tier. Gudula reichte ihr ein nasses Taschentuch, stellte sich mit der Klopfpeitsche neben sie auf und sagte kurzatmig: »So, mein Kind. Jetzt sprich!«
Und Amanda sprach.
Grand'maman, im weißen Spitzenhemd und Spitzenhaube, saß unbeschäftigt in ihrem Doppelbett und sah Gudula ohne Überraschung eintreten. Sie hatte sie erwartet. Wer läßt sich nach dreißig Dienstjahren einfach auf die Straße setzen! Etwa die Enkelin eines napoleonischen Obersten? Grand'mamans Nase lächelte spitz. Sie hatte sich auf ein schweres Treffen gefaßt gemacht und hielt hinter ihren unbesieglichen Waffen die Friedensbedingungen bereit. Aber der erste Blick belehrte sie, daß es Neuigkeiten gab – sie hob die Nase, die plötzlich ernst und scharf wurde wie ein Messer.
Gudula marschierte stracks auf das Bett los, nahm dicht neben ihm Aufstellung, das rote Loch im Kopf zur Großmutter gewendet, und gab mit lauter, getragener Stimme folgende Erklärung ab: »Es ist alles verlogen, möchte ich nur gesagt haben. Der junge Herr führt uns an der Nase herum. Das kleine Mistvieh ist verschossen in ihn und hilft ihm. Dreihundertfünfundsechzig Teufel lügen aus ihrem stinkenden Mund – das macht einen auf den Tag. Ich hab' sie ihr ausgetrieben, möchte ich nur gesagt haben. Einen nach dem andern. Dreihundertfünfundsechzig Stück ... Jetzt sagt sie die reine Wahrheit. Die ist auch danach. Ich empfehle das gleiche mit dem jungen Herrn zu probieren. Und alles wäre in Ordnung.«
»Setze dich, meine Tochter«, befahl Grand'maman.
Gudulas langer Arm holte einen Stuhl herbei, sie setzte sich schief zum Bett, den Blick in die Ferne gerichtet.
»Ich spüre«, sprach die alte Herrin, »wie die Schwefeldämpfe der Hölle sich hier ausbreiten. Wahrscheinlich hat der Teufel die Hand im Spiel.«
»Die Klopfpeitsche!« rief Gudula.
»Willst du ihn schlagen?« erkundigte sich Grand'maman.
»Ich?« Gudula war entsetzt.
»Na also, die andern tun's auch nicht.«
Nach gründlicher Prüfung der Tatbestände wurde Gudula gnädig entlassen und Edouard und Marie-Louise zur Beratung befohlen. Als die Zehnuhrglocke vom Münster läutete und die Stadt bis in den letzten Winkel mit ihrem traulichen Brummen erfüllte, waren die Verhandlungen im geräumigen Hofzimmer, in dem Grand'maman geboren war und in dem sie, wie sie auch jetzt betonte, ›in Frieden zu sterben wünschte‹, so weit fortgeschritten, daß die Beteiligten sich schweigend ihrer Müdigkeit hingeben durften. Minutenlang schnitten sie mit großem Ernst die komischsten Grimassen, um ihr Gähnen zu verbergen. Schließlich gurgelte Grand'maman freimütig einen kleinen Triller und sagte, indem sie sich zum Schlafen zurechtrückte:
»Löscht Feuer und Licht, meine Lieben ... Ein furchtbarer Tag liegt hinter uns, Robby kommt also ins Konvikt. Ihr habt gebeten, daß wir vorher die engere Familie befragen. Soll geschehen. Aber ihr wißt ja selbst keinen besseren Rat. Sagt, bitte, wohin soll das führen? Wir werden alle miteinander nicht mit ihm fertig. Er glaubt, er kann uns allen auf der Nase herumtanzen. Er irrt sich nicht. Oh! er ist klug wie die Schlangen, aber nur scheinbar so sanft wie die Tauben, oder es sind Waltersche Tauben. Hilft nichts! Er muß fremde Zucht spüren, der gute Junge. Ich werde ihn selbst am meisten vermissen ... Vielleicht, wer weiß, wird er noch fromm ... Er hat es bloß verkehrt angefangen. Der Wille zur Heiligkeit ist da ... Wenigstens behauptet es deine Frau. Was meinst du, Edouard?« Edouard meinte noch immer nichts. Er zuckte mißmutig die Achseln. Wie stets, wenn die Alte Gerichtstag hielt, fühlte er sich als Vater gedemütigt und als Mann bloßgestellt vor seiner Frau. »Na ja –« meinte Grand'maman abschließend, »schlaft gut!«
Diese Nacht und den folgenden Tag blieb das häßliche Mädchen verschollen. »Sie schämt sich, die Gute«, verkündete Gudula stolz. Amanda hielt sich im Speicher versteckt, wo sie, auf einem Lager aus alten Zementsäcken schlafend, von der Tante aufgestöbert wurde.
»Sie tut Buße«, meldete diese im Erkerzimmer. »Sie hat auf härenen Säcken geschlafen wie der Einsiedler im Wald.«
»Aber, aber«, meinte Grand'maman. »Da wohnt doch der Zimmermann, der seine Frau verloren hat.«
»Grand'maman!« rief Marie-Louise entrüstet. »Amanda! Ich meine ... so, wie die Arme aussieht ...«
Grand'maman sah Marie-Louise scharf an: »Du kennst die Welt noch lange nicht, meine Tochter! ...« Der scharfe Blick Grand'mamans hatte zur Folge, daß Marie-Louise sich in der nächsten Minute für ebenso häßlich und dennoch begehrenswert hielt (wenn auch nur für einen Edouard Schmittlin) wie die auf härenen Säcken schlafende Amanda, und aus Furcht, die ohnehin zu kurz gekommenen Lippen zu kauen, öffnete sie den Mund.
Dann richtete sie ihre Gedanken auf den bevorstehenden Familienrat, und die verscheuchte Heiterkeit kehrte leise zurück.
Um halb neun Uhr waren die Stühle und Sessel in der Erkerstube besetzt. Grand'maman thronte auf ihrem erhöhten Platz. Als sie Edouard das Wort zur Darlegung des Sachverhalts erteilen wollte, zeigte es sich, daß die Familienmitglieder ausnahmslos im Bilde waren.
»Aha«, sagte Grand'maman strahlend. »Ich habe es mir gedacht.« Marraine, die halb in ihrem Rücken saß, kicherte.
Sie hatte ihr unansehnliches Männlein mitgebracht. Er saß in der hintersten Ecke beim Flügel, und hie und da verschwand sein Kopf hinter der schwarzen Brüstung. Marie-Louise hatte für ihn Kognak im Notenständer untergebracht, dem er, um keine Zeit zu verlieren, eifrig zusprach. Ein besseres Versteck konnte es nicht geben, weder für den Kolonialwarenhändler noch für den Kognak, und sicher wäre er unbeachtet geblieben, wenn er nicht dem Kichern seiner Frau durch lautes Prusten gleichsam einen Kometenschweif angehängt hätte. So aber ereilte ihn sofort die Strafe, indem Grand'maman anordnete, daß er seinen Platz mit seiner Frau zu tauschen habe.
»Wir brauchen hier Männer, keine kichernden Ziegen«, sagte sie ruhig. »Die Kognakflasche überläßt du gefälligst den Herren Mozart und Beethoven.«
Marraine war gehorsam aufgesprungen und ging seideraschelnd ihrem Partner entgegen. In der Mitte des Zimmers blieb sie stehn, denn hier wurde ihr klar, daß sich ihr Männlein der Ausführung des Befehls widersetzte. Er war hinter dem Flügel verschwunden, man sah nichts mehr von ihm.
Eine Welle heißer Liebe stieg in ihr auf, sie ließ den Blick beinah hochmütig über die Versammlung schweifen.
Das gleiche tat Grand'maman. Ihre Seelenstärke erlaubte ihr, sich an der stummen Billigung zu laben, die das zu seinem Kognak hinabgetauchte Familienmitglied von den Versammelten erfuhr.
»Na gut«, sagte sie. »Wir können nicht gut die Feuerwehr rufen, um ihn dort wegschleppen zu lassen«, und mit einer höflichen Gebärde forderte sie Marraine auf, zu ihrem Stuhl zurückzukehren.
Da tauchte auch der Kolonialwarenhändler wieder auf. Er machte ein ernstes, aufmerksames Gesicht und schien von dem Vorgang nichts bemerkt zu haben. Als ihn das Familiengelächter begrüßte, lächelte er verlegen und nahm, mit einem Blick auf Grand'maman, gleich wieder eine untertänige Miene an.
»Armer Kerl«, murmelte Grand'maman. »Er ist der Beste von euch allen.«
Sie bat um Ruhe, und von der Voraussetzung ausgehend, daß es sich bei ihrem bedauernswerten Enkel womöglich um ›einen ausgesprochen medizinischen Fall‹ handle (ihr Blick streifte Marie-Louise), bat sie als ersten den Doktor Walter um seine Meinung.
Die Meinung des Doktors war ebenso kurz wie bestimmt. Mit der Medizin hatte die Geschichte nichts zu tun, wenigstens nicht, soweit sie den Jungen betraf – um so mehr aber mit dem Anstand und den guten Sitten. Wenn Eltern, die in der Stadt wohnten, zudem noch in nächster Nähe der Anstalt, ihren Sohn im Internat unterbrachten, so hatte das, mit einem Wort, als ein Skandal und eine Schande zu gelten, als eine Ohrfeige, die eine Familie sich selbst vor aller Welt versetzte. Damit erklärte sie ihre Unfähigkeit, ihr Kind selbst zu erziehen, und also ihren Bankrott. (Hier nickte Grand'maman.) So etwas war noch nie dagewesen, solange die Schule bestand – und Gott weiß, wie lange sie schon bestand! Geradesogut konnten Eltern ihr Kind ins Gefängnis stecken. Eine Familie, die sich so tief erniedrigte, zerstörte ihren Ruf und gab ihre Ehre den niedrigsten Verleumdungen preis.
»Tu mir den einzigen Gefallen«, sagte Grand'maman, »und reiß nicht an deinem Mephistophelesbart. Ich weiß, er ist nicht angeklebt. Er ist natürlich, echt und recht gewachsen.«
»Ja, und dann«, brach Hedwig Walter aus, »die Hauptsache ... Als Schwägerin Marie-Louises muß ich daran erinnern, daß alle Welt auf sie, Marie-Louise, zeigen würde, auf die Mutter, die aus gewissen Gründen nicht in der Lage sei, für die Erziehung ihres Sohnes zu sorgen ... Ich nehme an, Grand'maman, Sie haben nicht an diese Seite der Angelegenheit gedacht.«
»Ich habe daran gedacht«, sagte Grand'maman.
»Dann«, rief Hedwig Walter, »in diesem Fall«, ihr ganzer mächtiger Leib geriet in Bewegung, »und da ihr eigener Mann es nicht sagt, muß ich es sagen: in diesem Fall ist das, was Sie da tun, Grand'maman, eine – eine –«
»Ich sage es«, unterbrach Edouard sie mit leiser, aber fester Stimme. »Es ist der Gipfel der Grausamkeit.«
Grand'maman schüttelte nicht einmal mit dem Kopf. Sie lächelte, ohne zuvor geschüttelt zu haben, und zwar ausgesprochen freundlich.
»Und ich dulde es nicht«, fügte Edouard hinzu.
»Das habe ich erwartet«, sagte Grand'maman.
Die unheimliche Ruhe von Mutter und Sohn Schmittlin wirkte lähmend auf die Gesellschaft. Es folgte eine Pause, die zu beenden niemand fähig oder gewillt schien. In das Schweigen hinein sagte der Kolonialwarenhändler mit gutmütig schleppender Stimme: »Aber sie droht ja nur damit ... Glaubt doch nicht, daß sie Ernst macht ...«
Und dann war es wiederum still und lastend wie zuvor.
Als nichts von dem Gewaltsamen geschah, das alle gleichsam in der Luft spürten, als der Ausbruch, den sie wünschten und fürchteten, ausblieb, sagte Grand'maman höflich: »Ich denke, Marie-Louise macht noch ein wenig Musik, und dann gehn wir schlafen. Bitte, meine Tochter!«
Marie-Louise spielte den Trauermarsch von Beethoven. Als sie fertig war, nahm sie nach kurzem Besinnen das Gläschen Kognak an, das ihr Nachbar ihr artig reichte, und trank es auf einen Zug, und das gleiche tat sie nach dem Trauermarsch aus der Götterdämmerung. Jedesmal glaubte sie zu erstarren und gleich darauf in Flammen aufzugehn. Sie hörte nur von fern, was sie spielte. Die Befürchtung Edouards, sie werde auch den folgenden Trauermarsch von Chopin mit einem Gläschen beschließen, erfüllte sich nicht. Sie stand auf – und sprach: »Bedaure. Mehr Trauermärsche kann ich nicht.«
Tonfall und Gebärde wirkten so drollig, daß die von widerspruchsvollen Gefühlen aufgewühlten Zuhörer gleichzeitig loslachten, Grand'maman lächelte, ausgesprochen freundlich.
»Lacht nur, Kinder«, meinte sie. »Wer zuletzt lacht, lacht am besten.« Und ohne Übergang im gleichen Ton: »Ich wußte gar nicht, daß unsre Marie-Louise auch im Trinken eine Künstlerin ist.« Sie machte eine Bewegung, als ob sie ein Gläschen kippte. »Alle Achtung!«
Sie strahlte. »Da habt ihr's. Wenn wir es weiter so laufen lassen, kommen wir alle an den Suff.«
Marie-Louise verfiel in krampfhaftes Gelächter, und Edouard führte sie schnell aus dem Zimmer.
Zum Abschied defilierte die Familie vor der Großmutter. Jedes Mitglied wurde durch ein freundliches Wort ausgezeichnet. Dabei kamen der Doktor und Marraines unscheinbares Männlein besonders gut weg. Dem Doktor versicherte sie, was er gesagt habe, das stände unauslöschlich hinter ihren Ohren geschrieben, und der Kolonialwarenhändler erhielt das Versprechen, daß sie ihm die andre Hälfte der Flasche fürs nächstemal aufbewahren werde.