Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
(1) Man nennt viele Künstler, die eigentlich Kunstwerke der Natur sind.
(2) Jedes Volk will auf der Schaubühne nur den mittlern Durchschnitt seiner eignen Oberfläche schauen; man müßte ihm denn Helden, Musik oder Narren zum besten geben.
(3) Wenn Diderot im »Jakob« etwas recht Genialisches gemacht hat, so kömmt er gewöhnlich gleich selbst hinterher und erzählt seine Freude dran, daß es so genialisch geworden ist.
(4) Es gibt so viel Poesie, und doch ist nichts seltner als ein Poem! Das macht die Menge von poetischen Skizzen, Studien, Fragmenten, Tendenzen, Ruinen und Materialien.
(5) Manches kritische Journal hat den Fehler, welcher Mozarts Musik so häufig vorgeworfen wird: einen zuweilen unmäßigen Gebrauch der Blasinstrumente.
(6) Man tadelt die metrische Sorglosigkeit der Goetheschen Gedichte. Sollten aber die Gesetze des deutschen Hexameters wohl so konsequent und allgemeingültig sein wie der Charakter der Goetheschen Poesie?
(7) Mein Versuch »Über das Studium der griechischen Poesie« ist ein manierierter Hymnus in Prosa auf das Objektive in der Poesie. Das Schlechteste daran scheint mir der gänzliche Mangel der unentbehrlichen Ironie und das Beste die zuversichtliche Voraussetzung, daß die Poesie unendlich viel wert sei; als ob dies eine ausgemachte Sache wäre.
(8) Eine gute Vorrede muß zugleich die Wurzel und das Quadrat ihres Buchs sein.
(9) Witz ist unbedingt geselliger Geist oder fragmentarische Genialität.
(10) Man muß das Brett bohren, wo es am dicksten ist.
(11) Es ist noch gar nichts recht Tüchtiges, was Gründlichkeit, Kraft und Geschick hätte, wider die Alten geschrieben worden; besonders wider ihre Poesie.
(12) In dem, was man Philosophie der Kunst nennt, fehlt gewöhnlich eins von beiden: entweder die Philosophie oder die Kunst.
(13) Jedes Gleichnis, was nur lang ist, nennt Bodmer gern homerisch. So hört man auch wohl Witz aristophanisch nennen, an dem nichts klassisch ist als die Zwanglosigkeit und die Deutlichkeit.
(14) Auch in der Poesie mag wohl alles Ganze halb und alles Halbe doch eigentlich ganz sein.
(15) Der dumme Herr in Diderots »Jakob« macht dem Künstler vielleicht mehr Ehre als der närrische Diener. Er ist freilich nur beinah genialisch dumm. Aber auch das war wohl schwerer zu machen als einen ganz genialischen Narren.
(16) Genie ist zwar nicht Sache der Willkür, aber doch der Freiheit, wie Witz, Liebe und Glauben, die einst Künste und Wissenschaften werden müssen. Man soll von jedermann Genie fordern, aber ohne es zu erwarten. Ein Kantianer würde dies den kategorischen Imperativ der Genialität nennen.
(17) Nichts ist verächtlicher als trauriger Witz.
(18) Die Romane endigen gern, wie das Vaterunser anfängt: mit dem Reich Gottes auf Erden.
(19) Manches Gedicht wird so geliebt wie der Heiland von den Nonnen.
(20) Eine klassische Schrift muß nie ganz verstanden werden können. Aber die, welche gebildet sind und sich bilden, müssen immer mehr draus lernen wollen.
(21) Wie ein Kind eigentlich eine Sache ist, die ein Mensch werden will: so ist auch das Gedicht nur ein Naturding, welches ein Kunstwerk werden will.
(22) Ein einziges analytisches Wort, auch zum Lobe, kann den vortrefflichsten witzigen Einfall, dessen Flamme nun erst wärmen sollte, nachdem sie geglänzt hat, unmittelbar löschen.
(23) In jedem guten Gedicht muß alles Absicht und alles Instinkt sein. Dadurch wird es idealisch.
(24) Die kleinsten Autoren haben wenigstens die Ähnlichkeit mit dem großen Autor des Himmels und der Erde, daß sie nach vollbrachtem Tagewerke zu sich selbst zu sagen pflegen: »Und siehe, was er gemacht hatte, war gut.«
(25) Die beiden Hauptgrundsätze der sogenannten historischen Kritik sind das Postulat der Gemeinheit und das Axiom der Gewöhnlichkeit. Postulat der Gemeinheit: Alles recht Große, Gute und Schöne ist unwahrscheinlich, denn es ist außerordentlich und zum mindesten verdächtig. Axiom der Gewöhnlichkeit: Wie es bei uns und um uns ist, so muß es überall gewesen sein; denn das ist ja alles so natürlich.
(26) Die Romane sind die sokratischen Dialoge unserer Zeit. In diese liberale Form hat sich die Lebensweisheit vor der Schulweisheit geflüchtet.
(27) Ein Kritiker ist ein Leser, der wiederkäut. Er sollte also mehr als einen Magen haben.
(28) Sinn (für eine besondere Kunst, Wissenschaft, einen Menschen usw.) ist dividierter Geist, Selbstbeschränkung also ein Resultat von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung.
(29) Anmut ist korrektes Leben, Sinnlichkeit, die sich selbst anschaut und sich selbst bildet.
(30) An die Stelle des Schicksals tritt in der modernen Tragödie zuweilen Gott der Vater, noch öfter aber der Teufel selbst. Wie kommt's, daß dies noch keinen Kunstgelehrten zu einer Theorie der diabolischen Dichtart veranlaßt hat?
(31) Die Einteilung der Kunstwerke in naive und sentimentale ließe sich vielleicht sehr fruchtbar auch auf die Kunsturteile anwenden. Es gibt sentimentale Kunsturteile, denen nichts fehlt als eine Vignette und ein Motto, um auch vollkommen naiv zu sein. Zur Vignette ein blasender Postillion. Zum Motto eine Phrasis des alten Thomasius beim Schluß einer akademischen Festrede: »Nunc vero musicantes musicabunt cum paucis et trompetis.«
(32) Die chemische Klassifikation der Auflösung in die auf dem trocknen und in die auf dem nassen Wege ist auch in der Literatur auf die Auflösung der Autoren anwendbar, die nach Erreichung ihrer äußersten Höhe sinken müssen. Einige verdampfen, andre werden zu Wasser.
(33) Eins von beiden ist fast immer herrschende Neigung jedes Schriftstellers: entweder manches nicht zu sagen, was durchaus gesagt werden müßte, oder vieles zu sagen, was durchaus nicht gesagt zu werden brauchte. Das erste ist die Erbsünde der synthetischen Naturen, das letzte der analytischen.
(34) Ein witziger Einfall ist eine Zersetzung geistiger Stoffe, die also vor der plötzlichen Scheidung innigst vermischt sein mußten. Die Einbildungskraft muß erst mit Leben jeder Art bis zur Sättigung angefüllt sein, ehe es Zeit sein kann, sie durch die Friktion freier Geselligkeit so zu elektrisieren, daß der Reiz der leisesten freundlichen oder feindlichen Berührung ihr blitzende Funken und leuchtende Strahlen oder schmetternde Schläge entlocken kann.
(35) Mancher redet so vom Publikum, als ob es jemand wäre, mit dem er auf der Leipziger Messe im Hôtel de Saxe zu Mittage gespeist hätte. Wer ist dieser Publikum? – Publikum ist gar keine Sache, sondern ein Gedanke, ein Postulat wie Kirche.
(36) Wer noch nicht bis zur klaren Einsicht gekommen ist, daß es eine Größe noch ganz außerhalb seiner eigenen Sphäre geben könne, für die ihm der Sinn durchaus fehle; wer nicht wenigstens dunkle Vermutungen hat, nach welcher Weltgegend des menschlichen Geistes hin diese Größe ungefähr gelegen sein möge: der ist in seiner eignen Sphäre entweder ohne Genie oder noch nicht bis zum Klassischen gebildet.
(37) Um über einen Gegenstand gut schreiben zu können, muß man sich nicht mehr für ihn interessieren; der Gedanke, den man mit Besonnenheit ausdrücken soll, muß schon gänzlich vorbei sein, einen nicht mehr eigentlich beschäftigen. Solange der Künstler erfindet und begeistert ist, befindet er sich für die Mitteilung wenigstens in einem illiberalen Zustande. Er wird dann alles sagen wollen, welches eine falsche Tendenz junger Genies oder ein richtiges Vorurteil alter Stümper ist. Dadurch verkennt er den Wert und die Würde der Selbstbeschränkung, die doch für den Künstler wie für den Menschen das Erste und das Letzte, das Notwendigste und das Höchste ist. Das Notwendigste: denn überall, wo man sich nicht selbst beschränkt, beschränkt einen die Welt, wodurch man ein Knecht wird. Das Höchste: denn man kann sich nur in den Punkten und an den Seiten selbst beschränken, wo man unendliche Kraft hat, Selbstschöpfung und Selbstvernichtung. Selbst ein freundschaftliches Gespräch, was nicht in jedem Augenblick frei abbrechen kann, aus unbedingter Willkür, hat etwas Illiberales. Ein Schriftsteller aber, der sich rein ausreden will und kann, der nichts für sich behält und alles sagen mag, was er weiß, ist sehr zu beklagen. Nur vor drei Fehlern hat man sich zu hüten. Was unbedingte Willkür und sonach Unvernunft oder Übervernunft scheint und scheinen soll, muß dennoch im Grunde auch wieder schlechthin notwendig und vernünftig sein; sonst wird die Laune Eigensinn, es entsteht Illiberalität, und aus Selbstbeschränkung wird Selbstvernichtung. Zweitens: man muß mit der Selbstbeschränkung nicht zu sehr eilen und erst der Selbstschöpfung, der Erfindung und Begeisterung Raum lassen, bis sie fertig ist. Drittens: man muß die Selbstbeschränkung nicht übertreiben.
(38) An dem Urbilde der Deutschheit, welches einige große vaterländische Erfinder aufgestellt haben, läßt sich nichts tadeln als die falsche Stellung. Diese Deutschheit liegt nicht hinter uns, sondern vor uns.
(39) Die Geschichte der Nachahmung der alten Dichtkunst, vornehmlich im Auslande, hat unter andern auch den Nutzen, daß sich die wichtigen Begriffe von unwillkürlicher Parodie und passivem Witz hier am leichtesten und vollständigsten entwickeln lassen.
(40) In der in Deutschland erfundenen und in Deutschland geltenden Bedeutung ist ästhetisch ein Wort, welches, wie bekannt, eine gleich vollendete Unkenntnis der bezeichneten Sache und der bezeichnenden Sprache verrät. Warum wird es noch beibehalten?
(41) An geselligem Witz und geselliger Fröhlichkeit sind wenige Bücher mit dem Roman »Faublas« zu vergleichen. Er ist der Champagner seiner Gattung.
(42) Die Philosophie ist die eigentliche Heimat der Ironie, welche man logische Schönheit definieren möchte: denn überall, wo in mündlichen oder geschriebenen Gesprächen, und nur nicht ganz systematisch, philosophiert wird, soll man Ironie leisten und fordern; und sogar die Stoiker hielten die Urbanität für eine Tugend. Freilich gibt's auch eine rhetorische Ironie, welche, sparsam gebraucht, vortreffliche Wirkung tut, besonders im Polemischen; doch ist sie gegen die erhabne Urbanität der Sokratischen Muse, was die Pracht der glänzendsten Kunstrede gegen eine alte Tragödie in hohem Stil. Die Poesie allein kann sich auch von dieser Seite bis zur Höhe der Philosophie erheben und ist nicht auf ironische Stellen begründet wie die Rhetorik. Es gibt alte und moderne Gedichte, die durchgängig im ganzen und überall den göttlichen Hauch der Ironie atmen. Es lebt in ihnen eine wirklich transzendentale Buffonerie. Im Innern die Stimmung, welche alles übersieht und sich über alles Bedingte unendlich erhebt, auch über eigne Kunst, Tugend oder Genialität; im Äußern, in der Ausführung, die mimische Manier eines gewöhnlichen guten italienischen Buffo.
(43) Hippel, sagt Kant, hatte die empfehlungswürdige Maxime, man müsse das schmackhafte Gericht einer launigen Darstellung noch durch die Zutat des Nachgedachten würzen. Warum will Hippel nicht mehr Nachfolger in dieser Maxime finden, da doch Kant sie gebilligt hat?
(44) Man sollte sich nie auf den Geist des Altertums berufen wie auf eine Autorität. Es ist eine eigene Sache mit den Geistern; sie lassen sich nicht mit Händen greifen und dem andern vorhalten. Geister zeigen sich nur Geistern. Das Kürzeste und das Bündigste wäre wohl auch hier, den Besitz des alleinseligmachenden Glaubens durch gute Werke zu beweisen.
(45) Bei der sonderbaren Liebhaberei moderner Dichter für griechische Terminologie in Benennung ihrer Produkte erinnert man sich der naiven Äußerung eines Franzosen bei Gelegenheit der neuen altrepublikanischen Feste: »que pourtant nous sommes menacés de rester toujours François«. – Manche solcher Benennungen der Feudalpoesie können bei den Literatoren künftiger Zeitalter ähnliche Untersuchungen veranlassen wie die, warum Dante sein großes Werk eine göttliche Komödie nannte. – Es gibt Tragödien, die man, wenn einmal etwas Griechisches im Namen sein soll, am besten traurige Mimen nennen könnte. Sie scheinen nach dem Begriff von Tragödie getauft zu sein, der einmal beim Shakespeare vorkommt, aber von großer Allgemeinheit in der modernen Kunstgeschichte ist: eine Tragödie ist ein Drama, worin Pyramus sich selbst umbringt.
(46) Die Römer sind uns näher und begreiflicher als die Griechen; und doch ist echter Sinn für die Römer noch ungleich seltner als der für die Griechen, weil es weniger synthetische als analytische Naturen gibt. Denn auch für Nationen gibt's einen eignen Sinn, für historische wie für moralische Individuen, nicht bloß für praktische Gattungen, Künste oder Wissenschaften.
(47) Wer etwas Unendliches will, der weiß nicht, was er will. Aber umkehren läßt sich dieser Satz nicht.
(48) Ironie ist die Form des Paradoxen. Paradox ist alles, was zugleich gut und groß ist.
(49) Eins der wichtigsten Moyens der dramatischen und romantischen Kunst bei den Engländern sind die Guineen. Besonders in der Schlußkadenz werden sie stark gebraucht, wenn die Bässe anfangen, recht voll zu arbeiten.
(50) Wie tief doch im Menschen der Hang wurzelt, individuelle und nationale Eigenheiten zu generalisieren! Selbst Chamfort sagt: »Les vers ajoutent de l'esprit à la pensée de l'homme qui en a quelquefois assez peu; et c'est ce qu'on appelle talent.« – Ist dies allgemeiner französischer Sprachgebrauch?
(51) Witz als Werkzeug der Rache ist so schändlich wie Kunst als Mittel des Sinnenkitzels.
(52) In manchem Gedicht erhält man stellenweise statt der Darstellung nur eine Überschrift, welche anzeigt, daß hier eigentlich dies oder das dargestellt sein sollte, daß der Künstler aber Verhinderung gehabt habe und ergebenst um gewogene Entschuldigung bittet.
(53) In Rücksicht auf die Einheit sind die meisten modernen Gedichte Allegorien (Mysterien, Moralitäten) oder Novellen (Aventüren, Intrigen), ein Gemisch oder eine Verdünnung von diesen.
(54) Es gibt Schriftsteller, die Unbedingtes trinken wie Wasser, und Bücher, wo selbst die Hunde sich aufs Unendliche beziehen.
(55) Ein recht freier und gebildeter Mensch müßte sich selbst nach Belieben philosophisch oder philologisch, kritisch oder poetisch, historisch oder rhetorisch, antik oder modern stimmen können, ganz willkürlich, wie man ein Instrument stimmt, zu jeder Zeit und in jedem Grade.
(56) Witz ist logische Geselligkeit.
(57) Wenn manche mystische Kunstliebhaber, welche jede Kritik für Zergliederung und jede Zergliederung für Zerstörung des Genusses halten, konsequent dächten: so wäre Potztausend das beste Kunsturteil über das würdigste Werk. Auch gibt's Kritiken, die nichts mehr sagen, nur viel weitläuftiger.
(58) Wie die Menschen lieber groß handeln mögen als gerecht: so wollen auch die Künstler veredeln und belehren.
(59) Chamforts Lieblingsgedanke, der Witz sei ein Ersatz der unmöglichen Glückseligkeit, gleichsam ein kleines Prozent, womit die bankerotte Natur sich für die nicht honorierte Schuld des höchsten Gutes abfinde, ist nicht viel glücklicher als der des Shaftesbury, Witz sei der Prüfstein der Wahrheit, oder als das gemeinere Vorurteil, sittliche Veredlung sei der höchste Zweck der schönen Kunst. Witz ist Zweck an sich, wie die Tugend, die Liebe und die Kunst. Der genialische Mann fühlte, so scheint es, den unendlichen Wert des Witzes, und da die französische Philosophie nicht hinreicht, um dieses zu begreifen, so suchte er sein Höchstes instinktmäßig mit dem, was nach dieser das Erste und Höchste ist, zu verknüpfen. Und als Maxime ist der Gedanke, der Weise müsse gegen das Schicksal immer en état d'épigramme sein, schön und echt zynisch.
(60) Alle klassischen Dichtarten in ihrer strengen Reinheit sind jetzt lächerlich.
(61) Streng genommen, ist der Begriff eines wissenschaftlichen Gedichts wohl so widersinnig wie der einer dichterischen Wissenschaft.
(62) Man hat schon so viele Theorien der Dichtarten. Warum hat man noch keinen Begriff von Dichtart? Vielleicht würde man sich dann mit einer einzigen Theorie der Dichtarten behelfen müssen.
(63) Nicht die Kunst und die Werke machen den Künstler, sondern der Sinn und die Begeisterung und der Trieb.
(64) Es bedürfte eines neuen »Laokoon«, um die Grenzen der Musik und der Philosophie zu bestimmen. Zur richtigen Ansicht mancher Schriften fehlt es noch an einer Theorie der grammatischen Tonkunst.
(65) Die Poesie ist eine republikanische Rede, eine Rede, die ihr eignes Gesetz und ihr eigner Zweck ist, wo alle Teile freie Bürger sind und mitstimmen dürfen.
(66) Die revolutionäre Objektivitätswut meiner frühern philosophischen Musikalien hat etwas weniges von der Grundwut, die unter Reinholds Konsulate in der Philosophie so gewaltig um sich griff.
(67) In England ist der Witz wenigstens eine Profession, wenn auch keine Kunst. Alles wird da zünftig, und selbst die Roués dieser Insel sind Pedanten. So auch ihre wits, welche die unbedingte Willkür, deren Schein dem Witz das Romantische und Pikante gibt, in die Wirklichkeit einführen und so auch witzig leben; daher ihr Talent zur Tollheit. Sie sterben für ihre Grundsätze.
(68) Wieviel Autoren gibt's wohl unter den Schriftstellern? Autor heißt Urheber.
(69) Es gibt auch negativen Sinn, der viel besser ist als Null, aber viel seltner. Man kann etwas innig lieben, eben weil man's nicht hat: das gibt wenigstens ein Vorgefühl ohne Nachsatz. Selbst entschiedne Unfähigkeit, die man klar weiß oder gar mit starker Antipathie, ist bei reinem Mangel ganz unmöglich und setzt wenigstens partiale Fähigkeit und Sympathie voraus. Gleich dem Platonischen Eros ist also wohl dieser negative Sinn der Sohn des Überflusses und der Armut. Er entsteht, wenn einer bloß den Geist hat, ohne den Buchstaben; oder umgekehrt, wenn er bloß die Materialien und Förmlichkeiten hat, die trockne harte Schale des produktiven Genies ohne den Kern. Im ersten Falle gibt's reine Tendenzen, Projekte, die so weit sind wie der blaue Himmel, oder, wenn's hoch kömmt, skizzierte Fantasien; im letzten zeigt sich jene harmonisch ausgebildete Kunst-Plattheit, in welcher die größten engländischen Kritiker so klassisch sind. Das Kennzeichen der ersten Gattung, des negativen Sinns vom Geiste, ist, wenn einer immer wollen muß, ohne je zu können; wenn einer immer hören mag, ohne je zu vernehmen.
(70) Leute, die Bücher schreiben und sich dann einbilden, ihre Leser wären das Publikum und sie müßten das Publikum bilden: diese kommen sehr bald dahin, ihr sogenanntes Publikum nicht bloß zu verachten, sondern zu hassen; welches zu gar nichts führen kann.
(71) Sinn für Witz ohne Witz ist doch schon das ABC der Liberalität.
(72) Eigentlich haben sie's recht gern, wenn ein Dichterwerk ein wenig ruchlos ist, besonders in der Mitte; nur muß der Anstand nicht gradezu beleidigt werden, und zuletzt muß alles ein gutes Ende nehmen.
(73) Was in gewöhnlichen guten oder vortrefflichen Übersetzungen verlorengeht, ist grade das Beste.
(74) Es ist unmöglich, jemandem ein Ärgernis zu geben, wenn er's nicht nehmen will.
(75) Noten sind philologische Epigramme; Übersetzungen philologische Mimen; manche Kommentare, wo der Text nur Anstoß oder Nicht-Ich ist, philologische Idyllen.
(76) Es gibt einen Ehrgeiz, welcher lieber der Erste unter den Letzten sein will als der Zweite unter den Ersten. Das ist der alte. Es gibt einen andern Ehrgeiz, der lieber, wie Tassos Gabriel:
Gabriel, che fra i primi era il secondo,
der Zweite unter den Ersten als der Erste unter den Zweiten sein will. Das ist der moderne.
(77) Maximen, Ideale, Imperative und Postulate sind jetzt bisweilen Rechenpfennige der Sittlichkeit.
(78) Mancher der vortrefflichsten Romane ist ein Kompendium, eine Enzyklopädie des ganzen geistigen Lebens eines genialischen Individuums; Werke, die das sind, selbst in ganz andrer Form, wie »Nathan«, bekommen dadurch einen Anstrich vom Roman. Auch enthält jeder Mensch, der gebildet ist und sich bildet, in seinem Innern einen Roman. Daß er ihn aber äußre und schreibe, ist nicht nötig.
(79) Zur Popularität gelangen deutsche Schriften durch einen großen Namen, oder durch Persönlichkeiten, oder durch gute Bekanntschaft, oder durch Anstrengung, oder durch mäßige Unsittlichkeit, oder durch vollendete Unverständlichkeit, oder durch harmonische Plattheit, oder durch vielseitige Langweiligkeit, oder durch beständiges Streben nach dem Unbedingten.
(80) Ungern vermisse ich in Kants Stammbaum der Urbegriffe die Kategorie Beinahe, die doch gewiß ebensoviel gewirkt hat in der Welt und in der Literatur, und ebensoviel verdorben, als irgendeine andre Kategorie. In dem Geiste der Naturskeptiker tingiert sie alle übrigen Begriffe und Anschauungen.
(81) Es hat etwas Kleinliches, gegen Individuen zu polemisieren wie der Handel en détail. Will er die Polemik nicht en gros treiben, so muß der Künstler wenigstens solche Individuen wählen, die klassisch sind und von ewig dauerndem Wert. Ist auch das nicht möglich, etwa im traurigen Fall der Notwehr: so müssen die Individuen, kraft der polemischen Fiktion, soviel als möglich zu Repräsentanten der objektiven Dummheit und der objektiven Narrheit idealisiert werden; denn auch diese sind, wie alles Objektive, unendlich interessant, wie der höhern Polemik würdige Gegenstände sein müssen.
(82) Geist ist Naturphilosophie.
(83) Manieren sind charakteristische Ecken.
(84) Aus dem, was die Modernen wollen, muß man lernen, was die Poesie werden soll; aus dem, was die Alten tun, was sie sein muß.
(85) Jeder rechtliche Autor schreibt für niemand oder für alle. Wer schreibt, damit ihn diese und jene lesen mögen, verdient, daß er nicht gelesen werde.
(86) Der Zweck der Kritik, sagt man, sei, Leser zu bilden! – Wer gebildet sein will, mag sich doch selbst bilden. Dies ist unhöflich; es steht aber nicht zu ändern.
(87) Da die Poesie unendlich viel wert ist, so sehe ich nicht ein, warum sie auch noch bloß mehr wert sein soll wie dies und jenes, was auch unendlich viel wert ist. Es gibt Künstler, welche nicht etwa zu groß von der Kunst denken, denn das ist unmöglich, aber doch nicht frei genug sind, sich selbst über ihr Höchstes zu erheben.
(88) Nichts ist pikanter, als wenn ein genialischer Mann Manieren hat, nämlich wenn er sie hat, aber gar nicht, wenn sie ihn haben; das führt zur geistigen Versteinerung.
(89) Sollte es nicht überflüssig sein, mehr als einen Roman zu schreiben, wenn der Künstler nicht etwa ein neuer Mensch geworden ist? – Offenbar gehören nicht selten alle Romane eines Autors zusammen und sind gewissermaßen nur ein Roman.
(90) Witz ist eine Explosion von gebundnem Geist.
(91) Die Alten sind weder die Juden noch die Christen noch die Engländer der Poesie. Sie sind nicht ein willkürlich auserwähltes Kunstvolk Gottes, noch haben sie den alleinseligmachenden Schönheitsglauben, noch besitzen sie ein Dichtungsmonopol.
(92) Auch der Geist kann, wie das Tier, nur in einer aus reiner Lebensluft und Azote gemischten Atmosphäre atmen. Dies nicht ertragen und begreifen zu können ist das Wesen der Torheit, es schlechthin nicht zu wollen der Anfang der Narrheit.
(93) In den Alten sieht man den vollendeten Buchstaben der ganzen Poesie; in den Neuern ahnet man den werdenden Geist.
(94) Mittelmäßige Autoren, die ein kleines Buch so ankündigen, als ob sie einen großen Riesen wollten sehen lassen, sollten von der literarischen Polizei genötigt werden, ihr Produkt mit dem Motto stempeln zu lassen: »This is the greatest elephant in the world, except himself.«
(95) Die harmonische Plattheit kann dem Philosophen sehr nützlich werden, als ein heller Leuchtturm für noch unbefahrne Gegenden des Lebens, der Kunst oder der Wissenschaft. – Er wird den Menschen, das Buch vermeiden, die ein harmonisch Platter bewundert und liebt, und der Meinung wenigstens mißtrauen, an die mehre der Art fest glauben.
(96) Ein gutes Rätsel sollte witzig sein; sonst bleibt nichts, sobald das Wort gefunden ist. Auch ist's nicht ohne Reiz, wenn ein witziger Einfall insoweit rätselhaft ist, daß er erraten sein will; nur muß sein Sinn gleich völlig klar werden, sobald er getroffen ist.
(97) Salz im Ausdruck ist das Pikante, pulverisiert. Es gibt grobkörniges und feines.
(98) Folgendes sind allgemeingültige Grundgesetze der schriftstellerischen Mitteilung: 1) Man muß etwas haben, was mitgeteilt werden soll. 2) Man muß jemand haben, dem man's mitteilen wollen darf. 3) Man muß es wirklich mitteilen, mit ihm teilen können, nicht bloß sich äußern, allein; sonst wäre es treffender, zu schweigen.
(99) Wer nicht selbst ganz neu ist, der beurteilt das Neue wie alt; und das Alte wird einem immer wieder neu, bis man selbst alt wird.
(100) Die Poesie des einen heißt die philosophische, die des andern die philologische, die des dritten die rhetorische usw. Welches ist denn nun die poetische Poesie?
(101) Affektation entspringt nicht sowohl aus dem Bestreben, neu, als aus der Furcht, alt zu sein.
(102) Alles beurteilen zu wollen ist eine große Verirrung oder eine kleine Sünde.
(103) Viele Werke, deren schöne Verkettung man preist, haben weniger Einheit als ein bunter Haufen von Einfällen, die, nur vom Geiste eines Geistes belebt, nach einem Ziele zielen. Diese verbindet doch jenes freie und gleiche Beisammensein, worin sich auch die Bürger des vollkommnen Staats, nach der Versicherung der Weisen, dereinst befinden werden, jener unbedingt gesellige Geist, welcher nach der Anmaßung der Vornehmen jetzt nur in dem gefunden wird, was man so seltsam und beinahe kindisch große Welt zu nennen pflegt. Manches Erzeugnis hingegen, an dessen Zusammenhang niemand zweifelt, ist, wie der Künstler selbst sehr wohl weiß, kein Werk, sondern nur Bruchstück, eins oder mehre, Masse, Anlage. So mächtig ist aber der Trieb nach Einheit im Menschen, daß der Urheber selbst, was er durchaus nicht vollenden oder vereinigen kann, oft gleich bei der Bildung doch wenigstens ergänzt; oft sehr sinnreich und dennoch ganz widernatürlich. Das Schlimmste dabei ist, daß alles, was man den gediegenen Stücken, die wirklich da sind, so drüber aufhängt, um einen Schein von Ganzheit zu erkünsteln, meistens nur aus gefärbten Lumpen besteht. Sind diese nun auch gut und täuschend geschminkt und mit Verstand drapiert: so ist's eigentlich um desto schlimmer. Dann wird anfänglich auch der Auserwählte getäuscht, welcher tiefen Sinn hat für das wenige tüchtig Gute und Schöne, was noch in Schriften wie in Handlungen sparsam hie und da gefunden wird. Er muß nun erst durch Urteil zur richtigen Empfindung gelangen! Geschieht die Scheidung auch noch so schnell: so ist doch der erste frische Eindruck einmal weg.
(104) Was man gewöhnlich Vernunft nennt, ist nur eine Gattung derselben, nämlich die dünne und wäßrige. Es gibt auch eine dicke, feurige Vernunft, welche den Witz eigentlich zum Witz macht und dem gediegenen Stil das Elastische gibt und das Elektrische.
(105) Sieht man auf den Geist, nicht auf den Buchstaben: so war das ganze römische Volk, samt dem Senat und samt allen Triumphatoren und Cäsaren, ein Zyniker.
(106) Nichts ist in seinem Ursprung jämmerlicher und in seinen Folgen gräßlicher als die Furcht, lächerlich zu sein. Daher z. B. die Knechtschaft der Weiber und mancher andre Krebsschaden der Menschheit.
(107) Die Alten sind Meister der poetischen Abstraktion; die Modernen haben mehr poetische Spekulation.
(108) Die Sokratische Ironie ist die einzige durchaus unwillkürliche und doch durchaus besonnene Verstellung. Es ist gleich unmöglich, sie zu erkünsteln und sie zu verraten. Wer sie nicht hat, dem bleibt sie auch nach dem offensten Geständnis ein Rätsel. Sie soll niemanden täuschen als die, welche sie für Täuschung halten und entweder ihre Freude haben an der herrlichen Schalkheit, alle Welt zum besten zu haben, oder böse werden, wenn sie ahnden, sie wären wohl auch mit gemeint. In ihr soll alles Scherz und alles Ernst sein, alles treuherzig offen und alles tief verstellt. Sie entspringt aus der Vereinigung von Lebenskunstsinn und wissenschaftlichem Geist, aus dem Zusammentreffen vollendeter Naturphilosophie und vollendeter Kunstphilosophie. Sie enthält und erregt ein Gefühl von dem unauflöslichen Widerstreit des Unbedingten und des Bedingten, der Unmöglichkeit und Notwendigkeit einer vollständigen Mitteilung. Sie ist die freieste aller Lizenzen, denn durch sie setzt man sich über sich selbst weg; und doch auch die gesetzlichste, denn sie ist unbedingt notwendig. Es ist ein sehr gutes Zeichen, wenn die harmonisch Platten gar nicht wissen, wie sie diese stete Selbstparodie zu nehmen haben, immer wieder von neuem glauben und mißglauben, bis sie schwindlicht werden, den Scherz grade für Ernst und den Ernst für Scherz halten. Lessings Ironie ist Instinkt; bei Hemsterhuis ist's klassisches Studium; Hülsens Ironie entspringt aus Philosophie der Philosophie und kann die jener noch weit übertreffen.
(109) Milder Witz oder Witz ohne Pointe ist ein Privilegium der Poesie, was die Prosa ihr ja lassen muß: denn nur durch die schärfste Richtung auf einen Punkt kann der einzelne Einfall eine Art von Ganzheit erhalten.
(110) Sollte die harmonische Ausbildung der Adligen und der Künstler nicht etwa bloß eine harmonische Einbildung sein?
(111) Chamfort war, was Rousseau gern scheinen wollte: ein echter Zyniker, im Sinne der Alten mehr Philosoph als eine ganze Legion trockner Schulweisen. Obgleich er sich anfänglich mit den Vornehmen gemein gemacht hatte, lebte er dennoch frei, wie er auch frei und würdig starb, und verachtete den kleinen Ruhm eines großen Schriftstellers. Er war Mirabeaus Freund. Sein köstlichster Nachlaß sind seine Einfälle und Bemerkungen zur Lebensweisheit, ein Buch, voll von gediegenem Witz, tiefem Sinn, zarter Fühlbarkeit, von reifer Vernunft und fester Männlichkeit und von interessanten Spuren der lebendigsten Leidenschaftlichkeit und dabei auserlesen und von vollendetem Ausdruck; ohne Vergleich das höchste und erste seiner Art.
(112) Der analytische Schriftsteller beobachtet den Leser, wie er ist; danach macht er seinen Kalkül, legt seine Maschinen an, um den gehörigen Effekt auf ihn zu machen. Der synthetische Schriftsteller konstruiert und schafft sich einen Leser, wie er sein soll; er denkt sich denselben nicht ruhend und tot, sondern lebendig und entgegenwirkend. Er läßt das, was er erfunden hat, vor seinen Augen stufenweise werden, oder er lockt ihn, es selbst zu erfinden. Er will keine bestimmte Wirkung auf ihn machen, sondern er tritt mit ihm in das heilige Verhältnis der innigsten Symphilosophie oder Sympoesie.
(113) Voß ist in der »Luise« ein Homeride; so ist auch Homer in seiner Übersetzung ein Voßide.
(114) Es gibt so viele kritische Zeitschriften von verschiedener Natur und mancherlei Absichten! Wenn sich doch auch einmal eine Gesellschaft der Art verbinden wollte, welche bloß den Zweck hätte, die Kritik selbst, die doch auch notwendig ist, allmählich zu realisieren!
(115) Die ganze Geschichte der modernen Poesie ist ein fortlaufender Kommentar zu dem kurzen Text der Philosophie: Alle Kunst soll Wissenschaft, und alle Wissenschaft soll Kunst werden; Poesie und Philosophie sollen vereinigt sein.
(116) Die Deutschen, sagt man, sind, was Höhe des Kunstsinns und des wissenschaftlichen Geistes betrifft, das erste Volk in der Welt. Gewiß; nur gibt es sehr wenige Deutsche.
(117) Poesie kann nur durch Poesie kritisiert werden. Ein Kunsturteil, welches nicht selbst ein Kunstwerk ist, entweder im Stoff, als Darstellung des notwendigen Eindrucks in seinem Werden, oder durch eine schöne Form und einen im Geist der alten römischen Satire liberalen Ton, hat gar kein Bürgerrecht im Reiche der Kunst.
(118) War nicht alles, was abgenutzt werden kann, gleich anfangs schief oder platt?
(119) Sapphische Gedichte müssen wachsen und gefunden werden. Sie lassen sich weder machen noch ohne Entweihung öffentlich mitteilen. Wer es tut, dem fehlt es zugleich an Stolz und an Bescheidenheit. An Stolz: indem er sein Innerstes herausreißt aus der heiligen Stille des Herzens und es hinwirft unter die Menge, daß sie's angaffen, roh oder fremd; und das für ein lausiges Dacapo oder für Friedrichsdor. Unbescheiden aber bleibt's immer, sein Selbst auf die Ausstellung zu schicken wie ein Urbild. Und sind lyrische Gedichte nicht ganz eigentümlich, frei und wahr: so taugen sie nichts als solche. Petrarca gehört nicht hieher: der kühle Liebhaber sagt ja nichts als zierliche Allgemeinheiten; auch ist er romantisch, nicht lyrisch. Gäbe es aber auch noch eine Natur, so konsequent schön und klassisch, daß sie sich nackt zeigen dürfte wie Phryne vor allen Griechen: so gibt's doch kein olympisches Publikum mehr für ein solches Schauspiel. Auch war es Phryne. Nur Zyniker lieben auf dem Markt. Man kann ein Zyniker sein und ein großer Dichter: der Hund und der Lorbeer haben gleiches Recht, Horazens Denkmal zu zieren. Aber horazisch ist noch bei weitem nicht sapphisch. Sapphisch ist nie zynisch.
(120) Wer Goethes »Meister« gehörig charakterisierte, der hätte damit wohl eigentlich gesagt, was es jetzt an der Zeit ist in der Poesie. Er dürfte sich, was poetische Kritik betrifft, immer zur Ruhe setzen.
(121) Die einfachsten und nächsten Fragen, wie: Soll man Shakespeares Werke als Kunst oder als Natur beurteilen? und: Ist das Epos und die Tragödie wesentlich verschieden oder nicht? und: Soll die Kunst täuschen oder bloß scheinen?, können nicht beantwortet werden ohne die tiefste Spekulation und die gelehrteste Kunstgeschichte.
(122) Wenn irgend etwas die hohe Idee von Deutschheit rechtfertigen kann, die man hie und da findet, so ist's die entschiedne Vernachlässigung und Verachtung solcher gewöhnlich guten Schriftsteller, die jede andre Nation mit Pomp in ihren Johnson aufnehmen würde, und der ziemlich allgemeine Hang, auch an dem, was sie als das Beste erkennen und was besser ist, als daß die Ausländer es schon gut finden könnten, frei zu tadeln und es überall recht genau zu nehmen.
(123) Es ist eine unbesonnene und unbescheidne Anmaßung, aus der Philosophie etwas über die Kunst lernen zu wollen. Manche fangen's so an, als ob sie hofften, hier etwas Neues zu erfahren, da die Philosophie doch weiter nichts kann und können soll, als die gegebnen Kunsterfahrungen und vorhandnen Kunstbegriffe zur Wissenschaft machen, die Kunstansicht erheben, mit Hülfe einer gründlich gelehrten Kunstgeschichte erweitern und diejenige logische Stimmung auch über diese Gegenstände zu erzeugen, welche absolute Liberalität mit absolutem Rigorismus vereinigt.
(124) Auch im Innern und Ganzen der größten modernen Gedichte ist Reim, symmetrische Wiederkehr des Gleichen. Dies rundet nicht nur vortrefflich, sondern kann auch höchst tragisch wirken. Zum Beispiel die Champagnerflasche und die drei Gläser, welche die alte Barbara in der Nacht vor Wilhelm auf den Tisch setzt. – Ich möchte es den gigantischen oder den Shakespeareschen Reim nennen: denn Shakespeare ist Meister darin.
(125) Schon Sophokles glaubte treuherzig, seine dargestellten Menschen seien besser als die wirklichen. Wo hat er einen Sokrates dargestellt, einen Solon, Aristides, so unzählig viele andre? – Wie oft läßt sich nicht diese Frage auch für andre Dichter wiederholen? Wie haben nicht auch die größten Künstler wirkliche Helden in ihrer Darstellung verkleinert? Und doch ist jener Wahn allgemein geworden, von den Imperatoren der Poesie bis zu den geringsten Liktoren. Dichtern mag er auch wohl heilsam sein können, wie jede konsequente Beschränkung, um die Kraft zu kondensieren und zu konzentrieren. Ein Philosoph aber, der sich davon anstecken ließe, verdiente wenigstens deportiert zu werden aus dem Reiche der Kritik. Oder gibt es etwa nicht unendlich viel Gutes und Schönes im Himmel und auf Erden, wovon sich die Poesie nichts träumen läßt?
(126) Die Römer wußten, daß der Witz ein prophetisches Vermögen ist; sie nannten ihn Nase.
(127) Es ist indelikat, sich drüber zu wundern, wenn etwas schön ist oder groß; als ob es anders sein dürfte.