Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
(1) Über keinen Gegenstand philosophieren sie seltner als über die Philosophie.
(2) Die Langeweile gleicht auch in ihrer Entstehungsart der Stickluft, wie in den Wirkungen. Beide entwickeln sich gern, wo eine Menge Menschen im eingeschloßnen Raum beisammen ist.
(3) Kant hat den Begriff des Negativen in die Weltweisheit eingeführt. Sollte es nicht ein nützlicher Versuch sein, nun auch den Begriff des Positiven in die Philosophie einzuführen?
(4) Zum großen Nachteil der Theorie von den Dichtarten vernachlässigt man oft die Unterabteilungen der Gattungen. So teilt sich zum Beispiel die Naturpoesie in die natürliche und in die künstliche und die Volkspoesie in die Volkspoesie für das Volk und in die Volkspoesie für Standespersonen und Gelehrte.
(5) Was gute Gesellschaft genannt wird, ist meistens nur eine Mosaik von geschliffnen Karikaturen.
(10) Die Pflicht ist Kants eins und alles. Aus Pflicht der Dankbarkeit, behauptet er, müsse man die Alten verteidigen und schätzen; und nur aus Pflicht ist er selbst ein großer Mann geworden.
(12) Man hat von manchem Monarchen gesagt: er würde ein sehr liebenswürdiger Privatmann gewesen sein, nur zum Könige habe er nicht getaugt. Verhält es sich etwa mit der Bibel ebenso? Ist sie auch bloß ein liebenswürdiges Privatbuch, das nur nicht Bibel sein sollte?
(13) Wenn junge Personen beiderlei Geschlechts nach einer lustigen Musik zu tanzen wissen, so fällt es ihnen gar nicht ein, deshalb über die Tonkunst urteilen zu wollen. Warum haben die Leute weniger Respekt vor der Poesie?
(15) Der Selbstmord ist gewöhnlich nur eine Begebenheit, selten eine Handlung. Ist es das erste, so hat der Täter immer unrecht, wie ein Kind, das sich emanzipieren will. Ist es aber eine Handlung, so kann vom Recht gar nicht die Frage sein, sondern nur von der Schicklichkeit. Denn dieser allein ist die Willkür unterworfen, welche alles bestimmen soll, was in den reinen Gesetzen nicht bestimmt werden kann, wie das Jetzt und das Hier, und alles bestimmen darf, was nicht die Willkür andrer und dadurch sie selbst vernichtet. Es ist nie Unrecht, freiwillig zu sterben, aber oft unanständig, länger zu leben.
(16) Wenn das Wesen des Zynismus darin besteht, der Natur vor der Kunst, der Tugend vor der Schönheit und Wissenschaft den Vorzug zu geben, unbekümmert um den Buchstaben, auf den der Stoiker streng hält, nur auf den Geist zu sehen, allen ökonomischen Wert und politischen Glanz unbedingt zu verachten und die Rechte der selbständigen Willkür tapfer zu behaupten: so dürfte der Christianismus wohl nichts anders sein als universeller Zynismus.
(17) Die dramatische Form kann man wählen aus Hang zur systematischen Vollständigkeit oder, um Menschen nicht bloß darzustellen, sondern nachzuahmen und nachzumachen, oder aus Bequemlichkeit oder aus Gefälligkeit für die Musik oder auch aus reiner Freude am Sprechen und Sprechenlassen.
(19) Das sicherste Mittel, unverständlich oder vielmehr mißverständlich zu sein, ist, wenn man die Worte in ihrem ursprünglichen Sinne braucht, besonders Worte aus den alten Sprachen.
(21) Die Kantische Philosophie gleicht dem untergeschobnen Briefe, den Maria in Shakespeares »Was ihr wollt« dem Malvolio in den Weg legt. Nur mit dem Unterschiede, daß es in Deutschland zahllose philosophische Malvolios gibt, die nun die Kniegürtel kreuzweise binden, gelbe Strümpfe tragen und immerfort fantastisch lächeln.
(22) Ein Projekt ist der subjektive Keim eines werdenden Objekts. Ein vollkommnes Projekt müßte zugleich ganz subjektiv und ganz objektiv, ein unteilbares und lebendiges Individuum sein. Seinem Ursprunge nach ganz subjektiv, original, nur grade in diesem Geiste möglich; seinem Charakter nach ganz objektiv, physisch und moralisch notwendig. Der Sinn für Projekte, die man Fragmente aus der Zukunft nennen könnte, ist von dem Sinn für Fragmente aus der Vergangenheit nur durch die Richtung verschieden, die bei ihm progressiv, bei jenem aber regressiv ist. Das Wesentliche ist die Fähigkeit, Gegenstände unmittelbar zugleich zu idealisieren und zu realisieren, zu ergänzen und teilweise in sich auszuführen. Da nun transzendental eben das ist, was auf die Verbindung oder Trennung des Idealen und des Realen Bezug hat, so könnte man wohl sagen, der Sinn für Fragmente und Projekte sei der transzendentale Bestandteil des historischen Geistes.
(23) Es wird manches gedruckt, was besser nur gesagt würde, und zuweilen etwas gesagt, was schicklicher gedruckt wäre. Wenn die Gedanken die besten sind, die sich zugleich sagen und schreiben lassen, so ist's wohl der Mühe wert, zuweilen nachzusehen, was sich von dem Gesprochnen schreiben und was sich von dem Geschriebnen drucken läßt. Anmaßend ist es freilich, noch bei Lebzeiten Gedanken zu haben, ja bekanntzumachen. Ganze Werke zu schreiben ist ungleich bescheidner, weil sie ja wohl bloß aus andern Werken zusammengesetzt sein können und weil dem Gedanken da auf den schlimmsten Fall die Zuflucht bleibt, der Sache den Vorrang zu lassen und sich demütig in den Winkel zu stellen. Aber Gedanken, einzelne Gedanken sind gezwungen, einen Wert für sich haben zu wollen, und müssen Anspruch darauf machen, eigen und gedacht zu sein. Das einzige, was eine Art von Trost dagegen gibt, ist, daß nichts anmaßender sein kann, als überhaupt zu existieren oder gar auf eine bestimmte, selbständige Art zu existieren. Aus dieser ursprünglichen Grundanmaßung folgen nun doch einmal alle abgeleiteten, man stelle sich, wie man auch will.
(24) Viele Werke der Alten sind Fragmente geworden. Viele Werke der Neuern sind es gleich bei der Entstehung.
(25) Nicht selten ist das Auslegen ein Einlegen des Erwünschten oder des Zweckmäßigen, und viele Ableitungen sind eigentlich Ausleitungen. Ein Beweis, daß Gelehrsamkeit und Spekulation der Unschuld des Geistes nicht so schädlich sind, als man uns glauben machen will. Denn ist es nicht recht kindlich, froh über das Wunder zu erstaunen, das man selbst veranstaltet hat?
(26) Die Deutschheit ist wohl darum ein Lieblingsgegenstand der Charakteriseurs, weil eine Nation, je weniger sie fertig, um so mehr ein Gegenstand der Kritik ist und nicht der Historie.
(27) Die meisten Menschen sind, wie Leibnizens mögliche Welten, nur gleichberechtigte Prätendenten der Existenz. Es gibt wenig Existenten.
(28) Folgendes scheinen, nächst der vollendeten Darstellung des kritischen Idealismus, die immer das erste bleibt, die wichtigsten Desiderata der Philosophie zu sein: eine materiale Logik, eine poetische Poetik, eine positive Politik, eine systematische Ethik und eine praktische Historie.
(29) Witzige Einfälle sind die Sprüchwörter der gebildeten Menschen.
(30) Ein blühendes Mädchen ist das reizendste Symbol vom reinen guten Willen.
(31) Prüderie ist Prätension auf Unschuld ohne Unschuld. Die Frauen müssen wohl prüde bleiben, solange Männer sentimental, dumm und schlecht genug sind, ewige Unschuld und Mangel an Bildung von ihnen zu fodern. Denn Unschuld ist das einzige, was Bildungslosigkeit adeln kann.
(32) Man soll Witz haben, aber nicht haben wollen; sonst entsteht Witzelei, alexandrinischer Stil in Witz.
(33) Es ist weit schwerer, andre zu veranlassen, daß sie gut reden, als selbst gut zu reden.
(34) Fast alle Ehen sind nur Konkubinate, Ehen an der linken Hand, oder vielmehr provisorische Versuche und entfernte Annäherungen zu einer wirklichen Ehe, deren eigentliches Wesen, nicht nach den Paradoxen dieses oder jenes Systems, sondern nach allen geistlichen und weltlichen Rechten, darin besteht, daß mehre Personen nur eine werden sollen. Ein artiger Gedanke, dessen Realisierung jedoch viele und große Schwierigkeiten zu haben scheint. Schon darum sollte die Willkür, die wohl ein Wort mitreden darf, wenn es darauf ankommt, ob einer ein Individuum für sich oder nur der integrante Teil einer gemeinschaftlichen Personalität sein will, hier sowenig als möglich beschränkt werden; und es läßt sich nicht absehen, was man gegen eine Ehe à quatre Gründliches einwenden könnte. Wenn aber der Staat gar die mißglückten Eheversuche mit Gewalt zusammenhalten will, so hindert er dadurch die Möglichkeit der Ehe selbst, die durch neue, vielleicht glücklichere Versuche befördert werden könnte.
(35) Der Zyniker dürfte eigentlich gar keine Sachen haben: denn alle Sachen, die ein Mensch hat, haben ihn doch in gewissem Sinne wieder. Es kömmt also nur darauf an, die Sachen so zu haben, als ob man sie nicht hätte. Noch künstlicher und noch zynischer ist's aber, die Sachen so nicht zu haben, als ob man sie hätte.
(36) Niemand beurteilt eine Dekorationsmalerei und ein Altarblatt, eine Operette und eine Kirchenmusik, eine Predigt und eine philosophische Abhandlung nach demselben Maßstabe. Warum macht man also an die rhetorische Poesie, welche nur auf der Bühne existiert, Foderungen, die nur durch höhere dramatische Kunst erfüllt werden können?
(37) Manche witzige Einfälle sind wie das überraschende Wiedersehen zwei befreundeter Gedanken nach einer langen Trennung.
(39) Die meisten Gedanken sind nur Profile von Gedanken. Diese muß man umkehren und mit ihren Antipoden synthesieren. Viele philosophische Schriften, die es sonst nicht haben würden, erhalten dadurch ein großes Interesse.
(41) Die, welche Profession davon gemacht haben, den Kant zu erklären, waren entweder solche, denen es an einem Organ fehlte, um sich von den Gegenständen, über die Kant geschrieben hat, einige Notiz zu verschaffen, oder solche, die nur das kleine Unglück hatten, niemand zu verstehen als sich selbst, oder solche, die sich noch verworrener ausdrückten als er.
(42) Gute Dramen müssen drastisch sein.
(43) Die Philosophie geht noch zu sehr gradeaus, ist noch nicht zyklisch genug.
(44) Jede philosophische Rezension sollte zugleich Philosophie der Rezensionen sein.
(45) Neu oder nicht neu ist das, wornach auf dem höchsten und niedrigsten Standpunkte, dem Standpunkte der Geschichte und dem der Neugierde, bei einem Werk gefragt wird.
(46) Ein Regiment Soldaten en parade ist nach der Denkart mancher Philosophen ein System.
(47) Kritisch heißt die Philosophie der Kantianer wohl per antiphrasin; oder es ist ein epitheton ornans.
(48) Mit den größten Philosophen geht mir's wie dem Plato mit den Spartanern. Er liebte und achtete sie unendlich, aber er klagt immer, daß sie überall auf halbem Wege stehngeblieben wären.
(49) Die Frauen werden in der Poesie ebenso ungerecht behandelt wie im Leben. Die weiblichen sind nicht idealisch, und die idealischen sind nicht weiblich.
(50) Wahre Liebe sollte ihrem Ursprunge nach zugleich ganz willkürlich und ganz zufällig sein und zugleich notwendig und frei scheinen, ihrem Charakter nach aber zugleich Bestimmung und Tugend sein, ein Geheimnis und ein Wunder scheinen.
(51) Naiv ist, was bis zur Ironie oder bis zum steten Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung natürlich, individuell oder klassisch ist oder scheint. Ist es bloß Instinkt, so ist's kindlich, kindisch oder albern; ist's bloß Absicht, so entsteht Affektation. Das schöne, poetische, idealische Naive muß zugleich Absicht und Instinkt sein. Das Wesen der Absicht in diesem Sinne ist die Freiheit. Bewußtsein ist noch bei weitem nicht Absicht. Es gibt ein gewisses verliebtes Anschauen eigner Natürlichkeit oder Albernheit, das selbst unsäglich albern ist. Absicht erfordert nicht gerade einen tiefen Calcul oder Plan. Auch das Homerische Naive ist nicht bloß Instinkt: es ist wenigstens soviel Absicht darin wie in der Anmut lieblicher Kinder oder unschuldiger Mädchen. Wenn er auch keine Absichten hatte, so hat doch seine Poesie und die eigentliche Verfasserin derselben, die Natur, Absicht.
(52) Es gibt eine eigne Gattung Menschen, bei denen die Begeistrung der Langenweile die erste Regung der Philosophie ist.
(53) Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben und keins zu haben. Er wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden.
(54) Man kann nur Philosoph werden, nicht es sein. Sobald man es zu sein glaubt, hört man auf, es zu werden.
(55) Es gibt Klassifikationen, die als Klassifikationen schlecht genug sind, aber ganze Nationen und Zeitalter beherrschen und oft äußerst charakteristisch und wie Zentralmonaden eines solchen historischen Individuums sind. So die griechische Einteilung aller Dinge in göttliche und menschliche, die sogar eine Homerische Antiquität ist. So die römische Einteilung in zu Haus und im Kriege. Bei den Neuern redet man immer von dieser und jener Welt, als ob es mehr als eine Welt gäbe. Aber freilich ist bei ihnen auch das meiste so isoliert und getrennt wie ihre diese und jene Welt.
(56) Da die Philosophie jetzt alles, was ihr vorkömmt, kritisiert, so wäre eine Kritik der Philosophie nichts als eine gerechte Repressalie.
(57) Mit dem Schriftstellerruhm ist es oft wie mit Frauengunst und Gelderwerb. Ist nur erst ein guter Grund gelegt, so folgt das übrige von selbst. Viele heißen durch Zufall groß. »Es ist alles Glück, nur Glück« ist das Resultat mancher literarischen Phänomene nicht minder als der meisten politischen.
(61) Die wenigen Schriften, welche gegen die Kantische Philosophie existieren, sind die wichtigsten Dokumente zur Krankheitsgeschichte des gesunden Menschenverstandes. Diese Epidemie, welche in England entstanden ist, drohte einmal sogar die deutsche Philosophie anstecken zu wollen.
(62) Das Druckenlassen verhält sich zum Denken wie eine Wochenstube zum ersten Kuß.
(63) Jeder ungebildete Mensch ist die Karikatur von sich selbst.
(64) Moderantismus ist Geist der kastrierten Illiberalität.
(65) Viele Lobredner beweisen die Größe ihres Abgottes antithetisch, durch die Darlegung ihrer eignen Kleinheit.
(66) Wenn der Autor dem Kritiker gar nichts mehr zu antworten weiß, so sagt er ihm gern: Du kannst es doch nicht besser machen. Das ist eben, als wenn ein dogmatischer Philosoph dem Skeptiker vorwerfen wollte, daß er kein System erfinden könne.
(67) Es wäre illiberal, nicht vorauszusetzen, ein jeder Philosoph sei liberal und folglich rezensibel, ja es nicht zu fingieren, wenn man auch das Gegenteil weiß. Aber anmaßend wäre es, Dichter ebenso zu behandeln; es müßte denn einer durch und durch Poesie und gleichsam ein lebendes und handelndes Kunstwerk sein.
(68) Nur der Kunstliebhaber liebt wirklich die Kunst, der auf einige seiner Wünsche völlig Verzicht tun kann, wo er andre ganz befriedigt findet, der auch das Liebste noch streng würdigen mag, der sich im Notfall Erklärungen gefallen läßt und Sinn für Kunstgeschichte hat.
(69) Die Pantomimen der Alten haben wir nicht mehr. Dagegen ist aber die ganze Poesie jetzt pantomimisch.
(70) Wo ein öffentlicher Ankläger auftreten soll, muß schon ein öffentlicher Richter vorhanden sein.
(71) Man redet immer von der Störung, welche die Zergliederung des Kunstschönen dem Genuß des Liebhabers verursachen soll. So der rechte Liebhaber läßt sich wohl nicht stören!
(72) Übersichten des Ganzen, wie sie jetzt Mode sind, entstehen, wenn einer alles einzelne übersieht und dann summiert.
(73) Sollte es mit der Bevölkerung nicht sein wie mit der Wahrheit, wo das Streben, wie man sagt, mehr wert ist als die Resultate?
(74) Nach dem verderbten Sprachgebrauche bedeutet wahrscheinlich soviel als beinah wahr oder etwas wahr oder was noch vielleicht einmal wahr werden kann. Das alles kann das Wort aber schon seiner Bildung nach gar nicht bezeichnen. Was wahr scheint, braucht darum auch nicht im kleinsten Grade wahr zu sein; aber es muß doch positiv scheinen. Das Wahrscheinliche ist der Gegenstand der Klugheit, des Vermögens, unter den möglichen Folgen freier Handlungen die wirklichen zu erraten, und etwas durchaus Subjektives. Was einige Logiker so genannt und zu berechnen versucht haben, ist Möglichkeit.
(75) Die formale Logik und die empirische Psychologie sind philosophische Grotesken. Denn das Interessante einer Arithmetik der vier Spezies oder einer Experimentalphysik des Geistes kann doch nur in dem Kontrast der Form und des Stoffs liegen.
(76) Die intellektuale Anschauung ist der kategorische Imperativ der Theorie.
(77) Ein Dialog ist eine Kette oder ein Kranz von Fragmenten. Ein Briefwechsel ist ein Dialog in vergrößertem Maßstabe, und Memorabilien sind ein System von Fragmenten. Es gibt noch keins, was in Stoff und Form fragmentarisch, zugleich ganz subjektiv und individuell und ganz objektiv und wie ein notwendiger Teil im System aller Wissenschaften wäre.
(78) Das Nichtverstehen kommt meistens gar nicht vom Mangel an Verstande, sondern vom Mangel an Sinn.
(79) Die Narrheit ist bloß dadurch von der Tollheit verschieden, daß sie willkürlich ist wie die Dummheit. Soll dieser Unterschied nicht gelten, so ist's sehr ungerecht, einige Narren einzusperren, während man andre ihr Glück machen läßt. Beide sind dann nur dem Grade, nicht der Art nach verschieden.
(80) Der Historiker ist ein rückwärts gekehrter Prophet.
(81) Die meisten Menschen wissen von keiner andern Würde als von repräsentativer; und doch haben nur so äußerst wenige Sinn für repräsentativen Wert. Was auch für sich gar nichts ist, wird doch Beitrag zur Charakteristik irgendeiner Gattung sein, und in dieser Rücksicht könnte man sagen: niemand sei uninteressant.
(82) Die Demonstrationen der Philosophie sind eben Demonstrationen im Sinne der militärischen Kunstsprache. Mit den Deduktionen steht es auch nicht besser wie mit den politischen; auch in den Wissenschaften besetzt man erst ein Terrain und beweist dann hinterdrein sein Recht daran. Auf die Definitionen läßt sich anwenden, was Chamfort von den Freunden sagte, die man so in der Welt hat. Es gibt drei Arten von Erklärungen in der Wissenschaft: Erklärungen, die uns ein Licht oder einen Wink geben; Erklärungen, die nichts erklären; und Erklärungen, die alles verdunkeln. Die rechten Definitionen lassen sich gar nicht aus dem Stegreife machen, sondern müssen einem von selbst kommen; eine Definition, die nicht witzig ist, taugt nichts, und von jedem Individuum gibt es doch unendlich viele reale Definitionen. Die notwendigen Förmlichkeiten der Kunstphilosophie arten aus in Etikette und Luxus. Als Legitimation und Probe der Virtuosität haben sie ihren Zweck und Wert, wie die Bravourarien der Sänger und das Lateinschreiben der Philologen. Auch machen sie nicht wenig rhetorischen Effekt. Die Hauptsache aber bleibt doch immer, daß man etwas weiß und daß man es sagt. Es beweisen oder gar erklären wollen ist in den meisten Fällen herzlich überflüssig. Der kategorische Stil der Gesetze der Zwölf Tafeln und die thetische Methode, wo die reinen Fakta der Reflexion ohne Verhüllung, Verdünnung und künstliche Verstellung wie Texte für das Studium oder die Symphilosophie dastehen, bleibt der gebildeten Naturphilosophie die angemessenste. Soll beides gleich gut gemacht werden, so ist es unstreitig viel schwerer behaupten als beweisen. Es gibt Demonstrationen die Menge, die der Form nach vortrefflich sind, für schiefe und platte Sätze. Leibniz behauptete, und Wolff bewies. Das ist genug gesagt.
(83) Der Satz des Widerspruchs ist auch nicht einmal das Prinzip der Analyse, nämlich der absoluten, die allein den Namen verdient, der chemischen Dekomposition eines Individuums in seine schlechthin einfachen Elemente.
(84) Subjektiv betrachtet, fängt die Philosophie doch immer in der Mitte an, wie das epische Gedicht.
(85) Grundsätze sind fürs Leben, was im Kabinett geschriebene Instruktionen für den Feldherrn.
(86) Echtes Wohlwollen geht auf Beförderung fremder Freiheit, nicht auf Gewährung tierischer Genüsse.
(87) Das Erste in der Liebe ist der Sinn füreinander und das Höchste der Glauben aneinander. Hingebung ist der Ausdruck des Glaubens, und Genuß kann den Sinn beleben und schärfen, wenn auch nicht hervorbringen, wie die gemeine Meinung ist. Darum kann die Sinnlichkeit schlechte Menschen auf eine kurze Zeit täuschen, als könnten sie sich lieben.
(88) Es gibt Menschen, deren ganze Tätigkeit darin besteht, immer nein zu sagen. Es wäre nichts Kleines, immer recht nein sagen zu können, aber wer weiter nichts kann, kann es gewiß nicht recht. Der Geschmack dieser Neganten ist eine tüchtige Schere, um die Extremitäten des Genies zu säubern, ihre Aufklärung eine große Lichtputze für die Flamme des Enthusiasmus und ihre Vernunft ein gelindes Laxativ gegen unmäßige Lust und Liebe.
(89) Die Kritik ist das einzige Surrogat der von so manchen Philosophen vergeblich gesuchten und gleich unmöglichen moralischen Mathematik und Wissenschaft des Schicklichen.
(90) Der Gegenstand der Historie ist das Wirklichwerden alles dessen, was praktisch notwendig ist.
(91) Die Logik ist weder die Vorrede noch das Instrument, noch das Formular, noch eine Episode der Philosophie, sondern eine der Poetik und Ethik entgegengesetzte und koordinierte pragmatische Wissenschaft, welche von der Foderung der positiven Wahrheit und der Voraussetzung der Möglichkeit eines Systems ausgeht.
(92) Ehe nicht die Philosophen Grammatiker oder die Grammatiker Philosophen werden, wird die Grammatik nicht, was sie bei den Alten war, eine pragmatische Wissenschaft und ein Teil der Logik, noch überhaupt eine Wissenschaft werden.
(93) Die Lehre vom Geist und Buchstaben ist unter andern auch darum so interessant, weil sie die Philosophie mit der Philologie in Berührung setzen kann.
(94) Immer hat noch jeder große Philosoph seine Vorgänger, oft ohne seine Absicht, so erklärt, daß es schien, als habe man sie vor ihm gar nicht verstanden.
(95) Einiges muß die Philosophie einstweilen auf ewig voraussetzen, und sie darf es, weil sie es muß.
(96) Wer nicht um der Philosophie willen philosophiert, sondern die Philosophie als Mittel braucht, ist ein Sophist.
(97) Als vorübergehender Zustand ist der Skeptizismus logische Insurrektion; als System ist er Anarchie. Skeptische Methode wäre also ungefähr wie insurgente Regierung.
(98) Philosophisch ist alles, was zur Realisierung des logischen Ideals beiträgt und wissenschaftliche Bildung hat.
(99) Bei den Ausdrücken seine Philosophie, meine Philosophie erinnert man sich immer an die Worte im »Nathan«: »Wem eignet Gott? Was ist das für ein Gott, der einem Menschen eignet?«
(100) Poetischer Schein ist Spiel der Vorstellungen, und Spiel ist Schein von Handlungen.
(101) Was in der Poesie geschieht, geschieht nie oder immer. Sonst ist es keine rechte Poesie. Man darf nicht glauben sollen, daß es jetzt wirklich geschehe.
(102) Die Frauen haben durchaus keinen Sinn für die Kunst, wohl aber für die Poesie. Sie haben keine Anlage zur Wissenschaft, wohl aber zur Philosophie. An Spekulation, innerer Anschauung des Unendlichen fehlt's ihnen gar nicht, nur an Abstraktion, die sich weit eher lernen läßt.
(103) Daß man eine Philosophie annihiliert, wobei sich der Unvorsichtige leicht gelegentlich selbst mit annihilieren kann, oder daß man ihr zeigt, sie annihiliere sich selbst, kann ihr wenig schaden. Ist sie wirklich Philosophie, so wird sie doch wie ein Phönix aus ihrer eignen Asche immer wieder aufleben.
(104) Nach dem Weltbegriffe ist jeder ein Kantianer, der sich auch für die neueste deutsche philosophische Literatur interessiert. Nach dem Schulbegriffe ist nur der ein Kantianer, der glaubt, Kant sei die Wahrheit, und der, wenn die Königsberger Post einmal verunglückte, leicht einige Wochen ohne Wahrheit sein könnte. Nach dem veralteten Sokratischen Begriffe, da die, welche sich den Geist des großen Meisters selbständig angeeignet und angebildet hatten, seine Schüler hießen und als Söhne seines Geistes nach ihm genannt wurden, dürfte es nur wenige Kantianer geben.
(105) Schellings Philosophie, die man kritisierten Mystizismus nennen könnte, endigt, wie der »Prometheus« des Äschylus, mit Erdbeben und Untergang.
(107) Das stillschweigend vorausgesetzte und wirklich erste Postulat aller Kantianischen Harmonien der Evangelisten lautet: Kants Philosophie soll mit sich selbst übereinstimmen.
(108) Schön ist, was zugleich reizend und erhaben ist.
(109) Es gibt eine Mikrologie und einen Glauben an Autorität, die Charakterzüge der Größe sind. Das ist die vollendende Mikrologie des Künstlers und der historische Glaube an die Autorität der Natur.
(111) Die Lehren, welche ein Roman geben will, müssen solche sein, die sich nur im ganzen mitteilen, nicht einzeln beweisen und durch Zergliederung erschöpfen lassen. Sonst wäre die rhetorische Form ungleich vorzüglicher.
(112) Die Philosophen, welche nicht gegeneinander sind, verbindet gewöhnlich nur Sympathie, nicht Symphilosophie.
(113) Eine Klassifikation ist eine Definition, die ein System von Definitionen enthält.
(114) Eine Definition der Poesie kann nur bestimmen, was sie sein soll, nicht was sie in der Wirklichkeit war und ist; sonst würde sie am kürzesten so lauten: Poesie ist, was man zu irgendeiner Zeit, an irgendeinem Orte so genannt hat.
(115) Daß es den Adel vaterländischer Festgesänge nicht entweihen kann, wenn sie tüchtig bezahlt werden, beweisen die Griechen und Pindar. Daß aber das Bezahlen nicht allein selig macht, beweisen die Engländer, die wenigstens darin die Alten haben nachahmen wollen. Die Schönheit ist also doch in England nicht käuflich und verkäuflich, wenn auch die Tugend.
(116) Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennte Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen und durch die Schwingungen des Humors beseelen. Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom größten, wieder mehre Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosen Gesang. Sie kann sich so in das Dargestellte verlieren, daß man glauben möchte, poetische Individuen jeder Art zu charakterisieren sei ihr eins und alles; und doch gibt es noch keine Form, die so dazu gemacht wäre, den Geist des Autors vollständig auszudrücken: so daß manche Künstler, die nur auch einen Roman schreiben wollten, von ungefähr sich selbst dargestellt haben. Nur sie kann gleich dem Epos ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters werden. Und doch kann auch sie am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen. Sie ist der höchsten und der allseitigsten Bildung fähig – nicht bloß von innen heraus, sondern auch von außen hinein –, indem sie jedem, was ein Ganzes in ihren Produkten sein soll, alle Teile ähnlich organisiert, wodurch ihr die Aussicht auf eine grenzenlos wachsende Klassizität eröffnet wird. Die romantische Poesie ist unter den Künsten, was der Witz der Philosophie und die Gesellschaft, Umgang, Freundschaft und Liebe im Leben ist. Andre Dichtarten sind fertig und können nun vollständig zergliedert werden. Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann. Sie kann durch keine Theorie erschöpft werden, und nur eine divinatorische Kritik dürfte es wagen, ihr Ideal charakterisieren zu wollen. Sie allein ist unendlich, wie sie allein frei ist und das als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide. Die romantische Dichtart ist die einzige, die mehr als Art und gleichsam die Dichtkunst selbst ist: denn in einem gewissen Sinn ist oder soll alle Poesie romantisch sein.
(117) Werke, deren Ideal für den Künstler nicht ebensoviel lebendige Realität und gleichsam Persönlichkeit hat wie die Geliebte oder der Freund, blieben besser ungeschrieben. Wenigstens Kunstwerke werden es gewiß nicht.
(118) Es ist nicht einmal ein feiner, sondern eigentlich ein recht grober Kitzel des Egoismus, wenn alle Personen in einem Roman sich um einen bewegen wie Planeten um die Sonne, der dann gewöhnlich des Verfassers unartiges Schoßkind ist und der Spiegel und Schmeichler des entzückten Lesers wird. Wie ein gebildeter Mensch nicht bloß Zweck, sondern auch Mittel ist für sich und für andre, so sollten auch im gebildeten Gedicht alle zugleich Zweck und Mittel sein. Die Verfassung sei republikanisch, wobei immer erlaubt bleibt, daß einige Teile aktiv, andre passiv sein.
(119) Auch solche Bilder der Sprache, die bloß Eigensinn scheinen, haben oft tiefe Bedeutung. Was für eine Analogie, könnte man denken, ist wohl zwischen Massen von Gold oder Silber und Fertigkeiten des Geistes, die so sicher und so vollendet sind, daß sie willkürlich werden, und so zufällig entstanden, daß sie angeboren scheinen können? Und doch fällt es in die Augen, daß man Talente nur hat, besitzt wie Sachen, die doch ihren soliden Wert behalten, wenn sie gleich den Inhaber selbst nicht adeln können. Genie kann man eigentlich nie haben, nur sein. Auch gibt es keinen Pluralis von Genie, der hier schon im Singularis steckt. Genie ist nämlich ein System von Talenten.
(120) Den Witz achten sie darum so wenig, weil seine Äußerungen nicht lang und nicht breit genug sind, denn ihre Empfindung ist nur eine dunkel vorgestellte Mathematik, und weil sie dabei lachen, welches gegen den Respekt wäre, wenn der Witz wahre Würde hätte. Der Witz ist wie einer, der nach der Regel repräsentieren sollte und statt dessen bloß handelt.
(121) Eine Idee ist ein bis zur Ironie vollendeter Begriff, eine absolute Synthesis absoluter Antithesen, der stete, sich selbst erzeugende Wechsel zwei streitender Gedanken. Ein Ideal ist zugleich Idee und Faktum. Haben die Ideale für den Denker nicht soviel Individualität wie die Götter des Altertums für den Künstler, so ist alle Beschäftigung mit Ideen nichts als ein langweiliges und mühsames Würfelspiel mit hohlen Formeln oder ein nach Art der chinesischen Bonzen hinbrütendes Anschauen seiner eignen Nase. Nichts ist kläglicher und verächtlicher als diese sentimentale Spekulation ohne Objekt. Nur sollte man das nicht Mystik nennen, da dies schöne alte Wort für die absolute Philosophie, auf deren Standpunkte der Geist alles als Geheimnis und als Wunder betrachtet, was er aus andern Gesichtspunkten theoretisch und praktisch natürlich findet, so brauchbar und so unentbehrlich ist. Spekulation en détail ist so selten als Abstraktion en gros, und doch sind sie es, die allen Stoff des wissenschaftlichen Witzes erzeugen, sie die Prinzipien der höhern Kritik, die obersten Stufen der geistigen Bildung. Die große praktische Abstraktion macht die Alten, bei denen sie Instinkt war, eigentlich zu Alten. Umsonst war es, daß die Individuen das Ideal ihrer Gattung vollständig ausdrückten, wenn nicht auch die Gattungen selbst streng und scharf isoliert und ihrer Originalität gleichsam frei überlassen waren. Aber sich willkürlich bald in diese, bald in jene Sphäre wie in eine andre Welt, nicht bloß mit dem Verstande und der Einbildung, sondern mit ganzer Seele versetzen; bald auf diesen, bald auf jenen Teil seines Wesens frei Verzicht tun und sich auf einen andern ganz beschränken; jetzt in diesem, jetzt in jenem Individuum sein eins und alles suchen und finden und alle übrigen absichtlich vergessen: das kann nur ein Geist, der gleichsam eine Mehrheit von Geistern und ein ganzes System von Personen in sich enthält und in dessen Innerm das Universum, welches, wie man sagt, in jeder Monade keimen soll, ausgewachsen und reif geworden ist.
(123) Sollte die Poesie nicht unter andern auch deswegen die höchste und würdigste aller Künste sein, weil nur in ihr Dramen möglich sind?
(124) Wenn man einmal aus Psychologie Romane schreibt oder Romane liest, so ist es sehr inkonsequent und klein, auch die langsamste und ausführlichste Zergliederung unnatürlicher Lüste, gräßlicher Marter, empörender Infamie, ekelhafter sinnlicher oder geistiger Impotenz scheuen zu wollen.
(125) Vielleicht würde eine ganz neue Epoche der Wissenschaften und Künste beginnen, wenn die Symphilosophie und Sympoesie so allgemein und so innig würde, daß es nichts Seltnes mehr wäre, wenn mehre sich gegenseitig ergänzende Naturen gemeinschaftliche Werke bildeten. Oft kann man sich des Gedankens nicht erwehren, zwei Geister möchten eigentlich zusammengehören, wie getrennte Hälften, und nur verbunden alles sein, was sie könnten. Gäbe es eine Kunst, Individuen zu verschmelzen, oder könnte die wünschende Kritik etwas mehr als wünschen, wozu sie überall so viel Veranlassung findet, so möchte ich Jean Paul und Peter Leberecht kombiniert sehen. Grade alles, was jenem fehlt, hat dieser. Jean Pauls groteskes Talent und Peter Leberechts fantastische Bildung vereinigt würden einen vortrefflichen romantischen Dichter hervorbringen.
(126) Alle nationale und auf den Effekt gemachte Dramen sind romantisierte Mimen.
(137) Es gibt eine materiale, enthusiastische Rhetorik, die unendlich weit erhaben ist über den sophistischen Mißbrauch der Philosophie, die deklamatorische Stilübung, die angewandte Poesie, die improvisierte Politik, welche man mit demselben Namen zu bezeichnen pflegt. Ihre Bestimmung ist, die Philosophie praktisch zu realisieren und die praktische Unphilosophie und Antiphilosophie nicht bloß dialektisch zu besiegen, sondern real zu vernichten. Rousseau und Fichte verbieten auch denen, die nicht glauben, wo sie nicht sehen, dies Ideal für chimärisch zu halten.
(138) Die Tragiker setzen die Szene ihrer Dichtungen fast immer in die Vergangenheit. Warum sollte dies schlechthin notwendig, warum sollte es nicht auch möglich sein, die Szene in die Zukunft zu setzen, wodurch die Fantasie mit einem Streich von allen historischen Rücksichten und Einschränkungen befreit würde? Aber freilich müßte ein Volk, das die beschämenden Gestalten einer würdigen Darstellung der bessern Zukunft ertragen sollte, mehr als eine republikanische Verfassung, es müßte eine liberale Gesinnung haben.
(139) Aus dem romantischen Gesichtspunkt haben auch die Abarten der Poesie, selbst die exzentrischen und monströsen, ihren Wert als Materialien und Vorübungen der Universalität, wenn nur irgend etwas drin ist, wenn sie nur original sind.
(143) Man kann niemand zwingen, die Alten für klassisch zu halten oder für alt; das hängt zuletzt von Maximen ab.
(144) Das goldne Zeitalter der römischen Literatur war genialischer und der Poesie günstiger, das sogenannte silberne in der Prosa ungleich korrekter.
(145) Als Dichter betrachtet, ist Homer sehr sittlich, weil er so natürlich und doch so poetisch ist. Als Sittenlehrer aber, wie ihn die Alten trotz den Protestationen der älteren und bessern Philosophen häufig betrachteten, ist er eben darum sehr unsittlich.
(146) Wie der Roman die ganze moderne Poesie, so tingiert auch die Satire, die durch alle Umgestaltungen bei den Römern doch immer eine klassische Universalpoesie, eine Gesellschaftspoesie aus und für den Mittelpunkt des gebildeten Weltalls blieb, die ganze römische Poesie, ja die gesamte römische Literatur und gibt darin gleichsam den Ton an. Um Sinn zu haben für das, was in der Prosa eines Cicero, Caesar, Suetonius das Urbanste, das Originalste und das Schönste ist, muß man die Horazischen Satiren schon lange geliebt und verstanden haben. Das sind die ewigen Urquellen der Urbanität.
(147) Klassisch zu leben und das Altertum praktisch in sich zu realisieren ist der Gipfel und das Ziel der Philologie. Sollte dies ohne allen Zynismus möglich sein?
(148) Die größte aller Antithesen, die es je gegeben hat, ist Caesar und Cato. Sallust hat sie nicht unwürdig dargestellt.
(149) Der systematische Winckelmann, der alle Alten gleichsam wie einen Autor las, alles im ganzen sah und seine gesamte Kraft auf die Griechen konzentrierte, legte durch die Wahrnehmung der absoluten Verschiedenheit des Antiken und des Modernen den ersten Grund zu einer materialen Altertumslehre. Erst wenn der Standpunkt und die Bedingungen der absoluten Identität des Antiken und Modernen, die war, ist oder sein wird, gefunden ist, darf man sagen, daß wenigstens der Kontur der Wissenschaft fertig sei und nun an die methodische Ausführung gedacht werden könne.
(150) Der »Agricola« des Tacitus ist eine klassisch prächtige, historische Kanonisation eines konsularischen Ökonomen. Nach der Denkart, die darin herrscht, ist die höchste Bestimmung des Menschen, mit Erlaubnis des Imperators zu triumphieren.
(151) Jeder hat noch in den Alten gefunden, was er brauchte oder wünschte, vorzüglich sich selbst.
(152) Cicero war ein großer Virtuose der Urbanität, der ein Redner, ja sogar ein Philosoph sein wollte und ein sehr genialischer Antiquar, Literator und Polyhistor altrömischer Tugend und altrömischer Festivität hätte werden können.
(153) Je populärer ein alter Autor ist, je romantischer ist er. Dies ist das Prinzip der neuen Auswahl, welche die Modernen aus der alten Auswahl der Klassiker durch die Tat gemacht haben oder vielmehr immer noch machen.
(154) Wer frisch vom Aristophanes, dem Olymp der Komödie, kommt, dem erscheint die romantische Persiflage wie eine lang ausgesponnene Faser aus einem Gewebe der Athene, wie eine Flocke himmlischen Feuers, von der das Beste im Herabfallen auf die Erde verflog.
(155) Die rohen kosmopolitischen Versuche der Karthager und andrer Völker des Altertums erscheinen gegen die politische Universalität der Römer wie die Naturpoesie ungebildeter Nationen gegen die klassische Kunst der Griechen. Nur die Römer waren zufrieden mit dem Geist des Despotismus und verachteten den Buchstaben; nur sie haben naive Tyrannen gehabt.
(156) Der komische Witz ist eine Mischung des epischen und des jambischen. Aristophanes ist zugleich Homer und Archilochus.
(157) Ovid hat viel Ähnlichkeit mit dem Euripides. Dieselbe rührende Kraft, derselbe rhetorische Glanz und oft unzeitige Scharfsinn, dieselbe tändelnde Fülle, Eitelkeit und Dünnheit.
(158) Das Beste im Martial ist das, was catullisch scheinen könnte.
(159) In manchem Gedicht der spätem Alten, wie zum Beispiel in der »Mosella« des Ausonius, ist schon nichts mehr antik als das Antiquarische.
(160) Weder die attische Bildung des Xenophon noch sein Streben nach dorischer Harmonie, noch seine sokratische Anmut, durch die er liebenswürdig scheinen kann, diese hinreißende Einfalt, Klarheit und eigne Süßigkeit des Stils, kann dem unbefangnen Gemüt die Gemeinheit verbergen, die der innerste Geist seines Lebens und seiner Werke ist. Die »Memorabilien« beweisen, wie unfähig er war, die Größe seines Meisters zu begreifen, und die »Anabase«, das interessanteste und schönste seiner Werke, wie klein er selbst war.
(161) Sollte die zyklische Natur des höchsten Wesens bei Plato und Aristoteles nicht die Personifikation einer philosophischen Manier sein?
(162) Hat man nicht bei Untersuchung der ältesten griechischen Mythologie viel zuwenig Rücksicht auf den Instinkt des menschlichen Geistes, zu parallelisieren und zu antithesieren, genommen? Die Homerische Götterwelt ist eine einfache Variation der Homerischen Menschenwelt; die Hesiodische, welcher der heroische Gegensatz fehlt, spaltet sich in mehre entgegengesetzte Göttergeschlechter. In der alten Aristotelischen Bemerkung, daß man die Menschen aus ihren Göttern kennenlerne, liegt nicht bloß die von selbst einleuchtende Subjektivität aller Theologie, sondern auch die unbegreiflichere angeborne geistige Duplizität des Menschen.
(163) Die Geschichte der ersten römischen Caesaren ist wie die Symphonie und das Thema der Geschichte aller nachfolgenden.
(164) Die Fehler der griechischen Sophisten waren mehr Fehler aus Überfluß als aus Mangel. Selbst in der Zuversicht und Arroganz, mit der sie alles zu wissen, ja auch wohl zu können glaubten und vorgaben, liegt etwas sehr Philosophisches, nicht der Absicht, aber dem Instinkt nach: denn der Philosoph hat doch nur die Alternative, alles oder nichts wissen zu wollen. Das, woraus man nur etwas oder allerlei lernen soll, ist sicher keine Philosophie.
(165) Im Plato finden sich alle reinen Arten der griechischen Prosa in klassischer Individualität unvermischt und oft schneidend nebeneinander: die logische, die physische, die mimische, die panegyrische und die mythische. Die mimische ist die Grundlage und das allgemeine Element; die andern kommen oft nur episodisch vor. Dann hat er noch eine ihm besonders eigne Art, worin er am meisten Plato ist, die dithyrambische. Man könnte sie eine Mischung der mythischen und panegyrischen nennen, wenn sie nicht auch etwas von dem Gedrängten und einfach Würdigen der physischen hätte.
(166) Nationen und Zeitalter zu charakterisieren, das Große groß zu zeichnen, das ist das eigentliche Talent des poetischen Tacitus. In historischen Porträten ist der kritische Suetonius der größere Meister.
(167) Fast alle Kunsturteile sind zu allgemein oder zu speziell. Hier in ihren eignen Produkten sollten die Kritiker die schöne Mitte suchen und nicht in den Werken der Dichter.
(168) Cicero würdigt die Philosophien nach ihrer Tauglichkeit für den Redner: ebenso läßt sich fragen, welche die angemessenste für den Dichter sei. Gewiß kein System, das mit den Aussprüchen des Gefühls und Gemeinsinnes im Widerspruch steht oder das Wirkliche in Schein verwandelt oder sich aller Entscheidung enthält oder den Schwung zum Übersinnlichen hemmt oder die Menschheit von den äußern Gegenständen erst zusammenbettelt. Also weder der Eudämonismus noch der Fatalismus, noch der Idealismus, noch der Skeptizismus, noch der Materialismus, noch der Empirismus. Und welche Philosophie bleibt dem Dichter übrig? Die schaffende, die von der Freiheit und dem Glauben an sie ausgeht und dann zeigt, wie der menschliche Geist sein Gesetz allem aufprägt und wie die Welt sein Kunstwerk ist.
(196) Reine Autobiographien werden geschrieben: entweder von Nervenkranken, die immer an ihr Ich gebannt sind, wohin Rousseau mit gehört; oder von einer derben künstlerischen oder abenteuerlichen Eigenliebe, wie die des Benvenuto Cellini; oder von gebornen Geschichtsschreibern, die sich selbst nur ein Stoff historischer Kunst sind; oder von Frauen, die auch mit der Nachwelt kokettieren; oder von sorglichen Gemütern, die vor ihrem Tode noch das kleinste Stäubchen in Ordnung bringen möchten und sich selbst nicht ohne Erläuterungen aus der Welt gehen lassen können; oder sie sind ohne weiteres bloß als Plädoyers vor dem Publikum zu betrachten. Eine große Klasse unter den Autobiographen machen die Autopseusten aus.
(206) Ein Fragment muß gleich einem kleinen Kunstwerke von der umgebenden Welt ganz abgesondert und in sich selbst vollendet sein wie ein Igel.
(211) Die Menge nicht zu achten ist sittlich, sie zu ehren ist rechtlich.
(212) Wert ist vielleicht kein Volk der Freiheit, aber das gehört vor das Forum Dei.
(213) Nur derjenige Staat verdient Aristokratie genannt zu werden, in welchem wenigstens die kleinere Masse, welche die größere despotisiert, eine republikanische Verfassung hat.
(214) Die vollkommne Republik müßte nicht bloß demokratisch, sondern zugleich auch aristokratisch und monarchisch sein; innerhalb der Gesetzgebung der Freiheit und Gleichheit müßte das Gebildete das Ungebildete überwiegen und leiten und alles sich zu einem absoluten Ganzen organisieren.
(215) Kann eine Gesetzgebung wohl sittlich heißen, welche die Angriffe auf die Ehre der Bürger weniger hart bestraft als die auf ihr Leben?
(216) Die Französische Revolution, Fichtes »Wissenschaftslehre« und Goethes »Meister« sind die größten Tendenzen des Zeitalters. Wer an dieser Zusammenstellung Anstoß nimmt, wem keine Revolution wichtig scheinen kann, die nicht laut und materiell ist, der hat sich noch nicht auf den hohen weiten Standpunkt der Geschichte der Menschheit erhoben. Selbst in unsern dürftigen Kulturgeschichten, die meistens einer mit fortlaufendem Kommentar begleiteten Variantensammlung, wozu der klassische Text verlorenging, gleichen, spielt manches kleine Buch, von dem die lärmende Menge zu seiner Zeit nicht viel Notiz nahm, eine größere Rolle als alles, was diese trieb.
(217) Altertümlichkeit der Worte und Neuheit der Wortstellungen, gedrungne Kürze und nebenausbildende Fülle, die auch die unerklärlichem Züge der charakterisierten Individuen wiedergibt: das sind die wesentlichen Eigenschaften des historischen Stils. Die wesentlichste von allen ist Adel, Pracht, Würde. Vornehm wird der historische Stil durch die Gleichartigkeit und Reinheit einheimischer Worte von echtem Stamm und durch Auswahl der bedeutendsten, gewichtigsten und kostbarsten; durch groß gezeichneten und deutlich, lieber zu hart als unklar artikulierten Periodenbau, wie der des Thucydides; durch nackte Gediegenheit, erhabene Eil und großartige Fröhlichkeit der Stimmung und Farbe, nach Art des Caesar; besonders aber durch jene innige und hohe Bildung eines Tacitus, welche die trocknen Fakta der reinen Empirie so poetisieren, urbanisieren und zur Philosophie erheben, läutern und generalisieren muß, als sei sie von einem, der zugleich ein vollendeter Denker, Künstler und Held wäre, aufgefaßt und vielfach durchgearbeitet, ohne daß doch irgendwo rohe Poesie, reine Philosophie oder isolierter Witz die Harmonie störte. Das alles muß in der Historie verschmolzen sein, wie auch die Bilder und Antithesen nur angedeutet oder wieder aufgelöst sein müssen, damit der schwebende und fließende Ausdruck dem lebendigen Werden der beweglichen Gestalten entspreche.
(218) Man wundert sich immer mißtrauisch, wenn man zu wissen scheint: das und das wird so sein. Und doch ist es grade ebenso wunderbar, daß wir wissen können: das und das ist so; was niemanden auffällt, weil es immer geschieht.
(219) Im Gibbon hat sich die gemeine Bigotterie der engländischen Pedanten für die Alten auf klassischem Boden bis zu sentimentalen Epigrammen über die Ruinen der versunknen Herrlichkeit veredelt, doch konnte sie ihre Natur nicht ganz ablegen. Er zeigt verschiedentlich, für die Griechen gar keinen Sinn gehabt zu haben. Und an den Römern liebt er doch eigentlich nur die materielle Pracht, vorzüglich aber, nach Art seiner zwischen Merkantilität und Mathematik geteilten Nation, die quantitative Erhabenheit. Die Türken, sollte man denken, hätten es ihm eben auch getan.
(220) Ist aller Witz Prinzip und Organ der Universalphilosophie und alle Philosophie nichts andres als der Geist der Universalität, die Wissenschaft aller sich ewig mischenden und wieder trennenden Wissenschaften, eine logische Chemie: so ist der Wert und die Würde jenes absoluten, enthusiastischen, durch und durch materialen Witzes, worin Baco und Leibniz, die Häupter der scholastischen Prosa, jener einer der ersten, dieser einer der größten Virtuosen war, unendlich. Die wichtigsten wissenschaftlichen Entdeckungen sind Bonmots der Gattung. Das sind sie durch die überraschende Zufälligkeit ihrer Entstehung, durch das Kombinatorische des Gedankens und durch das Barocke des hingeworfenen Ausdrucks. Doch sind sie dem Gehalt nach freilich weit mehr als die sich in Nichts auflösende Erwartung des rein poetischen Witzes. Die besten sind echappées de vue ins Unendliche. Leibnizens gesamte Philosophie besteht aus wenigen in diesem Sinne witzigen Fragmenten und Projekten. Kant, der Kopernikus der Philosophie, hat von Natur vielleicht noch mehr synkretistischen Geist und kritischen Witz als Leibniz: aber seine Situation und seine Bildung ist nicht so witzig; auch geht es seinen Einfällen wie beliebten Melodien: die Kantianer haben sie tot gesungen; daher kann man ihm leicht unrecht tun und ihn für weniger witzig halten, als er ist. Freilich ist die Philosophie erst dann in einer guten Verfassung, wenn sie nicht mehr auf genialische Einfälle zu warten und zu rechnen braucht und, zwar nur durch enthusiastische Kraft und mit genialischer Kunst, aber doch in sicherer Methode, stetig fortschreiten kann. Aber sollen wir die einzigen noch vorhandenen Produkte des synthesierenden Genies darum nicht achten, weil es noch keine kombinatorische Kunst und Wissenschaft gibt? Und wie kann es diese geben, solange wir die meisten Wissenschaften nur noch buchstabieren wie Quintaner und uns einbilden, wir wären am Ziel, wenn wir in einem der vielen Dialekte der Philosophie deklinieren und konjugieren können und noch nichts von Syntax ahnden, noch nicht den kleinsten Perioden konstruieren können?
(221) A.: Sie behaupten immer, Sie wären ein Christ. Was verstehn Sie unter Christentum? – B.: Was die Christen als Christen seit achtzehn Jahrhunderten machen oder machen wollen. Der Christianismus scheint mir ein Faktum zu sein. Aber ein erst angefangnes Faktum, das also nicht in einem System historisch dargestellt, sondern nur durch divinatorische Kritik charakterisiert werden kann.
(222) Der revolutionäre Wunsch, das Reich Gottes zu realisieren, ist der elastische Punkt der progressiven Bildung und der Anfang der modernen Geschichte. Was in gar keiner Beziehung aufs Reich Gottes steht, ist in ihr nur Nebensache.
(223) Die sogenannte Staatenhistorie, welche nichts ist als eine genetische Definition vom Phänomen des gegenwärtigen politischen Zustandes einer Nation, kann nicht für eine reine Kunst oder Wissenschaft gelten. Sie ist ein wissenschaftliches Gewerbe, das durch Freimütigkeit und Opposition gegen Faustrecht und Mode geadelt werden kann. Auch die Universalhistorie wird sophistisch, sobald sie dem Geiste der allgemeinen Bildung der ganzen Menschheit irgend etwas vorzieht, wäre auch eine moralische Idee das heteronomische Prinzip, sobald sie für eine Seite des historischen Universums Partei nimmt; und nichts stört mehr in einer historischen Darstellung als rhetorische Seitenblicke und Nutzanwendungen.
(225) Strebt eine Biographie zu generalisieren, so ist sie ein historisches Fragment. Konzentriert sie sich ganz darauf, die Individualität zu charakterisieren: so ist sie eine Urkunde oder ein Werk der Lebenskunstlehre.
(226) Da man immer so sehr gegen die Hypothesen redet, so sollte man doch einmal versuchen, die Geschichte ohne Hypothese anzufangen. Man kann nicht sagen, daß etwas ist, ohne zu sagen, was es ist. Indem man sie denkt, bezieht man Fakta schon auf Begriffe, und es ist doch wohl nicht einerlei, auf welche. Weiß man dies, so bestimmt und wählt man sich selbst unter den möglichen Begriffen die notwendigen, auf die man Fakta jeder Art beziehen soll. Will man es nicht anerkennen, so bleibt die Wahl dem Instinkt, dem Zufall oder der Willkür überlassen, man schmeichelt sich, reine solide Empirie ganz a posteriori zu haben, und hat eine höchst einseitige, höchst dogmatizistische und transzendente Ansicht a priori.
(227) Der Schein der Regellosigkeit in der Geschichte der Menschheit entsteht nur durch die Kollisionsfälle heterogener Sphären der Natur, die hier alle zusammentreffen und ineinandergreifen. Denn sonst hat die unbedingte Willkür in diesem Gebiet der freien Notwendigkeit und notwendigen Freiheit weder konstitutive noch legislative Gewalt und nur den täuschenden Titel der exekutiven und richterlichen. Der skizzierte Gedanke einer historischen Dynamik macht dem Geiste des Condorcet so viel Ehre als seinem Herzen der mehr als französische Enthusiasmus für die beinah trivial gewordene Idee der unendlichen Vervollkommnung.
(228) Die historische Tendenz seiner Handlungen bestimmt die positive Sittlichkeit des Staatsmanns und Weltbürgers.
(229) Die Araber sind eine höchst polemische Natur, die Annihilanten unter den Nationen. Ihre Liebhaberei, die Originale zu vertilgen oder wegzuwerfen, wenn die Übersetzung fertig war, charakterisiert den Geist ihrer Philosophie. Eben darum waren sie vielleicht unendlich kultivierter, aber bei aller Kultur rein barbarischer als die Europäer des Mittelalters. Barbarisch ist nämlich, was zugleich antiklassisch und antiprogressiv ist.
(230) Die Mysterien des Christianismus mußten durch den unaufhörlichen Streit, in den sie Vernunft und Glauben verwickelten, entweder zur skeptischen Resignation auf alles nicht empirische Wissen oder auf kritischen Idealismus führen.
(231) Der Katholizismus ist das naive Christentum; der Protestantismus ist sentimentaler und hat außer seinem polemischen revolutionären Verdienst auch noch das positive, durch die Vergötterung der Schrift die einer universellen und progressiven Religion auch wesentliche Philologie veranlaßt zu haben. Nur fehlt es dem protestantischen Christentum vielleicht noch an Urbanität. Einige biblische Historien in ein homerisches Epos zu travestieren, andre mit der Offenheit des Herodot und der Strenge des Tacitus im Stil der klassischen Historie darzustellen oder die ganze Bibel als das Werk eines Autors zu rezensieren: das würde allen paradox, vielen ärgerlich, einigen doch unschicklich und überflüssig scheinen. Aber darf irgend etwas wohl überflüssig scheinen, was die Religion liberaler machen könnte?
(232) Da alle Sachen, die recht eins sind, zugleich drei zu sein pflegen, so läßt sich nicht absehen, warum es mit Gott grade anders sein sollte. Gott ist aber nicht bloß ein Gedanke, sondern zugleich auch eine Sache, wie alle Gedanken, die nicht bloße Einbildungen sind.
(233) Die Religion ist meistens nur ein Supplement oder gar ein Surrogat der Bildung, und nichts ist religiös in strengem Sinne, was nicht ein Produkt der Freiheit ist. Man kann also sagen: Je freier, je religiöser; und je mehr Bildung, je weniger Religion.
(234) Es ist sehr einseitig und anmaßend, daß es grade nur einen Mittler geben soll. Für den vollkommnen Christen, dem sich in dieser Rücksicht der einzige Spinoza am meisten nähern dürfte, müßte wohl alles Mittler sein.
(235) Christus ist jetzt verschiedentlich a priori deduziert worden; aber sollte die Madonna nicht ebensoviel Anspruch haben, auch ein ursprüngliches, ewiges, notwendiges Ideal, wenngleich nicht der reinen, doch der weiblichen und männlichen Vernunft zu sein?
(238) Es gibt eine Poesie, deren eins und alles das Verhältnis des Idealen und des Realen ist und die also nach der Analogie der philosophischen Kunstsprache Transzendentalpoesie heißen müßte. Sie beginnt als Satire mit der absoluten Verschiedenheit des Idealen und Realen, schwebt als Elegie in der Mitte und endigt als Idylle mit der absoluten Identität beider. So wie man aber wenig Wert auf eine Transzendentalphilosophie legen würde, die nicht kritisch wäre, nicht auch das Produzierende mit dem Produkt darstellte und im System der transzendentalen Gedanken zugleich eine Charakteristik des transzendentalen Denkens enthielte: so sollte wohl auch jene Poesie die in modernen Dichtern nicht seltnen transzendentalen Materialien und Vorübungen zu einer poetischen Theorie des Dichtungsvermögens mit der künstlerischen Reflexion und schönen Selbstbespiegelung, die sich im Pindar, den lyrischen Fragmenten der Griechen und der alten Elegie, unter den Neuern aber in Goethe findet, vereinigen und in jeder ihrer Darstellungen sich selbst mit darstellen und überall zugleich Poesie und Poesie der Poesie sein.
(239) Bei der Liebe der alexandrinischen und römischen Dichter für schwierigen und unpoetischen Stoff liegt doch der große Gedanke zum Grunde, daß alles poetisiert werden soll: keineswegs als Absicht der Künstler, aber als historische Tendenz der Werke. Und bei der Mischung aller Kunstarten der poetischen Eklektiker des spätem Altertums die Foderung, daß es nur eine Poesie geben solle wie eine Philosophie.
(240) Im Aristophanes ist die Immoralität gleichsam legal, und in den Tragikern ist die Illegalität moralisch.
(242) Wenn jemand die Alten in Masse charakterisieren will, das findet niemand paradox; und doch, so wenig wissen sie meistens, was sie meinen, würde es ihnen auffallen, wenn man behauptete: die alte Poesie sei ein Individuum im strengsten und buchstäblichsten Sinne des Worts, markierter von Physiognomie, origineller an Manieren und konsequenter in ihren Maximen als ganze Summen solcher Phänomene, welche wir in rechtlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen für Personen, ja sogar für Individuen gelten lassen müssen und gelten lassen sollen. Kann man etwas andres charakterisieren als Individuen? Ist, was sich auf einem gewissen gegebnen Standpunkte nicht weiter multiplizieren läßt, nicht ebensogut eine historische Einheit, als was sich nicht weiter dividieren läßt? Sind nicht alle Systeme Individuen wie alle Individuen auch wenigstens im Keime und der Tendenz nach Systeme? Ist nicht alle reale Einheit historisch? Gibt es nicht Individuen, die ganze Systeme von Individuen in sich enthalten?
(244) Die Komödien des Aristophanes sind Kunstwerke, die sich von allen Seiten sehen lassen. Gozzis Dramen haben einen Gesichtspunkt.
(245) Ein Gedicht oder ein Drama, welches der Menge gefallen soll, muß ein wenig von allem haben, eine Art Mikrokosmus sein. Ein wenig Unglück und ein wenig Glück, etwas Kunst und etwas Natur, die gehörige Quantität Tugend und eine gewisse Dosis Laster. Auch Geist muß drin sein nebst Witz, ja sogar Philosophie und vorzüglich Moral, auch Politik mitunter. Hilft ein Ingrediens nicht, so kann vielleicht das andre helfen. Und gesetzt auch, das Ganze könnte nicht helfen, so könnte es doch auch, wie manche darum immer zu lobende Medizin, wenigstens nicht schaden.
(246) Magie, Karikatur und Materialität sind die Mittel, durch welche die moderne Komödie der alten Aristophanischen im Innern wie durch demagogische Popularität im Äußern ähnlich werden kann und im Gozzi bis zur Erinnerung geworden ist. Das Wesen der komischen Kunst aber bleibt immer der enthusiastische Geist und die klassische Form.
(247) Dantes prophetisches Gedicht ist das einzige System der transzendentalen Poesie, immer noch das höchste seiner Art. Shakespeares Universalität ist wie der Mittelpunkt der romantischen Kunst. Goethes rein poetische Poesie ist die vollständigste Poesie der Poesie. Das ist der große Dreiklang der modernen Poesie, der innerste und allerheiligste Kreis unter allen engern und weitern Sphären der kritischen Auswahl der Klassiker der neuern Dichtkunst.
(248) Die einzelnen Großen stehen weniger isoliert unter den Griechen und Römern. Sie hatten weniger Genies, aber mehr Genialität. Alles Antike ist genialisch. Das ganze Altertum ist ein Genius, der einzige, den man ohne Übertreibung absolut groß, einzig und unerreichbar nennen darf.
(249) Der dichtende Philosoph, der philosophierende Dichter ist ein Prophet. Das didaktische Gedicht sollte prophetisch Sein und hat auch Anlage, es zu werden.
(250) Wer Fantasie oder Pathos oder mimisches Talent hat, müßte die Poesie lernen können wie jedes andre Mechanische. Fantasie ist zugleich Begeistrung und Einbildung; Pathos ist Seele und Leidenschaft; Mimik ist Blick und Ausdruck.
(251) Wie viele gibt es nicht jetzt, die zu weich und gutmütig sind, um Tragödien sehen zu können, und zu edel und würdig, um Komödien hören zu wollen. Ein großer Beweis für die zarte Sittlichkeit unsers Jahrhunderts, welches die Französische Revolution nur hat verleumden wollen.
(252) Eine eigentliche Kunstlehre der Poesie würde mit der absoluten Verschiedenheit der ewig unauflöslichen Trennung der Kunst und der rohen Schönheit anfangen. Sie selbst würde den Kampf beider darstellen und mit der vollkommnen Harmonie der Kunstpoesie und Naturpoesie endigen. Diese findet sich nur in den Alten, und sie selbst würde nichts anders sein als eine höhere Geschichte vom Geist der klassischen Poesie. Eine Philosophie der Poesie überhaupt aber würde mit der Selbständigkeit des Schönen beginnen, mit dem Satz, daß es vom Wahren und Sittlichen getrennt sei und getrennt sein solle und daß es mit diesem gleiche Rechte habe; welches für den, der es nur überhaupt begreifen kann, schon aus dem Satz folgt, daß Ich = Ich sei. Sie selbst würde zwischen Vereinigung und Trennung der Philosophie und der Poesie, der Praxis und der Poesie, der Poesie überhaupt und der Gattungen und Arten schweben und mit der völligen Vereinigung enden. Ihr Anfang gäbe die Prinzipien der reinen Poetik, ihre Mitte die Theorie der besondern eigentümlich modernen Dichtarten, der didaktischen, der musikalischen, der rhetorischen im höhern Sinn usw. Eine Philosophie des Romans, deren erste Grundlinien Platos politische Kunstlehre enthält, wäre der Schlußstein. Flüchtigen Dilettanten ohne Enthusiasmus und ohne Belesenheit in den besten Dichtern aller Art freilich müßte eine solche Poetik vorkommen wie einem Kinde, das bildern wollte, ein trigonometrisches Buch. Die Philosophie über einen Gegenstand kann nur der brauchen, der den Gegenstand kennt oder hat; nur der wird begreifen können, was sie will und meint. Erfahrungen und Sinne kann die Philosophie nicht inokulieren oder anzaubern. Sie soll es aber auch nicht wollen. Wer es schon gewußt hat, der erfährt freilich nichts Neues von ihr; doch wird es ihm erst durch sie ein Wissen und dadurch neu von Gestalt.
(253) In dem edleren und ursprünglichen Sinne des Worts korrekt, da es absichtliche Durchbildung und Nebenausbildung des Innersten und Kleinsten im Werke nach dem Geist des Ganzen, praktische Reflexion des Künstlers bedeutet, ist wohl kein moderner Dichter korrekter als Shakespeare. So ist er auch systematisch wie kein andrer: bald durch jene Antithesen, die Individuen, Massen, ja Welten in malerischen Gruppen kontrastieren lassen; bald durch musikalische Symmetrie desselben großen Maßstabes, durch gigantische Wiederholungen und Refrains; oft durch Parodie des Buchstabens und durch Ironie über den Geist des romantischen Drama und immer durch die höchste und vollständigste Individualität und die vielseitigste, alle Stufen der Poesie von der sinnlichsten Nachahmung bis zur geistigsten Charakteristik vereinigende Darstellung derselben.
(255) Je mehr die Poesie Wissenschaft wird, je mehr wird sie auch Kunst. Soll die Poesie Kunst werden, solider Künstler von seinen Mitteln und seinen Zwecken, ihren Hindernissen und ihren Gegenständen gründliche Einsicht und Wissenschaft haben, so muß der Dichter über seine Kunst philosophieren. Soll er nicht bloß Erfinder und Arbeiter, sondern auch Kenner in seinem Fache sein und seine Mitbürger im Reiche der Kunst verstehn können, so muß er auch Philolog werden.
(256) Der Grundirrtum der sophistischen Ästhetik ist der, die Schönheit bloß für einen gegebnen Gegenstand, für ein psychologisches Phänomen zu halten. Sie ist freilich nicht bloß der leere Gedanke von etwas, was hervorgebracht werden soll, sondern zugleich die Sache selbst, eine der ursprünglichen Handlungsweisen des menschlichen Geistes; nicht bloß eine notwendige Fiktion, sondern auch ein Faktum, nämlich ein ewiges, transzendentales.
(258) Alle Poesie, die auf einen Effekt geht, und alle Musik, die der exzentrischen Poesie in ihren komischen oder tragischen Ausschweifungen und Übertreibungen folgen will, um zu wirken und sich zu zeigen, ist rhetorisch.
(259) A.: Fragmente, sagen Sie, wären die eigentliche Form der Universalphilosophie. An der Form liegt nichts. Was können aber solche Fragmente für die größeste und ernsthafteste Angelegenheit der Menschheit, für die Vervollkommnung der Wissenschaft, leisten und sein? – B.: Nichts als ein Lessingsches Salz gegen die geistige Fäulnis, vielleicht eine zynische lanx satura im Stil des alten Lucilius oder Horaz oder gar fermenta cognitionis zur kritischen Philosophie, Randglossen zu dem Text des Zeitalters.
(262) Jeder gute Mensch wird immer mehr und mehr Gott. Gott werden, Mensch sein, sich bilden sind Ausdrücke, die einerlei bedeuten.
(263) Echte Mystik ist Moral in der höchsten Dignität.
(264) Man soll nicht mit allen symphilosophieren wollen, sondern nur mit denen, die à la hauteur sind.
(265) Einige haben Genie zur Wahrheit; viele haben Talent zum Irren. Ein Talent, dem eine ebenso große Industrie zur Seite steht. Wie zu einem Leckerbissen sind oft zu einem einzigen Irrtum die Bestandteile aus allen Weltgegenden des menschlichen Geistes mit unermüdlicher Kunst zusammengeholt.
(266) Könnte es nicht noch vor Abfassung der logischen Konstitution eine provisorische Philosophie geben; und ist nicht alle Philosophie provisorisch, bis die Konstitution durch die Akzeptation sanktioniert ist?
(267) Je mehr man schon weiß, je mehr hat man noch zu lernen. Mit dem Wissen nimmt das Nichtwissen in gleichem Grade zu, oder vielmehr das Wissen des Nichtwissens.
(268) Was man eine glückliche Ehe nennt, verhält sich zur Liebe wie ein korrektes Gedicht zu improvisiertem Gesang.
(270) Leibniz ließ sich bekanntlich Augengläser von Spinoza machen; und das ist der einzige Verkehr, den er mit ihm oder mit seiner Philosophie gehabt hat. Hätte er sich doch auch Augen von ihm machen lassen, um in die ihm unbekannte Weltgegend der Philosophie, wo Spinoza seine Heimat hat, wenigstens aus der Ferne hinüberschauen zu können!
(272) Warum sollte es nicht auch unmoralische Menschen geben dürfen so gut wie unphilosophische und unpoetische? Nur antipolitische oder unrechtliche Menschen können nicht geduldet werden.
(273) Mystik ist, was allein das Auge des Liebenden an dem Geliebten sieht. Jeder mag seine Mystik für sich haben, nur muß er sie auch für sich behalten. Es gibt wohl viele, die das schöne Altertum travestieren, gewiß aber auch einige, die es mystifizieren und also für sich behalten müssen. Beides entfernt von dem Sinn, in dem es rein genossen, und von dem Wege, worauf es zurückgebracht werden kann.
(274) Jede Philosophie der Philosophie, nach der Spinoza kein Philosoph ist, muß verdächtig scheinen.
(275) Sie jammern immer, die deutschen Autoren schrieben nur für einen so kleinen Kreis, ja oft nur für sich selbst untereinander. Das ist recht gut. Dadurch wird die deutsche Literatur immer mehr Geist und Charakter bekommen. Und unterdessen kann vielleicht ein Publikum entstehen.
(276) Leibniz war so sehr Moderantist, daß er auch das Ich und Nicht-Ich, wie Katholizismus und Protestantismus, verschmelzen wollte und Tun und Leiden nur dem Grade nach verschieden hielt. Das heißt die Harmonie chargieren und die Billigkeit bis zur Karikatur treiben.
(277) An die Griechen zu glauben ist eben auch eine Mode des Zeitalters. Sie hören gern genug über die Griechen deklamieren. Kommt aber einer und sagt: »Hier sind welche«, so ist niemand zu Hause.
(278) Vieles, was Dummheit scheint, ist Narrheit, die gemeiner ist, als man denkt. Narrheit ist absolute Verkehrtheit der Tendenz, gänzlicher Mangel an historischem Geist.
(281) Fichtes Wissenschaftslehre ist eine Philosophie über die Materie der Kantischen Philosophie. Von der Form redet er nicht viel, weil er Meister derselben ist. Wenn aber das Wesen der kritischen Methode darin besteht, daß Theorie des bestimmenden Vermögens und System der bestimmten Gemütswirkungen in ihr wie Sache und Gedanken in der prästabilierten Harmonie innigst vereinigt sind: so dürfte er wohl auch in der Form ein Kant in der zweiten Potenz und die Wissenschaftslehre weit kritischer sein, als sie scheint. Vorzüglich die neue Darstellung der Wissenschaftslehre ist immer zugleich Philosophie und Philosophie der Philosophie. Es mag gültige Bedeutungen des Worts kritisch geben, in welchen es nicht auf jede Fichtische Schrift paßt. Aber bei Fichte muß man, wie er selbst, ohne alle Nebenrücksicht nur auf das Ganze sehen und auf das eine, worauf es eigentlich ankommt; nur so kann man die Identität seiner Philosophie mit der Kantischen sehen und begreifen. Auch ist kritisch wohl etwas, was man nie genug sein kann.
(295) Auf die berühmte Preisfrage der Berliner Akademie der Wissenschaften über die Fortschritte der Metaphysik sind Antworten jeder Art erschienen: eine feindliche, eine günstige, eine überflüssige, noch eine, auch eine dramatische und sogar eine sokratische von Hülsen. Ein wenig Enthusiasmus, wenn er auch roh sein sollte, ein gewisser Schein von Universalität verfehlen ihre Wirkung nicht leicht und verschaffen auch wohl dem Paradoxen ein Publikum. Aber der Sinn für reine Genialität ist selbst unter gebildeten Menschen eine Seltenheit. Kein Wunder also, wenn es nur wenige wissen, daß Hülsens Werk eines von denen ist, wie sie in der Philosophie immer sehr selten waren und es auch jetzt noch sind: ein Werk im strengsten Sinne des Worts, ein Kunstwerk, das Ganze aus einem Stück, an dialektischer Virtuosität das nächste nach Fichte, und das eine erste Schrift, die der Veranlassung nach eine Gelegenheitsschrift sein sollte. Hülsen ist seines Gedankens und seines Ausdrucks völlig Meister, er geht sicher und leise; und diese ruhige, hohe Besonnenheit bei dem weitumfassenden Blick und der reinen Humanität ist es eben, was ein historischer Philosoph in seinem antiquarischen und aus der Mode gekommenen Dialekt das Sokratische nennen würde; eine Terminologie, die sich jedoch ein Künstler, der so viel philologischen Geist hat, gefallen lassen muß.
(296) Ungeachtet er so eine idyllische Natur ist, hat Fontenelle doch eine starke Antipathie gegen den Instinkt und vergleicht das reine Talent, welches er für unmöglich hält, mit dem ganz absichtslosen Kunstfleiße der Biber. Wie schwer ist es, sich selbst nicht zu übersehn! Denn wenn Fontenelle sagt: »La gêne fait l'essence et le merite brillant de la poesie«, so scheint's kaum möglich, die französische Poesie mit wenigen Worten besser zu charakterisieren. Aber ein Biber, der Académicien wäre, könnte wohl nicht mit vollkommnerem Unbewußtsein das Rechte treffen.
(297) Gebildet ist ein Werk, wenn es überall scharf begrenzt, innerhalb der Grenzen aber grenzenlos und unerschöpflich ist, wenn es sich selbst ganz treu, überall gleich und doch über sich selbst erhaben ist. Das Höchste und Letzte ist, wie bei der Erziehung eines jungen Engländers, le grand tour. Es muß durch alle drei oder vier Weltteile der Menschheit gewandert sein, nicht um die Ecken seiner Individualität abzuschleifen, sondern um seinen Blick zu erweitern und seinem Geist mehr Freiheit und innre Vielseitigkeit und dadurch mehr Selbständigkeit und Selbstgenügsamkeit zu geben.
(298) Die Orthodoxen unter den Kantianern suchen das Prinzip ihrer Philosophie vergeblich im Kant. Es steht in Bürgers Gedichten und lautet: »Ein Kaiserwort soll man nicht drehn noch deuteln.«
(299) An genialischem Unbewußtsein können die Philosophen, dünkt mich, den Dichtern den Rang recht wohl streitig machen.
(300) Wenn Verstand und Unverstand sich berühren, so gibt es einen elektrischen Schlag. Das nennt man Polemik.
(301) Noch bewundern die Philosophen im Spinoza nur die Konsequenz, wie die Engländer am Shakespeare bloß die Wahrheit preisen.
(302) Vermischte Gedanken sollten die Kartons der Philosophie sein. Man weiß, was diese den Kennern der Malerei gelten. Wer nicht philosophische Welten mit dem Crayon skizzieren, jeden Gedanken, der Physiognomie hat, mit ein paar Federstrichen charakterisieren kann, für den wird die Philosophie nie Kunst und also auch nie Wissenschaft werden. Denn in der Philosophie geht der Weg zur Wissenschaft nur durch die Kunst, wie der Dichter im Gegenteil erst durch Wissenschaft ein Künstler wird.
(303) Immer tiefer zu dringen, immer höher zu steigen ist die Lieblingsneigung der Philosophen. Auch gelingt es, wenn man ihnen aufs Wort glaubt, mit bewundrungswürdiger Schnelligkeit. Mit dem Weiterkommen geht es dagegen langsam genug. Besonders in Rücksicht der Höhe überbieten sie sich ordentlich, wie wenn zwei zugleich auf einer Auktion unbedingte Kommission haben. Vielleicht ist aber alle Philosophie, die philosophisch ist, unendlich hoch und unendlich tief. Oder steht Plato niedriger als die jetzigen Philosophen?
(304) Auch die Philosophie ist das Resultat zwei streitender Kräfte, der Poesie und Praxis. Wo diese sich ganz durchdringen und in eins schmelzen, da entsteht Philosophie; wenn sie sich wieder zersetzt, wird sie Mythologie oder wirft sich ins Leben zurück. Aus Dichtung und Gesetzgebung bildete sich die griechische Weisheit. Die höchste Philosophie, vermuten einige, dürfte wieder Poesie werden; und es ist sogar eine bekannte Erfahrung, daß gemeine Naturen erst nach ihrer Art zu philosophieren anfangen, wenn sie zu leben aufhören. – Diesen chemischen Prozeß des Philosophierens besser darzustellen, womöglich die dynamischen Gesetze desselben ganz ins reine zu bringen und die Philosophie, welche sich immer von neuem organisieren und desorganisieren muß, in ihre lebendigen Grundkräfte zu scheiden und zu ihrem Ursprung zurückzuführen, das halte ich für Sendlings eigentliche Bestimmung. Dagegen scheint mir seine Polemik, besonders aber seine literarische Kritik der Philosophie eine falsche Tendenz zu sein; und seine Anlage zur Universalität ist wohl noch nicht gebildet genug, um in der Philosophie der Physik das finden zu können, was sie da sucht.
(305) Absicht bis zur Ironie und mit willkürlichem Schein von Selbstvernichtung ist ebensowohl naiv als Instinkt bis zur Ironie. Wie das Naive mit den Widersprüchen der Theorie und der Praxis, so spielt das Groteske mit wunderlichen Versetzungen von Form und Materie, liebt den Schein des Zufälligen und Seltsamen und kokettiert gleichsam mit unbedingter Willkür. Humor hat es mit Sein und Nichtsein zu tun, und sein eigentliches Wesen ist Reflexion. Daher seine Verwandtschaft mit der Elegie und allem, was transzendental ist; daher aber auch sein Hochmut und sein Hang zur Mystik des Witzes. Wie Genialität dem Naiven, so ist ernste, reine Schönheit dem Humor notwendig. Er schwebt am liebsten über leicht und klar strömenden Rhapsodien der Philosophie oder der Poesie und flieht schwerfällige Massen und abgerißne Bruchstücke.
(306) Die Geschichte von den Gergesener Säuen ist wohl eine sinnbildliche Prophezeiung von der Periode der Kraftgenies, die sich nun glücklich in das Meer der Vergessenheit gestürzt haben.
(307) Wenn ich meine Antipathie gegen das Katzengeschlecht erkläre, so nehme ich Peter Leberechts gestiefelten Kater aus. Krallen hat er, und wer davon geritzt worden ist, schreit, wie billig, über ihn; andre aber kann es belustigen, wie er gleichsam auf dem Dache der dramatischen Kunst herumspaziert.
(308) Der Denker braucht grade ein solches Licht wie der Maler: hell, ohne unmittelbaren Sonnenschein oder blendende Reflexe, und, wo möglich, von oben herab.
(312) Gegen den Vorwurf, daß die eroberten italienischen Gemälde in Paris übel behandelt würden, hat sich der Säuberer derselben erboten, ein Bild von Carracci halb gereinigt und halb in seinem ursprünglichen Zustande aufzustellen. Ein artiger Einfall! So sieht man bei plötzlichem Lärm auf der Gasse manchmal ein halb rasiertes Gesicht zum Fenster herausgucken; und mit französischer Lebhaftigkeit und Ungeduld betrieben, mag das Säuberungsgeschäft überhaupt viel von der Barbierkunst an sich haben.
(315) Der Ursprung der griechischen Elegie, sagt man, liege in der lydischen Doppelflöte. Sollte er nicht nächst dem auch in der menschlichen Natur zu suchen sein?
(316) Für Empiriker, die sich auch bis zum Streben nach Gründlichkeit und bis zum Glauben an einen großen Mann erheben können, wird die Fichtische Wissenschaftslehre doch nie mehr sein als das dritte Heft von dem »Philosophischen Journal«, die Konstitution.
(317) Wenn nichts zuviel soviel bedeutet als alles ein wenig, so ist Garve der größte deutsche Philosoph.
(318) Heraklit sagte, man lerne die Vernunft nicht durch Vielwisserei. Jetzt scheint es nötiger zu erinnern, daß man durch reine Vernunft allein noch nicht gelehrt werde.
(319) Um einseitig sein zu können, muß man wenigstens eine Seite haben. Dies ist gar nicht der Fall der Menschen, die (gleich echten Rhapsoden nach Platos Charakteristik dieser Gattung) nur für eins Sinn haben, nicht weil es ihr alles, sondern weil es ihr einziges ist, und immer dasselbe absingen. Ihr Geist ist nicht sowohl in enge Grenzen eingeschlossen; er hört vielmehr gleich auf, und wo er aufhört, geht unmittelbar der leere Raum an. Ihr ganzes Wesen ist wie ein Punkt, der aber doch die Ähnlichkeit mit dem Golde hat, daß er sich zu einem unglaublich dünnen Plättchen sehr weit auseinanderschlagen läßt.
(320) Warum fehlt in den modigen Verzeichnissen aller möglichen Grundsätze der Moral immer das Ridiküle? Etwa weil dieses Prinzip nur in der Praxis allgemein gilt?
(321) Über das geringste Handwerk der Alten wird keiner zu urteilen wagen, der es nicht versteht. Über die Poesie und Philosophie der Alten glaubt jeder mitsprechen zu dürfen, der eine Konjektur oder einen Kommentar machen kann oder etwa in Italien gewesen ist. Hier glauben sie einmal dem Instinkt zuviel: denn übrigens mag es wohl eine Foderung der Vernunft sein, daß jeder Mensch ein Poet und ein Philosoph sein solle, und die Foderungen der Vernunft, sagt man, ziehen den Glauben nach sich. Man könnte diese Gattung des Naiven das philologische Naive nennen.
(322) Das beständige Wiederholen des Themas in der Philosophie entspringt aus zwei verschiedenen Ursachen. Entweder der Autor hat etwas entdeckt, er weiß aber selbst noch nicht recht, was; und in diesem Sinne sind Kants Schriften musikalisch genug. Oder er hat etwas Neues gehört, ohne es gehörig zu vernehmen, und in diesem Sinne sind die Kantianer die größten Tonkünstler der Literatur.
(323) Daß ein Prophet nicht in seinem Vaterlande gilt, ist wohl der Grund, warum kluge Schriftsteller es so häufig vermeiden, ein Vaterland im Gebiete der Künste und Wissenschaften zu haben. Sie legen sich lieber aufs Reisen, Reisebeschreibungen oder aufs Lesen und Übersetzen von Reisebeschreibungen und erhalten das Lob der Universalität.
(324) Alle Gattungen sind gut, sagt Voltaire, ausgenommen die langweilige Gattung. Aber welches ist denn nun die langweilige Gattung? Sie mag größer sein als alle andern, und viele Wege mögen dahin führen. Der kürzeste ist wohl, wenn ein Werk nicht weiß, zu welcher Gattung es gehören will oder soll. Sollte Voltaire diesen Weg nie gegangen sein?
(325) Wie Simonides die Poesie eine redende Malerei und die Malerei eine stumme Poesie nannte, so könnte man sagen, die Geschichte sei eine werdende Philosophie und die Philosophie eine vollendete Geschichte. Aber Apoll, der nicht verschweigt und nicht sagt, sondern andeutet, wird nicht mehr verehrt, und wo sich eine Muse sehen läßt, wollen sie sie gleich zu Protokoll vernehmen. Wie übel verfährt selbst Lessing mit jenem schönen Wort des geistvollen Griechen, der vielleicht keine Gelegenheit hatte, an descriptive poetry zu denken, und dem es sehr überflüssig scheinen mußte, daran zu erinnern, daß die Poesie auch eine geistige Musik sei, da er keine Vorstellung davon hatte, daß beide Künste getrennt sein könnten.
(326) Wenn gemeine Menschen, ohne Sinn für die Zukunft, einmal von der Wut des Fortschreitens ergriffen werden, treiben sie's auch recht buchstäblich. Den Kopf voran und die Augen zu, schreiten sie in alle Welt, als ob der Geist Arme und Beine hätte. Wenn sie nicht etwa den Hals brechen, so erfolgt gewöhnlich eins von beiden: entweder sie werden stätisch, oder sie machen linksum. Mit den letzten muß man's machen wie Caesar, der die Gewohnheit hatte, im Gedränge der Schlacht flüchtig gewordene Krieger bei der Kehle zu packen und mit dem Gesicht gegen die Feinde zu kehren.
(327) Virtuosen in verwandten Gattungen verstehn sich oft am wenigsten, und auch die geistige Nachbarschaft pflegt Feindseligkeiten zu veranlassen. So findet man nicht selten, daß edle und gebildete Menschen, die alle göttlich dichten, denken oder leben, deren jeder aber sich der Gottheit auf einem andern Wege nähert, einander die Religion absprechen, gar nicht um der Partei oder des Systems willen, sondern aus Mangel an Sinn für religiöse Individualität. Die Religion ist schlechthin groß wie die Natur, der vortrefflichste Priester hat doch nur ein klein Stück davon. Es gibt unendlich viel Arten derselben, die sich jedoch von selbst unter einige Hauptrubriken zu ordnen scheinen. Einige haben am meisten Talent für die Anbetung des Mittlers, für Wunder und Gesichte. Das sind die, welche der gemeine Mann, wie es kommt, Schwärmer oder Poeten nennt. Ein andrer weiß vielleicht mehr von Gott dem Vater und versteht sich auf Geheimnisse und Weissagungen. Dieser ist ein Philosoph und wird, wie der Gesunde von der Gesundheit, nicht viel von der Religion reden, am wenigsten von seiner eignen. Andre glauben an den Heiligen Geist und was dem anhängt, Offenbarungen, Eingebungen usw., an sonst aber niemand. Das sind künstlerische Naturen. Es ist ein sehr natürlicher, ja fast unvermeidlicher Wunsch, alle Gattungen der Religion in sich vereinigen zu wollen. In der Ausführung ist's damit aber ungefähr wie mit der Vermischung der Dichtarten. Wer aus wahrem Instinkt zugleich an den Mittler und an den Heiligen Geist glaubt, pflegt schon die Religion als isolierte Kunst zu treiben; welches eine der mißlichsten Professionen ist, die ein ehrlicher Mann treiben kann. Wie müßte es erst einem ergehn, der an alle drei glaubt!
(332) Unter den Menschen, die mit der Zeit fortgehn, gibt es manche, welche, wie die fortlaufenden Kommentare, bei den schwierigen Stellen nicht stillstehn wollen.
(333) Gott ist nach Leibniz wirklich, weil nichts seine Möglichkeit verhindert. In dieser Rücksicht ist Leibnizens Philosophie recht gottähnlich.
(339) Sinn, der sich selbst sieht, wird Geist; Geist ist innre Geselligkeit, Seele ist verborgene Liebenswürdigkeit. Aber die eigentliche Lebenskraft der innern Schönheit und Vollendung ist das Gemüt. Man kann etwas Geist haben ohne Seele und viel Seele bei weniger Gemüt. Der Instinkt der sittlichen Größe aber, den wir Gemüt nennen, darf nur sprechen lernen, so hat er Geist. Er darf sich nur regen und lieben, so ist er ganz Seele; und wann er reif ist, hat er Sinn für alles. Geist ist wie eine Musik von Gedanken; wo Seele ist, da haben auch die Gefühle Umriß und Gestalt, edles Verhältnis und reizendes Kolorit. Gemüt ist die Poesie der erhabenen Vernunft, und durch Vereinigung mit Philosophie und sittlicher Erfahrung entspringt aus ihm die namenlose Kunst, welche das verworrne, flüchtige Leben ergreift und zur ewigen Einheit bildet.
(342) Es ist schön, wenn ein schöner Geist sich selbst anlächelt, und der Augenblick, in welchem eine große Natur sich mit Ruhe und Ernst betrachtet, ist ein erhabener Augenblick. Aber das Höchste ist, wenn zwei Freunde zugleich ihr Heiligstes in der Seele des andern klar und vollständig erblicken und, ihres Wertes gemeinschaftlich froh, ihre Schranken nur durch die Ergänzung des andern fühlen dürfen. Es ist die intellektuale Anschauung der Freundschaft.
(343) Wenn man ein interessantes philosophisches Phänomen und dabei ein ausgezeichneter Schriftsteller ist, so kann man sicher auf den Ruhm eines großen Philosophen rechnen. Oft erhält man ihn auch ohne die letzte Bedingung.
(344) Philosophieren heißt, die Allwissenheit gemeinschaftlich suchen.
(345) Es wäre zu wünschen, daß ein transzendentaler Linné die verschiedenen Ichs klassifizierte und eine recht genaue Beschreibung derselben allenfalls mit illuminierten Kupfern herausgäbe, damit das philosophierende Ich nicht mehr so oft mit dem philosophierten Ich verwechselt würde.
(346) Der gepriesne Salto mortale der Philosophen ist oft nur ein blinder Lärm. Sie nehmen in Gedanken einen erschrecklichen Anlauf und wünschen sich Glück zu der überstandnen Gefahr; sieht man aber nur etwas genau zu, so sitzen sie immer auf dem alten Fleck. Es ist Don Quixotes Luftreise auf dem hölzernen Pferde. Auch Jacobi scheint mir zwar nie ruhig werden zu können, aber doch immer da zu bleiben, wo er ist: in der Klemme zwischen zwei Arten von Philosophie, der systematischen und der absoluten, zwischen Spinoza und Leibniz, wo sich sein zarter Geist etwas wund gedrückt hat.
(347) Es ist noch ungleich gewagter anzunehmen, daß jemand ein Philosoph sei, als zu behaupten, daß jemand ein Sophist sei: soll das letzte nie erlaubt sein, so kann das erste noch weniger gelten.
(348) Es gibt Elegien von der heroisch kläglichen Art, die man so erklären könnte: es sind die Empfindungen der Jämmerlichkeit bei den Gedanken der Albernheit von den Verhältnissen der Plattheit zur Tollheit.
(357) Von einer guten Bibel fodert Lessing Anspielungen, Fingerzeige, Vorübungen; er billigt auch die Tautologien, welche den Scharfsinn üben, die Allegorien und Exempel, welche das Abstrakte lehrreich einkleiden; und er hat das Zutrauen, die geoffenbarten Geheimnisse seien bestimmt, in Vernunftwahrheiten ausgebildet zu werden. Welches Buch hätten die Philosophen nach diesem Ideal wohl schicklicher zu ihrer Bibel wählen können als die »Kritik der reinen Vernunft«?
(358) Leibniz bedient sich einmal, indem er das Wesen und Tun einer Monade beschreibt, des merkwürdigen Ausdrucks: »Cela peut aller jusqu'au sentiment.« Dies möchte man auf ihn selbst anwenden. Wenn jemand die Physik universeller macht, sie als ein Stück Mathematik und diese als ein Charadenspiel behandelt und dann sieht, daß er die Theologie dazu nehmen muß, deren Geheimnisse seinen diplomatischen und deren verwickelte Streitfragen seinen chirurgischen Sinn anlocken: cela peut aller jusqu'à la philosophie, wenn er noch soviel Instinkt hat als Leibniz. Aber eine solche Philosophie wird doch immer nur ein konfuses, unvollständiges Etwas bleiben, wieder Urstoff nach Leibniz sein soll, der nach Art der Genies die Form seines Innern einzelnen Gegenständen der Außenwelt anzudichten pflegt.
(359) Freundschaft ist partiale Ehe, und Liebe ist Freundschaft von allen Seiten und nach allen Richtungen, universelle Freundschaft. Das Bewußtsein der notwendigen Grenzen ist das Unentbehrlichste und das Seltenste in der Freundschaft.
(360) Wenn eine Kunst die schwarze Kunst heißen sollte, so wäre es die, den Unsinn flüssig, klar und beweglich zu machen und ihn zur Masse zu bilden. Die Franzosen haben Meisterwerke der Gattung aufzuweisen. Alles große Unheil ist seinem innersten Grunde nach eine ernsthafte Fratze, eine mauvaise plaisanterie. Heil und Ehre also den Helden, die nicht müde werden, gegen die Torheit zu kämpfen, deren Unscheinbarstes oft den Keim zu einer endlosen Reihe ungeheurer Verwüstungen in sich trägt! Lessing und Fichte sind die Friedensfürsten der künftigen Jahrhunderte.
(361) Leibniz sieht die Existenz an wie eine Hofcharge, die man zu Lehn haben muß. Sein Gott ist nicht nur Lehnsherr der Existenz, sondern er besitzt auch als Regale allein Freiheit, Harmonie, synthetisches Vermögen. Ein fruchtbarer Beischlaf ist die Expedition eines Adelsdiploms für eine schlummernde Monade aus der göttlichen geheimen Kanzlei.
(363) Das Geliebte zu vergöttern ist die Natur des Liebenden. Aber ein andres ist es, mit gespannter Imagination ein fremdes Bild unterschieben und eine reine Vollkommenheit anstaunen, die uns nur darum als solche erscheint, weil wir noch nicht gebildet genug sind, um die unendliche Fülle der menschlichen Natur zu begreifen und die Harmonie ihrer Widersprüche zu verstehn. Laura war des Dichters Werk. Dennoch konnte die wirkliche Laura ein Weib sein, aus der ein nicht so einseitiger Schwärmer etwas weniger und etwas mehr als eine Heilige gemacht hätte.
(365) Die Mathematik ist gleichsam eine sinnliche Logik, sie verhält sich zur Philosophie wie die materiellen Künste, Musik und Plastik, zur Poesie.
(366) Verstand ist mechanischer, Witz ist chemischer, Genie ist organischer Geist.
(367) Man glaubt, Autoren oft durch Vergleichungen mit dem Fabrikwesen zu schmähen. Aber soll der wahre Autor nicht auch Fabrikant sein? Soll er nicht sein ganzes Leben dem Geschäft widmen, literarische Materie in Formen zu bilden, die auf eine große Art zweckmäßig und nützlich sind? Wie sehr wäre manchem Pfuscher nur ein geringer Teil von dem Fleiß und der Sorgfalt zu wünschen, die wir an den gemeinsten Werkzeugen kaum noch achten!
(368) Es gab und gibt schon Ärzte, die über ihre Kunst zu philosophieren wünschen. Die Kaufleute allein machen nicht einmal diese Prätension und sind recht altfränkisch bescheiden.
(369) Der Deputierte ist etwas ganz anders als der Repräsentant. Repräsentant ist nur, wer das politische Ganze in seiner Person, gleichsam identisch mit ihm, darstellt, er mag nun gewählt sein oder nicht; er ist wie die sichtbare Weltseele des Staats. Diese Idee, welche offenbar nicht selten der Geist der Monarchien war, ist vielleicht nirgends so rein und konsequent ausgeführt wie zu Sparta. Die spartanischen Könige waren zugleich die ersten Priester, Feldherren und Präsidenten der öffentlichen Erziehung. Mit der eigentlichen Administration hatten sie wenig zu schaffen; sie waren eben nichts als Könige im Sinne jener Idee. Die Gewalt des Priesters, des Feldherrn und des Erziehers ist ihrer Natur nach unbestimmt, universell, mehr oder weniger ein rechtlicher Despotismus. Nur durch den Geist der Repräsentation kann er gemildert und legitimiert werden.
(370) Sollte nicht das eine absolute Monarchie sein, wo alles Wesentliche durch ein Kabinett im Geheim geschieht und wo ein Parlament über die Formen mit Pomp öffentlich reden und streiten darf? Eine absolute Monarchie könnte sonach sehr gut eine Art von Konstitution haben, die Unverständigen wohl gar republikanisch schiene.
(372) In den Werken der größten Dichter atmet nicht selten der Geist einer andern Kunst. Sollte dies nicht auch bei Malern der Fall sein; malt nicht Michelangelo in gewissem Sinne wie ein Bildhauer, Raffael wie ein Architekt, Correggio wie ein Musiker? Und gewiß würden sie darum nicht weniger Maler sein als Tizian, weil dieser bloß Maler war.
(373) Die Philosophie war bei den Alten in ecclesia pressa, die Kunst bei den Neuern; die Sittlichkeit aber war noch überall im Gedränge, die Nützlichkeit und die Rechtlichkeit mißgönnen ihr sogar die Existenz.
(374) Sieht man nicht auf Voltaires Behandlung, sondern bloß auf die Meinung des Buchs, das Weltall persiflieren sei Philosophie und eigentlich das Rechte: so kann man sagen, die französischen Philosophen machen es mit dem »Candide« wie die Weiber mit der Weiblichkeit; sie bringen ihn überall an.
(375) Grade die Energie hat am wenigsten das Bedürfnis, zu zeigen, was sie kann. Fodern es die Umstände, so mag sie gern Passivität scheinen und verkannt werden. Sie ist zufrieden, im stillen zu wirken ohne Akkompagnement und ohne Gestikulation. Der Virtuose, der genialische Mensch will einen bestimmten Zweck durchsetzen, ein Werk bilden usw. Der energische Mensch benutzt immer nur den Moment und ist überall bereit und unendlich biegsam. Er hat unermeßlich viel Projekte oder gar keins: denn Energie ist zwar mehr als bloße Agilität, es ist wirkende, bestimmt nach außen wirkende Kraft, aber universelle Kraft, durch die der ganze Mensch sich bildet und handelt.
(376) Die passiven Christen betrachten die Religion meistens aus einem medizinischen, die aktiven aus einem merkantilischen Gesichtspunkte.
(377) Hat der Staat denn ein Recht, Wechsel aus reiner Willkür gültiger zu heiligen als andre Verträge und dadurch diese ihrer Majestät zu entsetzen?
(379) Der Satan der italienischen und engländischen Dichter mag poetischer sein: aber der deutsche Satan ist satanischer; und insofern könnte man sagen, der Satan sei eine deutsche Erfindung. Gewiß ist er ein Favorit deutscher Dichter und Philosophen. Er muß also wohl auch sein Gutes haben, und wenn sein Charakter in der unbedingten Willkürlichkeit und Absichtlichkeit und in der Liebhaberei am Vernichten, Verwirren und Verführen besteht, so findet man ihn unstreitig nicht selten in der schönsten Gesellschaft. Aber sollte man sich bisher nicht in den Dimensionen vergriffen haben? Ein großer Satan hat immer etwas Ungeschlachtes und Vierschrötiges; er paßt höchstens nur für die Prätensionen auf Ruchlosigkeit solcher Karikaturen, die nichts können und mögen, als Verstand affektieren. Warum fehlen die Satanisken in der christlichen Mythologie? Es gibt vielleicht kein angemeßneres Wort und Bild für gewisse Bosheiten en miniature, deren Schein die Unschuld liebt, und für jene reizend groteske Farbenmusik des erhabensten und zartesten Mutwillens, welche die Oberfläche der Größe so gern zu umspielen pflegt. Die alten Amorinen sind nur eine andre Race dieser Satanisken.
(381) Viele der ersten Stifter der modernen Physik müssen gar nicht als Philosophen, sondern als Künstler betrachtet werden.
(382) Der Instinkt spricht dunkel und bildlich. Wird er mißverstanden, so entsteht eine falsche Tendenz. Das widerfährt Zeitaltern und Nationen nicht seltener als Individuen.
(383) Es gibt eine Art von Witz, den man wegen seiner Gediegenheit, Ausführlichkeit und Symmetrie den architektonischen nennen möchte. Äußert er sich satirisch, so gibt das die eigentlichen Sarkasmen. Er muß ordentlich systematisch sein, und doch auch wieder nicht; bei aller Vollständigkeit muß dennoch etwas zu fehlen scheinen, wie abgerissen. Dieses Barocke dürfte wohl eigentlich den großen Stil im Witz erzeugen. Es spielt eine wichtige Rolle in der Novelle: denn eine Geschichte kann doch nur durch eine solche einzig schöne Seltsamkeit ewig neu bleiben. Dahin scheint die wenig verstandne Absicht der »Unterhaltungen der Ausgewanderten« zu gehn. Wunder nimmt's gewiß niemand, daß der Sinn für reine Novellen fast nicht mehr existiert. Doch wäre es nicht übel, ihn wieder zu erwecken, da man unter andern die Form der Shakespeareschen Dramen ohne das wohl nie begreifen wird.
(384) Jeder Philosoph hat seine veranlassende Punkte, die ihn nicht selten real beschränken, an die er sich akkommodiert usw. Da bleiben denn dunkle Stellen im System für den, welcher es isoliert und die Philosophie nicht historisch und im Ganzen studiert. Manche verwickelte Streitfragen der modernen Philosophie sind wie die Sagen und Götter der alten Poesie. Sie kommen in jedem System wieder, aber immer verwandelt.
(385) In den Handlungen und Bestimmungen, welche der gesetzgebenden, ausübenden oder richterlichen Gewalt zur Erreichung ihrer Zwecke unentbehrlich sind, kommt oft etwas absolut Willkürliches vor, welches unvermeidlich ist und sich aus dem Begriff jener Gewalten nicht ableiten läßt, wozu sie also für sich nicht berechtigt scheinen. Ist die Befugnis dazu nicht etwa von der konstitutiven Gewalt entlehnt, die daher auch notwendig ein Veto haben müßte, nicht bloß ein Recht des Interdikts? Geschehn nicht alle absolut willkürlichen Bestimmungen im Staat kraft der konstitutiven Gewalt?
(386) Der platte Mensch beurteilt alle andre Menschen wie Menschen, behandelt sie aber wie Sachen und begreift es durchaus nicht, daß sie andre Menschen sind als er.
(387) Man betrachtet die kritische Philosophie immer so, als ob sie vom Himmel gefallen wäre. Sie hätte auch ohne Kant in Deutschland entstehn müssen und es auf viele Weisen können. Doch ist's so besser.
(388) Transzendental ist, was in der Höhe ist, sein soll und kann: transzendent ist, was in die Höhe will und nicht kann oder nicht soll. Es wäre Lästerung und Unsinn zu glauben, die Menschheit könne ihren Zweck überschreiten, ihre Kräfte überspringen, oder die Philosophie dürfe irgend etwas nicht, was sie will und also soll.
(389) Wenn jede rein willkürliche oder rein zufällige Verknüpfung von Form und Materie grotesk ist: so hat auch die Philosophie Grotesken wie die Poesie; nur weiß sie weniger darum und hat den Schlüssel zu ihrer eignen esoterischen Geschichte noch nicht finden können. Sie hat Werke, die ein Gewebe von moralischen Dissonanzen sind, aus denen man die Desorganisation lernen könnte, oder wo die Konfusion ordentlich konstruiert und symmetrisch ist. Manches philosophische Kunstchaos der Art hat Festigkeit genug gehabt, eine gotische Kirche zu überleben. In unserem Jahrhundert hat man auch in den Wissenschaften leichter gebaut, obgleich nicht weniger grotesk. Es fehlt der Literatur nicht an chinesischen Gartenhäusern. So zum Beispiel die engländische Kritik, die doch nichts enthält als eine Anwendung der Philosophie des gesunden Menschenverstandes, die selbst nur eine Versetzung der Naturphilosophie und Kunstphilosophie ist, auf die Poesie ohne Sinn für die Poesie. Denn von Sinn für die Poesie findet sich in Harris, Home und Johnson, den Koryphäen der Gattung, auch nicht die schamhafteste Andeutung.
(390) Es gibt rechtliche und angenehme Leute, die den Menschen und das Leben so betrachten und besprechen, als ob von der besten Schafzucht oder vom Kaufen und Verkaufen der Güter die Rede wäre. Es sind die Ökonomen der Moral, und eigentlich behält wohl alle Moral ohne Philosophie auch bei großer Welt und hoher Poesie immer einen gewissen illiberalen und ökonomischen Anstrich. Einige Ökonomen bauen gern, andre flicken lieber, andre müssen immer etwas bringen, andre treiben, andre versuchen alles und halten sich überall an, andre legen immer zurecht und machen Fächer, andre sehen zu und machen nach. Alle Nachahmer in der Poesie und Philosophie sind eigentlich verlaufne Ökonomen. Jeder Mensch hat seinen ökonomischen Instinkt, der gebildet werden muß, so gut wie auch die Orthographie und die Metrik gelernt zu werden verdienen. Aber es gibt ökonomische Schwärmer und Pantheisten, die nichts achten als die Notdurft und sich über nichts freuen als über ihre Nützlichkeit. Wo sie hinkommen, wird alles platt und handwerksmäßig, selbst die Religion, die Alten und die Poesie, die auf ihrer Drechselbank nichts edler ist als Flachshecheln.
(391) Lesen heißt, den philologischen Trieb befriedigen, sich selbst literarisch affizieren. Aus reiner Philosophie oder Poesie ohne Philologie kann man wohl nicht lesen.
(392) Viele musikalische Kompositionen sind nur Übersetzungen des Gedichts in die Sprache der Musik.
(393) Um aus den Alten ins Moderne vollkommen übersetzen zu können, müßte der Übersetzer desselben so mächtig sein, daß er allenfalls alles Moderne machen könnte, zugleich aber das Antike so verstehn, daß er's nicht bloß nachmachen, sondern allenfalls wiederschaffen könnte.
(394) Es ist ein großer Irrtum, den Witz bloß auf die Gesellschaft einschränken zu wollen. Die besten Einfälle machen durch ihre zermalmende Kraft, ihren unendlichen Gehalt und ihre klassische Form oft einen unangenehmen Stillstand im Gespräch. Eigentlichen Witz kann man sich doch nur geschrieben denken, wie Gesetze; man muß seine Produkte nach dem Gewicht würdigen, wie Cäsar die Perlen und Edelsteine in der Hand sorgfältig gegeneinander abwog. Der Wert steigt mit der Größe ganz unverhältnismäßig; und manche, die bei einem enthusiastischen Geist und barockem Äußern noch beseelte Akzente, frisches Kolorit und eine gewisse kristallne Durchsichtigkeit haben, die man mit dem Wasser der Diamanten vergleichen möchte, sind gar nicht mehr zu taxieren.
(395) In der wahren Prosa muß alles unterstrichen sein.
(396) Karikatur ist eine passive Verbindung des Naiven und Grotesken. Der Dichter kann sie ebensowohl tragisch als komisch gebrauchen.
(397) Da die Natur und die Menschheit sich so oft und so schneidend widersprechen, darf die Philosophie es vielleicht nicht vermeiden, dasselbe zu tun.
(398) Der Mystizismus ist die mäßigste und wohlfeilste aller philosophischen Rasereien. Man darf ihm nur einen einzigen absoluten Widerspruch kreditieren, er weiß alle Bedürfnisse damit zu bestreiten und kann noch großen Luxus treiben.
(399) Polemische Totalität ist zwar eine notwendige Folge aus der Annahme und Foderung unbedingter Mitteilbarkeit und Mitteilung und kann wohl die Gegner vollkommen vernichten, ohne jedoch die Philosophie ihres Eigentümers hinreichend zu legitimieren, solange sie bloß nach außen gerichtet ist. Nur wenn sie auch auf das Innere angewandt wäre, wenn eine Philosophie ihren Geist selbst kritisierte und ihren Buchstaben auf dem Schleifstein und mit der Feile der Polemik selbst bildete, könnte sie zu logischer Korrektheit führen.
(400) Es gibt noch gar keinen Skeptizismus, der den Namen verdient. Ein solcher müßte mit der Behauptung und Foderung unendlich vieler Widersprüche anfangen und endigen. Daß Konsequenz in ihm vollkommne Selbstvernichtung nach sich ziehen würde, ist nichts Charakteristisches. Das hat diese logische Krankheit mit aller Unphilosophie gemein. Respekt vor der Mathematik und Appellieren an den gesunden Menschenverstand sind die diagnostischen Zeichen des halben, unechten Skeptizismus.
(401) Um jemand zu verstehn, der sich selbst nur halb versteht, muß man ihn erst ganz und besser als er selbst, dann aber auch nur halb und grade so gut wie er selbst verstehn.
(402) Bei der Frage von der Möglichkeit, die alten Dichter zu übersetzen, kömmt's eigentlich darauf an, ob das treu, aber in das reinste Deutsch Übersetzte nicht etwa immer noch griechisch sei. Nach dem Eindruck auf die Laien, welche am meisten Sinn und Geist haben, zu urteilen, sollte man das vermuten.
(403) Die echte Rezension sollte die Auflösung einer kritischen Gleichung, das Resultat und die Darstellung eines philologischen Experiments und einer literarischen Recherche sein.
(404) Zur Philologie muß man geboren sein, wie zur Poesie und zur Philosophie. Es gibt keinen Philologen ohne Philologie in der ursprünglichsten Bedeutung des Worts, ohne grammatisches Interesse. Philologie ist ein logischer Affekt, das Seitenstück der Philosophie, Enthusiasmus für chemische Erkenntnis: denn die Grammatik ist doch nur der philosophische Teil der universellen Scheidungs- und Verbindungskunst. Durch die kunstmäßige Ausbildung jenes Sinns entsteht die Kritik, deren Stoff nur das Klassische und schlechthin Ewige sein kann, was nie ganz verstanden werden mag: sonst würden die Philologen, an deren meisten man die gewöhnlichsten und sichersten Merkmale der unwissenschaftlichen Virtuosität wahrnimmt, ihre Geschicklichkeit ebenso gern an jedem andern Stoff zeigen als an den Werken des Altertums, für das sie in der Regel weder Interesse noch Sinn haben. Doch ist diese notwendige Beschränktheit um so weniger zu tadeln oder zu beklagen, da auch hier die künstlerische Vollendung allein zur Wissenschaft führen und die bloß formelle Philologie einer materialen Altertumslehre und einer humanen Geschichte der Menschheit nähern muß. Besser als eine sogenannte Anwendung der Philosophie auf die Philologie im gewöhnlichen Stil derer, welche die Wissenschaften mehr kompilieren als kombinieren. Die einzige Art, die Philosophie auf die Philologie oder, welches noch weit nötiger ist, die Philologie auf die Philosophie anzuwenden, ist, wenn man zugleich Philolog und Philosoph ist. Doch auch ohne das kann die philologische Kunst ihre Ansprüche behaupten. Sich ausschließlich der Entwicklung eines ursprünglichen Triebes zu widmen ist so würdig und so weise wie das Beste und das Höchste, was der Mensch nur immer zum Geschäft seines Lebens wählen kann.
(406) Wenn jedes unendliche Individuum Gott ist, so gibt's so viele Götter als Ideale. Auch ist das Verhältnis des wahren Künstlers und des wahren Menschen zu seinen Idealen durchaus Religion. Wem dieser innre Gottesdienst Ziel und Geschäft des ganzen Lebens ist, der ist Priester, und so kann und soll es jeder werden.
(408) Niedliche Gemeinheit und gebildete Unart heißt in der Sprache des feinen Umgangs Delikatesse.
(409) Um sittlich zu heißen, müssen Empfindungen nicht bloß schön, sondern auch weise, im Zusammenhange ihres Ganzen zweckmäßig, im höchsten Sinne schicklich sein.
(410) Alltäglichkeit, Ökonomie ist das notwendige Supplement aller nicht schlechthin universellen Naturen. Oft verliert sich das Talent und die Bildung ganz in diesem umgebenden Element.
(411) Das wissenschaftliche Ideal des Christianismus ist eine Charakteristik der Gottheit mit unendlich vielen Variationen.
(412) Ideale, die sich für unerreichbar halten, sind eben darum nicht Ideale, sondern mathematische Phantome des bloß mechanischen Denkens. Wer Sinn fürs Unendliche hat und weiß, was er damit will, sieht in ihm das Produkt sich ewig scheidender und mischender Kräfte, denkt sich seine Ideale wenigstens chemisch und sagt, wenn er sich entschieden ausdrückt, lauter Widersprüche. So weit scheint die Philosophie des Zeitalters gekommen zu sein, nicht aber die Philosophie der Philosophie: denn auch chemische Idealisten haben doch nicht selten nur ein einseitiges mathematisches Ideal des Philosophierens. Ihre Thesen darüber sind ganz wahr, d. h. philosophisch: aber die Antithesen dazu fehlen. Eine Physik der Philosophie scheint noch nicht an der Zeit zu sein, und nur der vollendete Geist könnte Ideale organisch denken.
(413) Ein Philosoph muß von sich selbst reden so gut wie ein lyrischer Dichter.
(414) Gibt's eine unsichtbare Kirche, so ist es die jener großen Paradoxie, die von der Sittlichkeit unzertrennlich ist und von der bloß philosophischen noch sehr unterschieden werden muß. Menschen, die so exzentrisch sind, im vollen Ernst tugendhaft zu sein und zu werden, verstehn sich überall, finden sich leicht und bilden eine stille Opposition gegen die herrschende Unsittlichkeit, die eben für Sittlichkeit gilt. Ein gewisser Mystizismus des Ausdrucks, der bei einer romantischen Fantasie und mit grammatischem Sinn verbunden, etwas sehr Reizendes und etwas sehr Gutes sein kann, dient ihnen oft als Symbol ihrer schönen Geheimnisse.
(415) Sinn für Poesie oder Philosophie hat der, für den sie ein Individuum ist.
(416) Zur Philosophie gehören, je nachdem man es nimmt, entweder gar keine oder alle Sachkenntnisse.
(417) Man soll niemanden zur Philosophie verführen oder bereden wollen.
(418) Auch nach den gewöhnlichsten Ansichten ist es Verdienst genug, um einen Roman berühmt zu machen, wenn ein durchaus neuer Charakter darin auf eine interessante Art dargestellt und ausgeführt wird. Dies Verdienst hat »William Lovell« unleugbar, und daß alles Nebenwerk und Gerüste darin gemein oder mißglückt ist, wie der große Machinist im Hintergrunde des Ganzen, daß das Ungewöhnliche darin oft nur ein umgekehrtes Gewöhnliches ist, hätte ihm wohl nicht geschadet: aber der Charakter war unglücklicherweise poetisch. Lovell ist wie seine nur etwas zu wenig unterschiedene Variation Balder ein vollkommner Fantast in jedem guten und in jedem schlechten, in jedem schönen und in jedem häßlichen Sinne des Worts. Das ganze Buch ist ein Kampf der Prosa und der Poesie, wo die Prosa mit Füßen getreten wird und die Poesie über sich selbst den Hals bricht. Übrigens hat es den Fehler mancher ersten Produkte: es schwankt zwischen Instinkt und Absicht, weil es von beiden nicht genug hat. Daher die Wiederholungen, wodurch die Darstellung der erhabenen Langenweile zuweilen in Mitteilung Übergehn kann. Hier liegt der Grund, warum die absolute Fantasie in diesem Roman auch von Eingeweihten der Poesie verkannt und als bloß sentimental verachtet werden mag, während dem vernünftigen Leser, der für sein Geld mäßig gerührt zu werden verlangt, das Sentimentale darin keineswegs zusagt und sehr furios dünkt. So tief und ausführlich hat Tieck vielleicht noch keinen Charakter wieder dargestellt. Aber der »Sternbald« vereinigt den Ernst und Schwung des »Lovell« mit der künstlerischen Religiosität des »Klosterbruders« und mit allem, was in den poetischen Arabesken, die er aus alten Märchen gebildet, im Ganzen genommen das Schönste ist: die fantastische Fülle und Leichtigkeit, der Sinn für Ironie und besonders die absichtliche Verschiedenheit und Einheit des Kolorits. Auch hier ist alles klar und transparent, und der romantische Geist scheint angenehm über sich selbst zu fantasieren.
(419) Die Welt ist viel zu ernsthaft, aber der Ernst ist doch selten genug. Ernst ist das Gegenteil von Spiel. Der Ernst hat einen bestimmten Zweck, den wichtigsten unter allen möglichen; er kann nicht tändeln und kann sich nicht täuschen; er verfolgt sein Ziel unermüdet, bis er es ganz erreicht hat. Dazu gehört Energie, Geisteskraft von schlechthin unbegrenzter Extension und Intension. Gibt es keine absolute Höhe und Weite für den Menschen, so ist das Wort Größe in sittlicher Bedeutung überflüssig. Ernst ist Größe in Handlung. Groß ist, was zugleich Enthusiasmus und Genialität hat, was zugleich göttlich und vollendet ist. Vollendet ist, was zugleich natürlich und künstlich ist. Göttlich ist, was aus der Liebe zum reinen ewigen Sein und Werden quillt, die höher ist als alle Poesie und Philosophie. Es gibt eine ruhige Göttlichkeit ohne die zermalmende Kraft des Helden und die bildende Tätigkeit des Künstlers. Was zugleich göttlich, vollendet und groß ist, ist vollkommen.
(420) Ob eine gebildete Frau, bei der von Sittlichkeit die Frage sein kann, verderbt oder rein sei, läßt sich vielleicht sehr bestimmt entscheiden. Folgt sie der allgemeinen Tendenz, ist Energie des Geistes und des Charakters die äußre Erscheinung derselben und, was eben durch sie gilt, ihr eins und alles, so ist sie verderbt. Kennt sie etwas Größeres als die Größe, kann sie über ihre natürliche Neigung zur Energie lächeln, ist sie, mit einem Worte, des Enthusiasmus fähig, so ist sie unschuldig im sittlichen Sinne. In dieser Rücksicht kann man sagen, alle Tugend des Weibes sei Religion. Aber daß die Frauen gleichsam mehr an Gott oder an Christus glauben müßten als die Männer, daß irgendeine gute und schöne Freigeisterei ihnen weniger zieme als den Männern, ist wohl nur eine von den unendlich vielen gemeingeltenden Plattheiten, die Rousseau in ein ordentliches System der Weiblichkeitslehre verbunden hat, in welchem der Unsinn so ins reine gebracht und ausgebildet war, daß es durchaus allgemeinen Beifall finden mußte.
(421) Der große Haufen liebt Friedrich Richters Romane vielleicht nur wegen der anscheinenden Abenteuerlichkeit. Überhaupt interessiert er wohl auf die verschiedenste Art und aus ganz entgegengesetzten Ursachen. Während der gebildete Ökonom edle Tränen in Menge bei ihm weint und der strenge Künstler ihn als das blutrote Himmelszeichen der vollendeten Unpoesie der Nation und des Zeitalters haßt, kann sich der Mensch von universeller Tendenz an den grotesken Porzellanfiguren seines wie Reichstruppen zusammengetrommelten Bilderwitzes ergötzen oder die Willkürlichkeit in ihm vergöttern. Ein eignes Phänomen ist es; ein Autor, der die Anfangsgründe der Kunst nicht in der Gewalt hat, nicht ein Bonmot rein ausdrücken, nicht eine Geschichte gut erzählen kann, nur so, was man gewöhnlich gut erzählen nennt, und dem man doch schon um eines solchen humoristischen Dithyrambus willen, wie der Adamsbrief des trotzigen, kernigen, prallen, herrlichen Leibgeber, den Namen eines großen Dichters nicht ohne Ungerechtigkeit absprechen dürfte. Wenn seine Werke auch nicht übermäßig viel Bildung enthalten, so sind sie doch gebildet: das Ganze ist wie das Einzelne und umgekehrt; kurz, er ist fertig. Es ist ein großer Vorzug des »Siebenkäs«, daß die Ausführung und Darstellung darin noch am besten ist; ein weit größerer, daß so wenig Engländer darin sind. Freilich sind seine Engländer am Ende auch Deutsche, nur in idyllischen Verhältnissen und mit sentimentalen Namen: indessen haben sie immer eine starke Ähnlichkeit mit Louvets Polen und gehören mit zu den falschen Tendenzen, deren er so viele hat. Dahin gehören auch die Frauen, die Philosophie, die Jungfrau Maria, die Zierlichkeit, die idealischen Visionen und die Selbstbeurteilung. Seine Frauen haben rote Augen und sind Exempel, Gliederfrauen zu psychologisch-moralischen Reflexionen über die Weiblichkeit oder über die Schwärmerei. Überhaupt läßt er sich fast nie herab, die Personen darzustellen; genug, daß er sie sich denkt und zuweilen eine treffende Bemerkung über sie sagt. So hält er's mit den passiven Humoristen, den Menschen, die eigentlich nur humoristische Sachen sind: die aktiven erscheinen auch selbständiger, aber sie haben eine zu starke Familienähnlichkeit unter sich und mit dem Autor, als daß man ihnen dies für ein Verdienst anrechnen dürfte. Sein Schmuck besteht in bleiernen Arabesken im Nürnberger Stil. Hier ist die an Armut grenzende Monotonie seiner Fantasie und seines Geistes am auffallendsten: aber hier ist auch seine anziehende Schwerfälligkeit zu Hause und seine pikante Geschmacklosigkeit, an der nur das zu tadeln ist, daß er nicht um sie zu wissen scheint. Seine Madonna ist eine empfindsame Küstersfrau, und Christus erscheint wie ein aufgeklärter Kandidat. Je moralischer seine poetischen Rembrandts sind, desto mittelmäßiger und gemeiner; je komischer, je näher dem Bessern; je dithyrambischer und je kleinstädtischer, desto göttlicher: denn seine Ansicht des Kleinstädtischen ist vorzüglich gottesstädtisch. Seine humoristische Poesie sondert sich immer mehr von seiner sentimentalen Prosa; oft erscheint sie gleich eingestreuten Liedern als Episode oder vernichtet als Appendix das Buch. Doch zerfließen ihm immer noch zuzeiten gute Massen in das allgemeine Chaos.
(422) Mirabeau hat eine große Rolle in der Revolution gespielt, weil sein Charakter und sein Geist revolutionär war; Robespierre, weil er der Revolution unbedingt gehorchte, sich ihr ganz hingab, sie anbetete und sich für den Gott derselben hielt; Buonaparte, weil er Revolutionen schaffen und bilden und sich selbst annihilieren kann.
(423) Sollte der jetzige französische Nationalcharakter nicht eigentlich mit dem Kardinal Richelieu anfangen? Seine seltsame und beinah abgeschmackte Universalität erinnert an viele der merkwürdigsten französischen Phänomene nach ihm.
(424) Man kann die Französische Revolution als das größte und merkwürdigste Phänomen der Staatengeschichte betrachten, als ein fast universelles Erdbeben, eine unermeßliche Überschwemmung in der politischen Welt oder als ein Urbild der Revolutionen, als die Revolution schlechthin. Das sind die gewöhnlichen Gesichtspunkte. Man kann sie aber auch betrachten als den Mittelpunkt und den Gipfel des französischen Nationalcharakters, wo alle Paradoxien desselben zusammengedrängt sind, als die furchtbarste Groteske des Zeitalters, wo die tiefsinnigsten Vorurteile und die gewaltsamsten Ahndungen desselben in ein grauses Chaos gemischt, zu einer ungeheuren Tragikomödie der Menschheit so bizarr als möglich verwebt sind. Zur Ausführung dieser historischen Ansichten findet man nur noch einzelne Züge.
(425) Die erste Regung der Sittlichkeit ist Opposition gegen die positive Gesetzlichkeit und konventionelle Rechtlichkeit und eine grenzenlose Reizbarkeit des Gemüts. Kommt dazu noch die selbständigen und starken Geistern so eigne Nachlässigkeit und die Heftigkeit und Ungeschicklichkeit der Jugend, so sind Ausschweifungen unvermeidlich, deren nicht zu berechnende Folgen oft das ganze Leben vergiften. So geschieht's, daß der Pöbel die für Verbrecher oder Exempel der Unsittlichkeit hält, welche für den wahrhaft sittlichen Menschen zu den höchst seltnen Ausnahmen gehören, die er als Wesen seiner Art, als Mitbürger seiner Welt betrachten kann. Wer denkt hiebei nicht an Mirabeau und Chamfort?
(426) Es ist natürlich, daß die Franzosen etwas dominieren im Zeitalter. Sie sind eine chemische Nation, der chemische Sinn ist bei ihnen am allgemeinsten erregt, und sie machen ihre Versuche auch in der moralischen Chemie immer im Großen. Das Zeitalter ist gleichfalls ein chemisches Zeitalter. Revolutionen sind universelle, nicht organische, sondern chemische Bewegungen. Der große Handel ist die Chemie der großen Ökonomie; es gibt wohl auch eine Alchemie der Art. Die chemische Natur des Romans, der Kritik, des Witzes, der Geselligkeit, der neuesten Rhetorik und der bisherigen Historie leuchtet von selbst ein. Ehe man nicht zu einer Charakteristik des Universums und zu einer Einteilung der Menschheit gelangt ist, muß man sich nur mit Notizen über den Grundton und einzelne Manieren des Zeitalters begnügen lassen, ohne den Riesen auch nur silhouettieren zu können. Denn wie wollte man ohne jene Vorkenntnisse bestimmen, ob das Zeitalter wirklich ein Individuum oder vielleicht nur ein Kollisionspunkt andrer Zeitalter sei, wo es bestimmt anfange und endige? Wie wäre es möglich, die gegenwärtige Periode der Welt richtig zu verstehen und zu interpungieren, wenn man nicht wenigstens den allgemeinen Charakter der nächstfolgenden antizipieren dürfte? Nach der Analogie jenes Gedankens würde auf das chemische ein organisches Zeitalter folgen, und dann dürften die Erdbürger des nächsten Sonnenumlaufs wohl bei weitem nicht so groß von uns denken wie wir selbst und vieles, was jetzt bloß angestaunt wird, nur für nützliche Jugendübungen der Menschheit halten.
(427) Eine sogenannte Recherche ist ein historisches Experiment. Der Gegenstand und das Resultat desselben ist ein Faktum. Was ein Faktum sein soll, muß strenge Individualität haben, zugleich ein Geheimnis und ein Experiment sein, nämlich ein Experiment der bildenden Natur. Geheimnis und Mysterie ist alles, was nur durch Enthusiasmus und mit philosophischem, poetischem oder sittlichem Sinn aufgefaßt werden kann.
(429) Wie die Novelle in jedem Punkt ihres Seins und ihres Werdens neu und frappant sein muß, so sollte vielleicht das poetische Märchen und vorzüglich die Romanze unendlich bizarr sein; denn sie will nicht bloß die Fantasie interessieren, sondern auch den Geist bezaubern und das Gemüt reizen; und das Wesen des Bizarren scheint eben in gewissen willkürlichen und seltsamen Verknüpfungen und Verwechslungen des Denkens, Dichtens und Handelns zu bestehn. Es gibt eine Bizarrerie der Begeisterung, die sich mit der höchsten Bildung und Freiheit verträgt und das Tragische nicht bloß verstärkt, sondern verschönert und gleichsam vergöttlicht; wie in Goethes »Braut von Korinth«, die Epoche in der Geschichte der Poesie macht. Das Rührende darin ist zerreißend und doch verführerisch lockend. Einige Stellen könnte man fast burlesk nennen, und eben in diesen erscheint das Schreckliche zermalmend groß.
(430) Es gibt unvermeidliche Lagen und Verhältnisse, die man nur dadurch liberal behandeln kann, daß man sie durch einen kühnen Akt der Willkür verwandelt und durchaus als Poesie betrachtet. Also sollen alle gebildete Menschen im Notfalle Poeten sein können, und daraus läßt sich ebensogut folgern, daß der Mensch von Natur ein Poet sei, daß es eine Naturpoesie gebe, als umgekehrt.
(431) Opfre den Grazien heißt, wenn es einem Philosophen gesagt wird, soviel als: Schaffe dir Ironie und bilde dich zur Urbanität.
(432) Bei manchen, besonders historischen Werken von Umfang, die im einzelnen überall sehr anziehend und schön geschrieben sind, empfindet man dennoch im ganzen eine unangenehme Monotonie. Um dies zu vermeiden, müßte Kolorit und Ton und selbst der Stil sich verändern und in den verschiedenen großen Massen des Ganzen auffallend verschieden sein, wodurch das Werk nicht bloß mannigfaltiger, sondern auch systematischer werden würde. Es leuchtet ein, daß eine solche regelmäßige Abwechslung nicht das Werk des Zufalls sein könne, daß der Künstler hier ganz bestimmt wissen müsse, was er wolle, um es machen zu können; aber es leuchtet auch ein, daß es voreilig sei, die Poesie oder die Prosa Kunst zu nennen, ehe sie dahin gelangt sind, ihre Werke vollständig zu konstruieren. Daß das Genie dadurch überflüssig gemacht werde, steht nicht zu besorgen, da der Sprung vom anschaulichsten Erkennen und klaren Sehen dessen, was hervorgebracht werden soll, bis zum Vollenden immer unendlich bleibt.
(433) Das Wesen des poetischen Gefühls liegt vielleicht darin, daß man sich ganz aus sich selbst affizieren, über nichts in Affekt geraten und ohne Veranlassung fantasieren kann. Sittliche Reizbarkeit ist mit einem gänzlichen Mangel an poetischem Gefühl sehr gut vereinbar.
(434) Soll denn die Poesie schlechthin eingeteilt sein? oder soll sie die eine und unteilbare bleiben? oder wechseln zwischen Trennung und Verbindung? Die meisten Vorstellungsarten vom poetischen Weltsystem sind noch so roh und kindisch wie die altern vom astronomischen vor Kopernikus. Die gewöhnlichen Einteilungen der Poesie sind nur totes Fachwerk für einen beschränkten Horizont. Was einer machen kann oder was eben gilt, ist die ruhende Erde im Mittelpunkt. Im Universum der Poesie selbst aber ruht nichts, alles wird und verwandelt sich und bewegt sich harmonisch; und auch die Kometen haben unabänderliche Bewegungsgesetze. Ehe sich aber der Lauf dieser Gestirne nicht berechnen, ihre Wiederkunft nicht vorherbestimmen läßt, ist das wahre Weltsystem der Poesie noch nicht entdeckt.
(435) Einige Grammatiker scheinen den Grundsatz des alten Völkerrechts, daß jeder Fremde ein Feind sei, in die Sprache einführen zu wollen. Aber ein Autor, der auch ohne ausländische Worte fertig zu werden weiß, wird sich immer berechtigt halten dürfen, sie zu brauchen, wo der Charakter der Gattung selbst ein Kolorit der Universalität fodert oder wünscht; und ein historischer Geist wird sich immer für alte Worte, die so oft nicht bloß mehr Erfahrung und Verstand, sondern auch mehr Lebenskraft und Einheit haben als viele sogenannte Menschen oder Grammatiker, mit Ehrfurcht und Liebe interessieren und sie bei Gelegenheit gern verjüngen.
(436) Ganz ohne Rücksicht auf den Inhalt ist der Fürstenspiegel sehr schätzbar als ein Muster des guten Tons in geschriebner Konversation, wie die deutsche Prosa nur wenige aufzuweisen hat, aus denen der Autor, der die Philosophie und das gesellschaftliche Leben en rapport setzen will, lernen muß, wie man das Dekorum der Konvention zum Anstand der Natur adelt. So sollte eigentlich jeder schreiben können, der Veranlassung findet, etwas drucken zu lassen, ohne darum eben ein Autor sein zu wollen.
(437) Wie kann eine Wissenschaft auf wissenschaftliche Strenge und Vollendung Anspruch machen, die meistens in usum delphini oder nach dem System der gelegenheitlichen Ursachen angeordnet und eingeteilt ist, wie die Mathematik?
(438) Urbanität ist der Witz der harmonischen Universalität, und diese ist das eins und alles der historischen Philosophie und Platos höchste Musik. Die Humaniora sind die Gymnastik dieser Kunst und Wissenschaft.
(439) Eine Charakteristik ist ein Kunstwerk der Kritik, ein visum repertum der chemischen Philosophie. Eine Rezension ist eine angewandte und anwendende Charakteristik, mit Rücksicht auf den gegenwärtigen Zustand der Literatur und des Publikums. Übersichten, literarische Annalen sind Summen oder Reihen von Charakteristiken. Parallelen sind kritische Gruppen. Aus der Verknüpfung beider entspringt die Auswahl der Klassiker, das kritische Weltsystem für eine gegebne Sphäre der Philosophie oder der Poesie.
(440) Alle reine uneigennützige Bildung ist gymnastisch oder musikalisch; sie geht auf Entwicklung der einzelnen und auf Harmonie aller Kräfte. Die griechische Dichotomie der Erziehung ist mehr als eine von den Paradoxien des Altertums.
(441) Liberal ist, wer von allen Seiten und nach allen Richtungen wie von selbst frei ist und in seiner ganzen Menschheit wirkt, wer alles, was handelt, ist und wird, nach dem Maß seiner Kraft heilig hält und an allem Leben Anteil nimmt, ohne sich durch beschränkte Ansichten zum Haß oder zur Geringschätzung desselben verführen zu lassen.
(442) Philosophische Juristen nennen sich auch solche, die neben ihren andern Rechten, die oft so unrechtlich sind, auch ein Naturrecht haben, welches nicht selten noch unrechtlicher ist.
(443) Die Deduktion eines Begriffs ist die Ahnenprobe seiner echten Abstammung von der intellektuellen Anschauung seiner Wissenschaft. Denn jede Wissenschaft hat die ihrige.
(444) Es pflegt manchem seltsam und lächerlich aufzufallen, wenn die Musiker von den Gedanken in ihren Kompositionen reden; und oft mag es auch so geschehen, daß man wahrnimmt, sie haben mehr Gedanken in ihrer Musik als über dieselbe. Wer aber Sinn für die wunderbaren Affinitäten aller Künste und Wissenschaften hat, wird die Sache wenigstens nicht aus dem platten Gesichtspunkt der sogenannten Natürlichkeit betrachten, nach welcher die Musik nur die Sprache der Empfindung sein soll, und eine gewisse Tendenz aller reinen Instrumentalmusik zur Philosophie an sich nicht unmöglich finden. Muß die reine Instrumentalmusik sich nicht selbst einen Text erschaffen? und wird das Thema in ihr nicht so entwickelt, bestätigt, variiert und kontrastiert wie der Gegenstand der Meditation in einer philosophischen Ideenreihe?
(445) Die Dynamik ist die Größenlehre der Energie, welche in der Astronomie auf die Organisation des Universums angewandt wird. Insofern könnte man beide eine historische Mathematik nennen. Die Algebra erfordert am meisten Witz und Enthusiasmus, nämlich mathematischen.
(446) Der konsequente Empirismus endigt mit Beiträgen zur Ausgleichung der Mißverständnisse oder mit einer Subskription auf die Wahrheit.
(447) Die unechte Universalität ist entweder theoretisch oder praktisch. Die theoretische ist die Universalität eines schlechten Lexikons, einer Registratur. Die praktische entsteht aus der Totalität der Einmischung.
(448) Die intellektualen Anschauungen der Kritik sind das Gefühl von der unendlich feinen Analyse der griechischen Poesie und das von der unendlich vollen Mischung der römischen Satire und der römischen Prosa.
(449) Wir haben noch keinen moralischen Autor, welcher den Ersten der Poesie und Philosophie verglichen werden könnte. Ein solcher müßte die erhabene antiquarische Politik Müllers mit Forsters großer Ökonomie des Universums und mit Jacobis sittlicher Gymnastik und Musik verknüpfen und auch in der Schreibart den schweren, ehrwürdigen und begeisterten Stil des ersten mit dem frischen Kolorit, der liebenswürdigen Zartheit des zweiten und mit der überall wie ferne Harmonika der Geisterwelt antönenden, gebildeten Fühlbarkeit des dritten verbinden.
(450) Rousseaus Polemik gegen die Poesie ist doch nur eine schlechte Nachahmung des Plato. Plato hat es mehr gegen die Poeten als gegen die Poesie; er hielt die Philosophie für den kühnsten Dithyrambus und für die einstimmigste Musik. Epikur ist eigentlicher Feind der schönen Kunst: denn er will die Fantasie ausrotten und sich bloß an den Sinn halten. Auf eine ganz andre Art könnte Spinoza ein Feind der Poesie scheinen; weil er zeigt, wie weit man mit Philosophie und Moralität ohne Poesie kommen kann, und weil es sehr im Geist seines Systems liegt, die Poesie nicht zu isolieren.
(451) Universalität ist Wechselsättigung aller Formen und aller Stoffe. Zur Harmonie gelangt sie nur durch Verbindung der Poesie und der Philosophie: auch den universellsten, vollendetsten Werken der isolierten Poesie und Philosophie scheint die letzte Synthese zu fehlen; dicht am Ziel der Harmonie bleiben sie unvollendet stehn. Das Leben des universellen Geistes ist eine ununterbrochne Kette innerer Revolutionen; alle Individuen, die ursprünglichen, ewigen nämlich, leben in ihm. Er ist echter Polytheist und trägt den ganzen Olymp in sich.