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Rezensionen

[Condorcets »Esquisse d'un tableau historique des progrès de l'esprit humain«]

Ein interessanter Versuch, zu beweisen: die bisherige Geschichte der Menschheit sei ein stetes Fortschreiten gewesen und der künftige Gang des menschlichen Geschlechts werde ein grenzenloses Vervollkommnen sein. Die Schrift empfiehlt sich durch eine einfache, klare und edle Schreibart, durch ernsten Eifer für die Wahrheit und Erkenntnis, durch reines Gefühl für Sittlichkeit und durch einen edeln Haß der Vorurteile, der Heuchelei, der Unterdrückung und des Aberglaubens.

Diese Skizze gibt (S. 19) »nur die Massen, ohne bei den Ausnahmen zu verweilen, sie deutet nur die Gegenstände und die Resultate an, deren Ausführung und vollständige Beweise das Werk selbst darlegen sollte«. – Sie enthält einen großen Reichtum an neuen und geistreichen Ansichten, treffenden Urteilen und fruchtbaren Gedankenkeimen. Die meisten derselben gehören zwar ins Gebiet der Geschichte selbst, und also auch ihre Prüfung. Doch enthält sie auch einige merkwürdige Andeutungen wissenschaftlicher Prinzipien für die Behandlung der Geschichte der Menschheit. Diese wollen wir hier zur Prüfung ausheben.

Man könnte zwar darauf anwenden, was der Verfasser selbst (S. 108) von einem Gedanken des Aristoteles sagt: »Es war mehr der Fund eines Genies.« Sie sind nicht das Resultat eines bestimmten, aus einer festen Grundlage hergeleiteten Räsonnements: weswegen auch der hingeworfene Keim eine isolierte Ansicht geblieben ist und fast gar keine von den reichen Früchten getragen hat, die sich einst aus ihm entwickeln müssen. Aber die Philosophie der Geschichte ist noch so weit davon entfernt, eine Wissenschaft zu sein, daß auch der unvollkommenste Versuch, sie diesem Ziele näher zu bringen, Aufmerksamkeit verdient.

Der Verfasser hat zwar nicht aus Gründen bestimmt gewußt, aber doch richtig gefühlt, daß es Gesetze der menschlichen Geschichte geben müsse. Er sagt S. 309: »Der einzige Grund der Überzeugung in den Naturwissenschaften ist der Gedanke, daß die allgemeinen Gesetze der Erscheinungen notwendig und beharrlich sind; und warum sollte dies Prinzip für die Entwickelung der geistigen und sittlichen Fähigkeiten des Menschen weniger wahr sein?« – S. 3: »Die allmähliche Entwickelung der menschlichen Fähigkeiten der ganzen Gattung ist ewigen Gesetzen unterworfen.« – Und S. 12: »Bemerkungen über diese Entwickelung sind der einzige Führer der Untersuchung im ältesten Zeitalter der Geschichte der Menschheit.«

Die Lehre von der künftigen grenzenlosen Vervollkommnung der menschlichen Gattung trägt der Verfasser ganz dogmatisch vor. Er war aber dennoch weder über die Notwendigkeit noch über die Erkennbarkeit der Gesetze der Geschichte aufs reine gekommen: denn S. 13 » scheint ihm die Beharrlichkeit der Naturgesetze für die Fortschritte der künftigen Generationen Gewähr zu leisten«, und S. 309 werden auch unbekannte Gesetze erwähnt. Er unterscheidet zwar einmal (S. 312) die Analyse des Ganges des menschlichen Geistes und der Entwickelung seiner Fähigkeiten von der Erfahrung des Vergangnen und der Beobachtung der bisherigen Fortschritte. Aber sowohl mehrere Andeutungen von Grundsätzen (S. 17, 309, 310) als die Vermischung aller Gründe im Verfahren selbst beweisen, daß er die Erwartung des Ähnlichen, wozu die bloße Wahrnehmung vergangener Erscheinungen ohne Kenntnis ihrer Gesetze veranlaßt, und die Vorherbestimmung des Notwendigen, wozu die Erkenntnis der Gesetze der Erfahrung die Vernunft berechtigt, nicht gehörig unterschieden hat.

Der Begriff der Geschichte ist durchaus unrichtig bestimmt. – »Wenn man (S. 2) sich auf die Erkenntnis der allgemeinen Tatsachen und beharrlichen Gesetze der Entwickelung der menschlichen Fähigkeiten in dem, was sie bei allen verschiedenen Individuen des menschlichen Geschlechts Gemeinsames hat, einschränkt: so trägt diese Wissenschaft den Namen der Metaphysik. Betrachtet man eben diese Entwickelung in Rücksicht auf die Masse der gleichzeitigen und aufeinander folgenden Individuen usw., so ist sie der Gegenstand der Geschichte« (S. 3). Nicht dieselbe, sondern eine ganz verschiedene Art der Entwickelung ist Gegenstand der Geschichte und der reinen Wissenschaft. Die letzte hat es nur mit der bloß gedachten Veranlassung des menschlichen Vermögens durch den äußern Anstoß des Schicksals (über den sich der Verfasser S. 1 ziemlich glücklich ausdrückt) zu tun, mit der das Bewußtsein und die Zeit selbst erst anfängt. Die Geschichte der Menschheit hingegen mit der wirklichen Entwickelung des menschlichen Vermögens in der äußern Welt und in der Zeit. Die beharrlichen Eigenschaften des Menschen sind Gegenstand der reinen Wissenschaft, die Veränderungen des Menschen hingegen, sowohl des einzelnen als der ganzen Masse, sind der Gegenstand einer wissenschaftlichen Geschichte der Menschheit.

Der Titel des Werks läßt nur eine Geschichte des menschlichen Verstandes erwarten. Nun werden zwar die Fortschritte zur Glückseligkeit (S. 4) und die sittlichen Fähigkeiten des Menschen (S. 20) mit in den Zweck des Werks aufgenommen: aber S. 1, 2 wird das Begehrungsvermögen mit Stillschweigen übergangen und ohne Beweis vorausgesetzt, das gesamte menschliche Vermögen sei durch das Vorstellungsvermögen und Gefühlsvermögen erschöpft; und überdem sind alle Bemerkungen über die sittliche Bildung (den schwierigsten Teil des Ganzen) so mager und unbedeutend, daß wir nicht dabei verweilen können. Er betrachtet die sittliche Bildung nicht als einen spezifisch verschiednen Bestandteil der gesamten menschlichen Bildung, sondern als einen Anhang der intellektuellen und politischen Bildung (S. 343-345). Der sittliche Zustand keiner Stufe ist mit Bestimmtheit und Sorgfalt angegeben. Überhaupt scheint es an einem klaren und richtigen Begriff von Sitten, sittlicher Vollkommenheit, sittlicher Bildung, durchaus zu fehlen (S. 238). Bei der Charakteristik einer jeden Stufe werden alle Züge einzeln nacheinander aufgezählt, ohne die geringste Spur von Unterscheidung der wesentlichen Bestandteile und der äußern Bedingungen der Bildung; ohne Andeutung des innern Zusammenhanges derselben; ohne vollständige Übersicht aller Bestandteile der Bildung. Ja es fehlt sogar an einem bestimmten und vollständigen Begriff vom Ganzen aller menschlichen Wissenschaften, von dem Zusammenhang der Teile, von den Grenzen der Gattungen, Arten und Unterarten.

Die sukzessive Einteilung ist auf ein falsches Prinzip gegründet. Die Epochen einer wissenschaftlichen Geschichte der Menschheit müssen nicht nach glücklichen äußern Veranlassungen und daraus erfolgten merkwürdigen äußern Revolutionen, sondern nach den notwendigen Stufen der innern Entwicklung eingeteilt werden.

Wie im Ganzen so auch im Einzelnen. Nur einige Beispiele. »Nach den allgemeinen Gesetzen der Entwickelung unsrer Fähigkeiten«, sagt der Verfasser (S. 15,16) sehr wahr, »mußten auf jeder Stufe der Bildung gewisse Vorurteile entstehen.« Aber bei der Ausführung vergißt er die Absicht (S. 84), »den Ursprung der Fehler der griechischen Philosophie aus dem natürlichen Gang des menschlichen Geistes zu entwickeln«, und deklamiert bloß (S. 62 ff.), nach Art der gemeinen französischen Lockianer, wider die bekannten Fehler der griechischen Physik und dogmatischen Metaphysik. Die große Revolution hingegen, da durch die systematische Tendenz und die logikalische Methode der ältesten jonischen und dorischen Philosophen die Wissenschaft eigentlich zuerst entstand, indem es vorher nur wissenschaftlichen Stoff unter der Herrschaft der Einbildungskraft gab – da der Verstand die Anordnung der Masse und den Gang der Untersuchung selbständig bestimmte –, hat er nicht wahrgenommen. – Er schiebt alle nicht reelle Wissenschaften, d. h., wie aus dem Ganzen des Werkes klar genug wird, alle diejenigen Untersuchungen, welche in Lockes engem System keinen Raum finden, beiseite (S. 84). – Er tadelt nicht nur die Kühnheit übersinnlicher Untersuchungen, sondern sogar das Streben nach vollendeter Einheit der Kenntnisse (S. 72): und doch sind selbst jene Fragen nur » vielleicht (S. 76) für immer unbeantwortlich«.

So weit ist der Verfasser in dieser Geschichte der Menschheit selbst hinter den Grundsätzen, die er hie und da angibt, zurückgeblieben. Äußerst selten nur erhebt er sich bis zum notwendigen Gesetz der erklärten Erscheinungen. Gewöhnlich gibt er uns für den ganzen Grund nur eine Veranlassung oder auch eine erdichtete Ursache. Eine besondre Absicht, ein besondrer Trieb einzelner Menschen ist aber in der Erklärung der Erscheinungen der Geschichte der Menschheit ganz genau das, was eine »qualitas occulta« in der Physik. Wenn man z. B. einen Teil des Skeptizismus bloß aus der Wut, sich durch bizarre Meinungen auszuzeichnen, herleiten will (S. 106): so ist es leicht, alles zu erklären. Diese fehlerhafte Methode täuscht uns mit einer scheinbaren Befriedigung und macht den Denker träge: nur die Voraussetzung, daß alle Erscheinungen notwendig seien, kann dahin führen, den Grund immer mehrerer zu erforschen.

»Seit der Epoche, wo die alphabetische Schrift in Griechenland bekannt wurde«, sagt der Verfasser (S. 13), »hat die Philosophie nichts mehr zu erraten; es ist genug, die Tatsachen zu sammeln, zu ordnen und die nützlichen Wahrheiten zu zeigen, welche aus ihrer Verkettung und aus ihrem Ganzen hervorgehn.« Gewiß ist es »genug«. Möchte doch bald ein Philosoph die Masse der Geschichte nur vollständig ordnen! Sie zu ergänzen würde dann leicht sein.

Der Verfasser eilt zu früh, nachdem er die Tatsachen nur flüchtig und lückenhaft gefaßt, kühn, aber oft schief kombiniert hat, zu einer willkürlichen Erklärung der isolierten Erscheinungen und zur Ergänzung des Unbekannten, ehe noch das Bekannte völlig verarbeitet ist. – Wenn die Geschichte der Menschheit einmal ihren Newton finden wird, der mit gleicher Sicherheit den verborgenen Geist des Einzelnen zu treffen und sich in dem unübersehlichen Ganzen zu orientieren weiß, der bei unverrücktem Streben, den allgemeinen Gesichtspunkt im Einzelnen zeigen und aus dem Einzelnen den allgemeinen Gesichtspunkt hervorgehen zu lassen, dennoch die Tatsachen nicht verfälscht und verstümmelt, sondern rein und vollständig faßt, sich die scheinbaren Widersprüche nicht verschweigt, sondern die rohe Masse unermüdet so lange durcharbeitet, bis er Licht, Übereinstimmung, Zusammenhang und Ordnung findet: dann wird man in der Vorherbestimmung des künftigen Ganges der menschlichen Bildung (die ich sehr weit entfernt bin für chimärisch zu halten) sichrer und weiter gehen können als alle bisherigen Philosophen und der Verfasser selbst.

Inzwischen ist es schon kein geringes Verdienst dieses geistvollen Produkts, das große Resultat – die stete Vervollkommnung der Menschheit – durch historische Gründe (soweit sich überhaupt aus dem, was bisher geschehen ist, auf das, was in der Folge geschehen werde, ein solcher Schluß machen läßt!) zu einem so hohen Grad der Evidenz erhoben zu haben. Die gewöhnlichen Vorurteile sind doch widerlegt; zu einem künftigen vollständigen Beweis sind wenigstens treffliche Beiträge geliefert. Allerdings aber könnte die Deduktion der immer fortschreitenden Ausbildung des Menschengeschlechts, aus der Natur der menschlichen Fähigkeiten und den Gesetzen ihrer Entwickelung (S. 330), bündiger und schärfer sein.

Die Anwendung dieses Gesichtspunkts auf die Geschichte, der historische Beweis, daß die Vergangenheit ein stetes Fortschreiten gewesen sei, kann überhaupt in einer Skizze nur unvollständig ausfallen. Aber diese Skizze ist nicht bloß unvollständig; sondern die ganze Untersuchung hat hier eine schiefe Richtung genommen, die bei der Manier des Verfassers, lückenhaft und isoliert zu erzählen, willkürlich zu kombinieren und zu erklären, um so mehr versteckt bleibt: nämlich die großen Schwierigkeiten, auf deren Beantwortung es eigentlich ankommt, zu leugnen oder doch beiseite zu schieben. Das eigentliche Problem der Geschichte ist die Ungleichheit der Fortschritte in den verschiedenen Bestandteilen der gesamten menschlichen Bildung, besonders die große Divergenz in dem Grade der intellektuellen und der moralischen Bildung; die Rückfälle und Stillstände der Bildung, auch die kleinern partiellen; besonders aber der große totale Rückfall der gesamten Bildung der Griechen und Römer. »Daß die Fortschritte der Sittlichkeit immer die der Aufklärung begleitet haben« (auch in Griechenland, wo die Wissenschaft noch in der Wiege lag, als Sitten, Staat und Kunst schon völlig entartet waren!), wird (S. 94) wider alle Erfahrung behauptet und gleichwohl eine unermeßliche Verschiedenheit der Fortschritte unsers Zeitalters in der sittlichen und wissenschaftlichen Bildung anerkannt (S. 303), aber freilich nicht erklärt. Die (S. 213, 214) angedeuteten Momente würden nur die besondre Veranlassung, nicht das allgemeine Gesetz der Ungleichheit der Fortschritte der modernen Wissenschaften erklärt haben. – Die Meinung von dem notwendigen Verfall der Menschheit war nicht bloß »das Vorurteil einiger Grammatiker« (S. 133), sondern Stimme des gesamten Altertums, Resultat der ganzen alten Geschichte. – Wieviel mehrere und größere Widersprüche würde der Verfasser erst gesagt haben, wenn ihm seine völlige Unkenntnis der Griechen und Römer bei der Absicht, zu leugnen, was er nicht erklären konnte, zu verschweigen, was ihn widerlegte, nicht so gute Dienste geleistet hätte.

Hätte er das Problem nicht zu umgehen, sondern zu beantworten gesucht, so würden sich Zweifel bei ihm geregt haben: ob die unendliche Perfektibilität (von deren Gültigkeit als Idee Rezensent völlig überzeugt ist) allein ein hinreichendes Prinzip der Geschichte der Menschheit sei, und diese Zweifel hätten ihn zur großen Auflösung führen können. – Überhaupt ist das Darstellen in Masse, das Skizzieren und das Verfertigen historischer Gemälde in der wissenschaftlichen Geschichte der Menschheit eine äußerst gefährliche Sache und wenigstens für jetzt noch viel zu früh. Kann die Philosophie der Geschichte von der Geschichte selbst nicht ganz getrennt werden, so ist umfassende Gelehrsamkeit und scharfe Kritik, das vollständigste und sorgfältigste Detail, durchaus notwendig.

Ich habe, mit Rücksicht auf die Stelle, die diese Rezension in einem philosophischen Journal einnimmt, absichtlich nur die Prinzipien und Methode des Verfassers geprüft, ohne mich über den Wert einzelner trefflicher Materialien zu verbreiten. Doch sei es mir vergönnt, noch auf einige der fruchtbarsten Andeutungen des Verfassers aufmerksam zu machen.

Der glückliche Gedanke (S. 12 f.), bis zur Erfindung der alphabetischen Schrift die Tatsachen aus der Geschichte der verschiedenen Völker zusammenzunehmen und daraus die Geschichte eines einzigen hypothetischen Volks zu bilden, ist ein Beispiel einer äußerst sinnreichen historischen Methode, durch welche sich noch große Entdeckungen machen lassen.

Die Stelle (S. 321-323), welche die Gründe der Ungleichheit, der Abhängigkeit und des Elends und die Mittel der künftigen Gleichheit entwickelt, gehört unter die trefflichsten. Mit Vergnügen bemerke ich wenigstens einen Keim des wichtigen Begriffs der Wechselwirkung der Bildung S.329, 357. Nur ein Geist, der seinem Zeitalter zuvoreilt, kann (S. 346, 347) »die gänzliche Vertilgung der Vorurteile, welche die selbst dem begünstigten Teile gefährliche Ungleichheit der Rechte beider Geschlechter begründen, unter die wichtigsten bevorstehenden Fortschritte des menschlichen Geschlechts« rechnen.

»Der Augenblick wird also kommen«, heißt es S. 320, »wo die Sonne nur freie Menschen, die keinen andern Herrn als ihre Vernunft anerkennen, bescheinen wird; wo die Despoten und die Sklaven, die Priester und ihre blödsinnigen oder heuchlerischen Anhänger nur noch in der Geschichte oder auf der Bühne vorhanden sein werden; wo man sich nicht weiter mit ihnen beschäftigen wird, als um sich durch den Abscheu an ihren Untaten in einer heilsamen Wachsamkeit zu erhalten, damit man die ersten Keime des Aberglaubens und des Despotismus, wenn sie je wieder zu erscheinen wagen sollten, zu ersticken wisse.«

Wer kann der erhabenen Selbständigkeit dieses den Wissenschaften zu früh entrißnen Denkers seine Bewunderung versagen, wenn er an die Situation denkt, in der dies geschrieben wurde? – Noch größer und erhabener ist der Schluß des ganzen Werks:

»Wie sehr gewährt dieses Gemälde des von seinen Ketten befreiten, der Herrschaft des Zufalls und aller Feinde seiner Fortschritte entrißnen, auf der Bahn der Wahrheit, der Sittlichkeit und Glückseligkeit mit festem und sicherem Schritt wandelnden menschlichen Geschlechts dem Philosophen ein Schauspiel, welches ihn über die Irrtümer, Verbrechen und Ungerechtigkeiten, von denen die Erde noch befleckt ist, tröstet? In der Betrachtung dieses Gemäldes empfängt er den Lohn seiner Anstrengung für die Fortschritte der Vernunft und für die Verteidigung der Freiheit. Er wagt es dann, sie an die ewige Kette der menschlichen Bildungsgeschichte anzuknüpfen, und findet eine echte Belohnung in dem Vergnügen, ein dauerndes Gutes, welches kein Schicksal mehr zerstören kann, bewirkt zu haben. Diese Betrachtung ist für ihn eine Zuflucht, wohin ihn die Erinnerung an seine Feinde nicht verfolgen kann. Hier lebt er in Gedanken mit dem in seine Rechte wie in die Würde seiner Natur wieder eingesetzten Menschen und vergißt denjenigen, welchen Habsucht, Furcht und Neid martern und verderben; hier existiert er eigentlich mit seinen Brüdern in einem Himmel, den seine Vernunft sich zu schaffen wußte, den seine Menschenliebe mit den reinsten Freuden schmückte.«

[Herders »Briefe zu Beförderung der Humanität«. 7.-8. Sammlung]

Die in diesen beiden Sammlungen enthaltenen Fragmente über den Geist und Wert der modernen Poesie sind nicht etwa vollendete Bruchstücke eines unvollendeten Ganzen: sie sind auch im einzelnen fragmentarisch, wie die nachlässiger geschriebenen Briefe auch des geistvollsten Schriftstellers wohl sein können und sein dürfen. Der Verfasser begnügt sich oft, einen Gegenstand nur leise zu berühren, den er vielleicht durchaus erforscht hat, einen Gedanken nur eben anzulegen, den vielleicht niemand glücklicher ausführen würde als er. Freilich werden einigemal Namen von Kunstwerken und Schriftstellern ohne Charakteristik und Würdigung aufgehäuft und ohne daß die Beziehung und die Stelle, in und an der sie genannt werden, diese schon in sich enthielte. Das Für und Wider in den Fragmenten gleicht dann und wann dem Gange eines Pilgrims, der erst drei Schritte vorwärts und dann wieder zwei rückwärts geht; und in den Nachschriften redet oft mehr ein milder Vater, der die streitenden Meinungen zum Frieden und zum göttlichen Vergleich ermahnt, als ein strenger Richter, der ihre gegenseitigen Rechte scharf bestimmt. Wenn man sich indessen das Ganze in Gedanken mehr zusammendrängt, so darf man sich dabei immer noch an die besten kritischen Schriften des Herausgebers erinnern, d. h. an Schriften, welche den geistvollsten und zartesten Ausdruck mit der reichsten Fülle von Gedanken und Gedankenkeimen vereinigen.

Poesie wird hier in einem weiten Verstände als Kultur zum Schönen (S. 2, 4) genommen, Geschichte der Dichtkunst als eine Geschichte menschlicher Einbildungen, Leidenschaften und Empfindungen (S. 137-139). »In die Augen springend und unverkennbar ist der Unterschied in der Poesie der alten Griechen und Römer in Vergleich aller neuen europäischen Völker; wir mögen italienische, spanische, französische, englische, deutsche Dichter, aus welchen Zeiten wir wollen, lesen« (S. 2). Und doch ist es schwer, diesen unleugbar wahrgenommenen Unterschied durchgängig zu bestimmen und vollständig zu erklären! – »Im Boethius und in mehrern Dichtern der Zeit des allgemeinen Verfalls der römischen Sprache und Poesie gehet bereits sichtbarer Weise ein neuer Geschmack hervor. Auson ist gleichsam wechselsweise Christ und Heide« (S. 17, S. 18). (Das Antike und Moderne ist in mehrern Alten der späten Zeit so unvermischt beisammen. Eine Indikation, welcher der künftige Geschichtschreiber der modernen Poesie mit der größten Aufmerksamkeit nachgehen muß. Um aber den Ursprung der neuern Poesie in den Alten suchen und finden zu können, muß er freilich schon streng bestimmte Begriffe vom Antiken und Modernen mitbringen.) »Den christlichen Hymnen lagen jene alten ebräischen Psalmen zum Grunde, welche wegen ihrer Popularität ein Gesangbuch für alle Zeiten genannt werden können« (S. 21-25). – »Neue Gedanken, Anmut der Empfindung, die Schönheit eines klassischen Ausdrucks erwartet man vergebens in jenen altchristlichen Gesängen. Einfalt und Wahrheit ist es, wodurch sie rühren. Hier tönt die Sprache eines allgemeinen Glaubens; ein populärer Inhalt in wenigen großen, immer wiederkehrenden Absätzen« (S. 25-29). »Sie enthielten einen Keim, der den heidnischen Gesängen den Tod bringen sollte. Die spielende Einbildungskraft selbst, die festliche Freude des Volks ward von den Christianern als eine Schule böser Geister verdammt, der Bürgerruhm selbst als eine glänzende Sünde verachtet; auch was von der Poesie zur alten Religion gehörte, war ein Werk des Teufels« (S. 29, 30). (Dieser interessante Kampf des Alten und des Neuen, in welchem die beiden Hauptteile der Geschichte der Menschheit sich begegnen und scheiden – man könnte ihn einen bürgerlichen Krieg im Reiche der Bildung nennen –, wird hier nur aus seinen äußern Veranlassungen erklärt: aus seinen innern Gründen könnte es auch erst dann geschehen, wenn die Begriffe des Antiken und Modernen schon fixiert und aus der menschlichen Natur selbst hergeleitet wären, Begriffe, die hier erst aufgesucht werden.) Diese neue christliche Poesie war universell, nicht national, wie der christliche Glaube selbst (S. 31). »Statt eingeschränkter irdischer Hoffnungen lang man eine große Hoffnung, die Erwartung der Ankunft des Richters über Lebendige und Tote« (S. 32). (So lächerlich und geschmacklos sich dieses Trachten nach dem Reich Gottes in der christlichen Poesie offenbaren mochte: so wird es dem Geschichtsforscher doch eine sehr merkwürdige Erscheinung, wenn er gewahr wird, daß eben dieses Streben, das absolut Vollkommne und Unendliche zu realisieren, eine unter dem unaufhörlichen Wechsel der Zeiten und bei der größten Verschiedenheit der Völker bleibende Eigenschaft alles dessen ist, was man mit dem besten Rechte modern nennen darf.) Die ganze Literatur wird christianisiert (S. 33). Weil der Inhalt der christlichen Gesänge so allgemein war, so ging die Musik dabei ihren Gang für sich, wurde herrschend und mußte notwendig, früher oder später, für sich selbst ein Gebäude der Harmonie ausbilden (S. 33, 34). In der Sprache ward der Genius fast aller Völker miteinander vermischt, und an die Stelle des alten klassischen Rhythmus trat nun, weil auf Popularität alles gerechnet war, der Wohlklang des plebejischen Ohrs (S. 35, 36). Das Latein des Mittelalters: die Mönchssprache. Verachtung der Wissenschaften aus Mystizismus, dessen Natur (S. 38-40) so treffend charakterisiert als seine Leerheit (S. 41) in der Kürze dargetan wird. – Die altchristlichen Verse sind (S. 45) nicht zu lesen, sondern mit der ihnen gebührenden Musik zu hören; und dieser ist denn auch wohl die Süßigkeit und hohe Würde, welche der Verfasser an denselben (S. 42-44) lobt, wo nicht ganz, doch größtenteils zuzurechnen. Die Allegorien, welche die altern unter den neuen Dichtern so charakteristisch auszeichnen, werden (S. 58) aus der Dämmerung erklärt, in welche sich die gegenwärtige Welt zu verlieren pflegt, wenn der Blick stets auf die künftige gerichtet ist. Sie beweisen aber auch zugleich, daß die dichtende Einbildungskraft, welche sie hervorbrachte, nicht frei spielte, sondern auf einer ihr vom Verstande vorgezeichneten Bahn wandelte. – Die religiöse Farbe aller menschlichen Handlungen und Leidenschaften und die Sentimentalität (S. 60) verhalten sich doch wohl nicht wie Ursache und Wirkung zueinander, sondern wie Merkmale derselben Eigenschaft. Daß es eine Sentimentalität der Stände war, wird nur eben berührt. – Wie wichtig war nicht der Einfluß der verschiedenen Stände auf den Gang und Geist der modernen Poesie? – Die ständische Entwicklung des modernen Geistes zeigt sich auch in diesem Teile der Bildung. Man könnte von der modernen Poesie sagen, sie sei zuerst ein Werkzeug des geistlichen, dann ein Zeitvertreib des adligen, ein Gewerbe des bürgerlichen und endlich eine Wissenschaft und Kunst des gelehrten Standes gewesen. – »Alle deutsche Nationen, die das Römische Reich unter sich teilten, kamen mit Heldenliedern von Taten ihrer Vorfahren in die ihnen neue Welt« (S.62). »Sehr nützlich wäre es, wenn wir diese alten Wurzeln des Stammes der Denkart und Sprache unserer Vorfahren noch besäßen« (S. 63). »Nordische Einsilbigkeit aller deutschen Mundarten« (S. 64-66). »Den Tönen nach verhallten jene alten Heldenmelodien in der sanfteren Luft der südlichen Länder. Dabei aber gingen nicht sofort auch die Erzählungen selbst, jene Heldensagen, zugrunde, die gleichsam die Seele dieser Völker, ihr Trank und ihre geistige Speise waren. Sie konnten nicht zugrunde gehn, weil diese Völker abenteuerlich dachten und entweder gar nicht oder im Abenteuer lebten.« – »Hat aber die Abenteuerlichkeit des Mittelalters nicht einen ganz eignen, von der Lebensart und Denkart der Griechen im heroischen Zeitalter durchaus verschiednen Charakter? Und läßt sich dieses Eigne bloß daraus erklären, daß jene Völker von wenigen, aber starken Begriffen und Leidenschaften getrieben wurden? War es etwa jene Sentimentalität, deren Keim die nordischen Ankömmlinge schon im Christianismus vorfanden?« – »Die Provençal-Poesie ward das Organ des galanten Rittergeistes in allen Zweigen seiner Denkart« (S. 76). »Die Kunst der Troubadoren hatte den Namen der fröhlichen Wissenschaft, so wie auch ihr entschiedner Zweck fröhliche, angenehme Unterhaltung war« (S. 78). – Dieses könnte eine Mißdeutung veranlassen und sollte wohl bestimmter standesmäßiger Zeitvertreib heißen, welcher von einem Bürgerfeste und einem schönen Spiele durchaus verschieden ist, von dem man doch jenen Ausdruck verstehen könnte. Beim Spiel kann die höchste Tätigkeit aller Seelenkräfte stattfinden, wenn diese Tätigkeit nur frei ist: Zeitvertreib hingegen setzt immer eine gewisse Passivität voraus, welche von den frühesten Zeiten der modernen Poesie bis jetzt das Verhältnis des Publikums zu ihr bezeichnet. Noch jetzt suchen die Menschen, mit Ausnahme weniger echter Liebhaber, die Poesie nur als Zeitvertreib, in fugam vacui, aus Abscheu vor dem Nichts in ihrem Innern. – S. 83 drückt sich der Verfasser auch sorgfältiger aus: »Die neuere europäische Dichtkunst war eine amüsierende Hofverskunst in gereimten Formen.« – »Durchaus unverkennbar ist der arabische Genius in den Versuchen der Provençalen« (S. 87). »Von den ältesten Zeiten an war es bei den Arabern die gewöhnliche Regel eines Gedichts, von Gott und vom Propheten anzufangen, sodann der Liebe ihren Zoll zu entrichten und darauf gegen Freund oder Feind seine Tapferkeit zu bezeugen. Diesem poetischen Herkommen bequemten sich nun auch die Christen« (S. 89). (Wenngleich die Araber den Zyklus der romantischen Empfindungen näher bestimmten und feiner ausbildeten: so scheint es doch nicht ratsam, eine so auffallend allgemeine Erscheinung bloß aus der Individualität eines Volks und der zufälligen Ausbreitung eines Nationalcharakters herzuleiten, bis man untersucht hat, ob der Grund derselben nicht in notwendigen Bedingungen des Zeitalters liegen könne.) Die Reimgalanterie der Araber, die wir nur in der Poesie noch beibehalten haben, und jene Phantome asiatischer Einbildungskraft, welche durch sie zu uns gekommen sind, nennt der Verfasser gebrannte Wasser in der Poesie (S. 93-97). Was S. 98-100 über den Reim gesagt wird: »er gehöre für Kirchen- und andre Volkslieder, für Denksprüche, lebhafte Antworten und mehrere Gattungen angenehmer Konversationspoesie«, läßt doch noch manche Einwendungen und Fragen übrig. Gibt es nicht Gedichte in Sprachen, welche reimlose Versarten erlauben, die gar nicht bloß fürs ungebildete Volk oder für die gesellschaftliche Unterhaltung bestimmt sind, sondern den ganzen Verstand, die volle Liebe des Denkers und des Kenners in Anspruch nehmen, in denen der Reim dennoch sehr bedeutend ist, ja fast unentbehrlich scheint? Warum vermieden die Alten den Reim, die einzigen prosaischen Sprüchwörter ausgenommen, und dichteten auch in solchen Dichtarten, wie hier genannt werden, in den einfachsten Hymnen, den kunstlosesten Volksliedern, Gnomen und Mimen reimlos? Die Übereinstimmung so verschiedner Nationen wie die Neu-Römer und Neu-Griechen, die neuern Europäer und Araber scheint vielmehr eine Indikation zu sein, daß der Gebrauch des Reims, ohne Rücksicht auf Nationalcharakter, der modernen Poesie, wenigstens während der ersten Epochen dieser Ausbildung, wesentlich sei, nicht »bloß eine arabisch-provençalische Konvention« (S. 116). – Manche Dichter können den Reim nicht entbehren (S. 101, 103). Er ist ihnen ein Steuer, ein Ruder der Rede, ein Erwerbmittel der Gedanken, eine Werbtrommel, Bilder zu versammeln. »Nehmen Sie Pope, Cowley und ihren fünf Brüdern den Reim: so haben Sie ihnen Moses und die Propheten genommen.« So auch manche Sprachen, besonders die französische, nach Voltaires Zeugnis (S. 103). – »Die Silbenmaße der Griechen und Römer, sooft sie versucht worden, haben in Italien, Spanien und Frankreich ihr Glück nie machen mögen« (S. 110). – »Ein großer Nachteil für die europäische Kultur war die allenthalben mit fremden Sprachen vermischte, in ihr selbst verfallne römische Bauernsprache« (S. 143). »Die Sprache des Heiligtums war und blieb die lateinische« (S. 105). In jener gemeinen Sprache (lingua volgare), in der man längst Prose gesprochen hatte, ehe man sie durch Versarten mit abgezählten Silben und Reimen zu veredeln suchte (S. 104), konnte mit Mühe und Not auch nur eine vulgare Dichtkunst aufkommen (S. 143). Dagegen entwickelte sich durch und mit ihr Freiheit der Gedanken, wie die in der Provençalsprache entstandene erste Reformation beweist (S. 106, 107). »Die Poesie der Italiener ist akzentuierte Konversation« (S. 113). Gesang und gesellschaftliche Unterhaltung sind in ihr ursprünglich herrschend (S. 114-117, 122). »Sie hat etwas sich Anneigendes, Freundliches und Holdes, dem die vielen weiblichen Reime angenehm zu Hülfe kommen und es der Seele sanft einschmeicheln« (S. 115). – Erzählung und Repräsentation sind die beiden entschiedensten Charakterzüge der französischen Poesie (S. 112-131). In allem herrscht das Gesetz einer nationellen Konvention (S. 130). S. 144-155 ein Für und Wider über die drei Ingredienzien des Romans, Andacht, Tapferkeit und Liebe. »Die Hochachtung und zarte Behandlung des weiblichen Geschlechts, welche Araber und Normänner in Romane und Poesie brachten, die sich auch mit dem Dienst der heiligen Jungfrau und dem Christentum überhaupt wohl vertrug, eine eigentümliche Blume, welche Griechen und Römer eben nicht vorzüglich kultivierten« (S. 154). Durch die Bekanntschaft der neuern Poesie mit den Wissenschaften nimmt sie teil an dem Wachstum und dem Fortschreiten des menschlichen Geistes (S. 156, 157). – Aber bei aller Galanterie der Liebe, Ritterwürde und übertriebner Andacht fehlte es der Poesie des Mittelalters an Geschmack (VIII. Sammlung, S. 1, 6-9). Ihn zu erlangen, gab es nur ein Mittel, die Wiedererweckung der Alten (S. 2). »Sei es, daß die ersten Nachahmungen zu sklavisch waren, daß die erste Kritik sich zu sehr an die Worte hielt« (S. 5): man schrieb doch nicht bloß lateinisch, sondern man dachte auch hie und da klassisch (S. 3, 4). Selbst die neuere lateinische Poesie beförderte den Geschmack der Alten unter uns, und eine Gesellschaft der edelsten Männer aus allen Nationen wurde durch sie zusammengebracht (S. 11,12) usw. Einwendungen dagegen S. 15 folg. In jenen Zeiten, welche wir barbarische nennen, vor der sogenannten Erweckung der Alten, gab es einen Dante (S. 15,16). Shakespeare nahm in seinen rührendsten Stücken Form und Inhalt nicht aus den Alten, sondern aus der Denkart des Volks und seinem Geschmack in seinen und den mittleren Zeiten (S. 17). Die gelehrtesten Kenner der Alten sind oft die unglücklichsten Schöpfer gewesen, wie Trissino, Gravina, Maffei usw.; Cowley der Vater jener geschmacklosen, einer abenteuerlichen Einbildung vom Pindar nachgemachten Odengattung (S. 17, 18). »Wahre Kenner der Alten hat es immer nur wenige gegeben! – Am öftesten schauen wir sie wie Narzisse an, denken darauf, was wir über sie zu sagen haben, und bewundern unsre Gestalt in dem flüssigen Spiegel der alten heiligen Quelle« (S. 22, 23). Vortrefflich bemerkt und gesagt! – Was S. 24-40 über den Wert der Alten und des Studiums der Alten gesagt wird, muß hier schon um des Raums willen übergangen werden. Die einzige Bemerkung S. 39: daß in den Alten nicht bloß eine poetische, sondern auch eine logische und ethische Regel enthalten sei, enthält Stoff nicht zu einem, sondern zu vielen Büchern, wenn die Gültigkeit und Echtheit der Regel nicht bloß legalisiert, sondern legitimiert werden soll. – »Merkwürdig ist es, daß in eben dem Jahrhunderte, in dem das Lumpenpapier in Gebrauch kam, auch jene längeren Romane hervortraten, die vorher jahrhundertelang kurze Volksmärchen oder Lieder und Fabeln gewesen waren« (S. 48). Wirkungen der Buchdruckerei (S. 50-62). – »Alles lieset alles« (S. 59). »Aus allen Völkern wird für alle Völker, aus allen Sprachen für alle Sprachen geschrieben; die subtilste Abstraktion und die niedrigste Popularität finden in demselben Buch, oft auf derselben Seite, nebeneinander Raum« (S. 58). Wirkungen der Reformation S. 65 folg. »Katholische Völker, Italiener, Spanier und andre hielten an ihrer alten Dichterweise« (S.67). In der protestantischen Welt dagegen kam eine neue Poesie auf. Philosophische Freimütigkeit engländischer Dichter. Die Reflexion ist die Muse der Briten (S. 67-70). – »Alles, was die Engländer Humour nennen, ist ein verzeihlicher Naturfehler, der nur zu einer National- und Zeitschönheit werden kann« (S. 75). (Daß das eigentliche Wort engländisch ist, deutet schon darauf, daß auch die Sache hier zur weitesten Herrschaft und feinsten Ausbildung gelangt sei. Doch ist auch der Witz andrer neuern Völker humoristisch; und wenn Humor nichts andres als sentimentaler Witz ist, so kann man den Wert desselben und die Grenzen seines Gebiets nicht enger einschränken als die des Sentimentalen überhaupt.) Die beschreibende Poesie wird S. 75 folg. streng, aber nicht ungerecht gewürdigt. Daß Pope gezeigt habe, worin die Poesie der Neueren am natürlichsten bestehe, nämlich in verifiziertem gesundem Verstande (S. 91), läßt sich doch wohl nicht behaupten, da alles, was unter den Neuern ohne Rücksicht auf fremde Muster und Theorie gedichtet ist, auf das Publikum am lebendigsten gewirkt hat und von den Kennern am meisten bewundert wird, grade das Entgegengesetzte von dem ist, was Pope und seinesgleichen sind und sein wollen (S. 107). – »Wir Deutsche kamen zu spät. Der Charakter unsrer Poesie ist Nachahmung« (S. 108). – »Dies war Natur der Sache: denn wir fanden viel Vortreffliches nachzuahmen« (S. 113). – »Wenn wir nur mit Besonnenheit nachahmten und von allen Völkern ihr Bestes uns eigen machten: so wären wir unter ihnen das, was der Mensch gegen alle die Neben- und Mitgeschöpfe ist, von denen er Künste gelernt hat« (S. 114). Bildsamkeit der deutschen Sprache. S. 115-117 wird Wieland mit der Ananas verglichen, die tausend feine Gewürze in ihrem Geschmack vereint. – »Es ist unwahr, daß die Deutschen so ganz charakterlos nachahmen. Allenthalben findet man denselben Reichtum an lehrenden Sprüchen und Sprüchwörtern, rechtlichen Verstand und treuherzigen Witz« (S. 118-120). »Woher fiel das Nachahmen der Deutschen oft so ungeschickt aus? Weil sie es allenthalben zu ehrlich meinten!« (S. 120). – Klopstock und Milton stehn einander gegenüber wie Moses und Christus, wie das Alte und Neue Testament. Eine seiner Oden ist nach dem Richtmaß der Alten mehr wert als sämtliche hochaufgetürmte britische Odengebäude (S. 126-128). »Wieland ein echter Jünger jener alten fröhlichen Wissenschaft, welchen der Geist der Sokratischen Schule selten verließ.« – »Goethe habe sich der Form der Alten durch eine teilnahmlose, genaue Schilderung der Sichtbarkeit und durch eine tätige Darstellung seiner Charaktere genähert« (S. 140). (Freilich wird man bei Goethe nie mit bloßer Teilnahme abgefertigt, wo man die Sache verlangt, und jede bis zum Klassischen vollendete Darstellung muß gefühllos scheinen, aber darum nicht eben auch sein, wie viele Gedichte Goethens beweisen können.) »Mangel an Kritik sollte die Krankheit nicht sein, an der der Deutsche litte; unsre Langsamkeit, unsre ruhige Überlegung macht uns, dächte ich, zu gebornen Kunstrichtern« (S. 147). – »Die Reformation, die von Deutschland ausging, war eine laut und scharf gesagte Kritik über eine Menge damals geltenden Unfugs« (S. 148). Kritischer Geist der deutschen Philosophie. Leibniz, Kant usw. – »Auch die Kritik ist ohne Genius nichts. Nur ein Genie kann das andre beurteilen und lehren« (S. 162). »Seit geraumer Zeit sind wir mit den schätzbarsten Produkten des Auslandes selbst im Felde der Kritik sehr unbekannt geblieben. Für die Bekanntschaft mit der engländischen Literatur ist uns mit Georg Forster viel gestorben« (S. 162-164). – Das Resultat (S. 171 folg.) leugnet, daß die Poesie verschiedner Zeiten und Völker verglichen werden könne, ja sogar, daß es einen allgemeinen Maßstab der Würdigung gebe. Aber ist dieses auch erwiesen? – Wenn noch kein tadelloser Versuch, das Feld der Poesie einzuteilen, vorhanden ist, muß diese Einteilung darum überhaupt unmöglich sein? – Die Methode (S. 182), jede Blume der Kunst, ohne Würdigung, nur nach Ort, Zeit und Art zu betrachten, würde am Ende auf kein andres Resultat führen, als daß alles sein müßte, was es ist und war.

[Schillers »Musenalmanach für das Jahr 1796«

An den Herausgeber »Deutschlands«,
Schillers Musenalmanach betreffend

(Fungar vice cotis.)

Gewöhnliche Zeitschriften denken, wenn sie ein Werk beurteilt haben, wie der König Ahasverus:

»Jetzt hab ich es beschlossen,
Nun geht's mich nichts mehr an.«

In der Voraussetzung, daß »Deutschland« auch in dieser Hinsicht, wie in jeder andern, keine gewöhnliche Zeitschrift sei, irre ich gewiß nicht. Ob ich aber imstande sei, nach der geistreichen Rezension im dritten Stücke noch etwas Bedeutendes, des Gegenstandes und des Ortes Würdiges über den Schillerschen Almanach zu sagen, das müssen Sie entscheiden.

Nur deswegen wünsche ich vorzüglich mit Ihnen über diese deutsche Angelegenheit unbefangen zu reden, weil der männliche Geist der Freiheit und Gerechtigkeit, welcher Ihre Zeitschrift belebt, mir Hochachtung, Zuneigung und Vertrauen einflößt.

Zuvor muß ich Ihnen noch den Gesichtspunkt andeuten, aus dem ich urteilen werde. Er wird Ihnen zugleich sagen: warum ich glaube, daß vorzüglich über einen Almanach mehrere Stimmen reden können; warum ich Ihrem wackern Rezensenten nicht beistimmen kann, wenn er die Epigramme, die er so treffend charakterisiert, aus einem Almanache verbannt wünscht; und warum ich es für unschicklich hielt, einen Neuffer oder Hölderlin und einen Schiller nach demselben Maßstabe zu würdigen.

Ein Musenalmanach ist eine poetische Ausstellung, wo zugleich der jüngere Künstler durch seine Versuche den aufmerksamen Kenner zu interessanten Vermutungen veranlaßt und der erfahrne Meister sich nicht auf eine bestimmte Gesellschaft einschränkt, sondern seine Werke dem öffentlichen Urteile aller Liebhaber unterwirft. Ein fruchtbarer Vereinigungspunkt für alle Freunde der Poesie, wenn eine strenge Auswahl, wie in dieser Sammlung, den Kunstrichter, welcher eigentlich nie ohne Rücksicht auf Art, Stil und Ton des Werks, Charakter, Kraft und Bildung des Künstlers urteilen soll, nur selten an die Pflicht der Schonung erinnert; wenn viele Meisterstücke auch die höchsten Erwartungen des echten Liebhabers befriedigen, der, ohne alle Nebenrücksicht, nach dem reinen Gesetze der Schönheit weit strenger würdigt!

Sehr wenige Stücke dieser Sammlung sind so arm an anziehender Kraft, daß es einen Entschluß kostet, bei ihnen zu verweilen, wie die Gedichte von Conz, noch wenigere so beleidigend, daß man gern bei ihnen vorübereilt. Auch diese enthalten doch irgend etwas Aussöhnendes; kaum eins oder das andere gehört wirklich nicht in die gute Gesellschaft, wie das 62., 66. und 73. Epigramm. Was sich der Schalk (Epigramm 61) insbesondre bei dem letzten gedacht haben mag, läßt sich schwerlich erraten.

Die Auswahl ist aber nicht bloß strenge, sondern auch (ein ungleich seltneres Verdienst!) liberal: nicht etwa bloß auf einen gewissen Ton gestimmt und auf eine Manier einseitig beschränkt, sondern dem Interessanten jeder Art gleich günstig. Eben daher die reiche Mannigfaltigkeit, durch welche sich der Schillersche Almanach unterscheidet.

Wieviel Abwechselung gewähren nicht allein die charakteristischen Nationallieder dieser Sammlung! – Das Vorzüglichste darunter, »Madera«, erreicht durch den einfachen Ausdruck stolzer Empfindsamkeit ganz den Ton der schönsten spanischen Romanzen. Das »Roß aus dem Berge« würde ihm den Preis entreißen, wenn die letzte Hälfte dem vortrefflichen Anfang entspräche. »Sidselil« von Kosegarten könnte rührend sein, wenn es von einigen widerlichen Zügen gereinigt und weicher gehalten wäre. Einige andre empfindungsvolle Gedichte desselben Verfassers sind von Überspannung und Überfluß nach seiner Art ungewöhnlich frei. Das »Lied eines Gefangnen« ist die immer noch anziehendste, aber weniger ergreifende Nachbildung eines alten spanischen Volksliedes, von dessen Anfang sich im Bürgerschen Almanach 92 eine Übersetzung findet.

An Epigrammen jeder Art ist die Ernte so reich, daß sich eine vollständige Theorie dieser merkwürdigen kleinen Dichtart, welche selbst durch Herder noch nicht erschöpft ist, daraus entwickeln ließe. Eins der schönsten Beispiele ist »Kolumbus«: unter den Beiträgen des Herausgebers das vollendetste. Schillers Hang zum Idealen hat sich auch in dieser Form nicht verleugnet und eine sehr glückliche Mischung veranlaßt. Man könnte dies Gedicht, in der Kunstsprache des Verfassers selbst, ein sentimentales Epigramm nennen. Zu dieser, wo ich nicht irre, ganz neuen Gattung gehören auch einige andre, sehr gute, aber weniger vollendete Schillersche Epigramme, wie »Odysseus« und »Zeus und Herkules«. Ebenso vollkommen, in einer durchaus verschiednen Art, ist »Das innre Olympia«, ein didaktisches Epigramm, von allen Gedichten der Ungenannten vielleicht das vollkommenste. Fehlte es diesen Dichtern nicht fast immer an sinnlicher Stärke, oft an Lebenswärme, selbst bei glänzender Farbengebung wie in »Parthenope«, so könnten sie auf den ersten Rang Ansprüche machen: denn diese Zartheit des Gefühls, Biegsamkeit des Ausdrucks und Bildung des Geistes sind des größten Meisters wert.

 

Für ein Epigramm scheint »Der Tanz« zu lang und gleichsam zu ernstlich, denn selbst das schönste Epigramm ist mehr ein der Aufbewahrung würdiges Bruchstück eines Gedichts, in einer verzeihlichen Spielart, als ein vollendetes Kunstwerk, in einer ursprünglich vollgültigen Art. Für eine Elegie ist die Einheit im »Tanze« nicht poetisch genug, und der Ton vereinigt die Weitschweifigkeit des Ovid mit der Schwerfälligkeit des Properz. Überhaupt scheint die Elegie, welche ein sanftes Überströmen der Empfindungen fordert, Schillers raschem Feuer und gedrängter Kraft nicht angemessen. Seine kühne Männlichkeit wird durch den Überfluß, wozu selbst der Rhythmus lockt, wie verzerrt. Fast könnte es scheinen, daß er in der schönen Zeit seiner ersten Blüte die ihm angemessene Tonart und Rhythmen unbefangner zu wählen und glücklicher zu treffen wußte. Würde er sich damals wohl ein Gedicht wie »Pegasus« verziehn haben? Ohne ursprüngliche Fröhlichkeit und eine wie von selbst überschäumende Fülle sprudelnden Witzes können komische und burleske Gedichte nicht interessieren, und ohne Grazie und Urbanität müssen sie beleidigen. Die Meisterzüge im einzelnen, wie die erste Erscheinung des Apollo, söhnen mit der Grellheit des Ganzen nicht aus. – In Langbeins Legende fehlt es wenigstens nicht an muntrer Laune, welche man nur hie und da von einigen Gemeinheiten befreien möchte.

Doch darf dies niemanden die Freude über Schillers Rückkehr zur Poesie verderben! Noch zur rechten Zeit ist er, mit gewiß unversehrter Kraft, aus den unterirdischen Grüften der Metaphysik wieder ans Tageslicht emporgestiegen. Der begeisterte Schwung, der hinreichende Fluß, welcher einige frühere Gedichte dieses großen Künstlers zu Lieblingen des Publikums machte, wird auch den »Idealen« viel warme Freunde verschaffen. An Bestimmtheit und Klarheit hat seine Einbildungskraft unendlich gewonnen. Ehedem war seine üppige Bildersprache »ein streitendes Gestaltenheer«, wie eine im Werden plötzlich angehaltne Schöpfung. Jetzt hat er den Ausdruck in seiner Gewalt. Nur selten finden sich noch solche nicht reif gewordne Gleichnisse wie in der dritten Strophe der »Macht des Gesanges« und Erinnerungen an jene sorglose Kühnheit, mit welcher er, was sich nicht gutwillig vereinigen ließ, gewaltsam zusammenfügte. Um die »Knoten der Liebe« und die »Säule der Natur« aus den »Idealen« zu tilgen, gäbe ich gern die »Würde der Frauen«. Diese im einzelnen sehr ausgebildete und dichterische Beschreibung der Männlichkeit und Weiblichkeit ist im ganzen monoton durch den Kunstgriff, der ihr Ausdruck geben soll. Entweder Voglers Musik ist nicht geschmacklos oder der Gebrauch des Rhythmus zur Malerei solcher Gegenstände läßt sich nicht rechtfertigen. Strenge genommen kann diese Schrift nicht für ein Gedicht gelten: weder der Stoff noch die Einheit sind poetisch. Doch gewinnt sie, wenn man die Rhythmen in Gedanken verwechselt und das Ganze strophenweise rückwärts liest. Auch hier ist die Darstellung idealisiert, nur in verkehrter Richtung, nicht aufwärts, sondern abwärts, ziemlich tief unter die Wahrheit hinab. Männer wie diese müßten an Händen und Beinen gebunden werden; solchen Frauen ziemte Gängelband und Fallhut.

Wer kehrt nicht gern zu den »Idealen« zurück! – Das Ende könnte vielleicht manchem beim ersten Eindrucke mager dünken. Aber der Meister in der Kunst läßt sich durch den leicht zu befriedigenden Hang, recht voll zu schließen, nicht über die Grenze der Wahrheit locken. Wider die letzte Strophe, glaube ich, läßt sich nichts einwenden. Nur in der vorletzten scheint ein kleiner Drucker, der oft sehr viel wirken kann, zu fehlen. Der Dichter mag es bei der Freundschaft verantworten, daß er sie als einen bloßen Notbehelf so dürftig nachhinken läßt. Vielleicht ist es die »erstarrte Frucht« in der zweiten und das »finstere Haus« in der vorletzten Strophe, was die Störung ursprünglich veranlaßt. Der Schmerz über den Verlust der Jugend, die Furcht vor dem Tode sind, so nackt und roh, wie sie hier gegeben werden, nicht dichterisch. Überdem stimmt jenes mit der wehmütigen, aber immer noch genußreichen Erinnerung, die im Ganzen herrscht, überein.

Eine ähnliche Störung macht die prosaisch geäußerte Furcht vor dem »kalten Besinnen« im »Frühlinge«, dem schönsten Stücke von Sophie Mereau, deren Gedichte sich sonst durch liebliche Fülle und leichten Schwung auszeichnen. – Mehr als diese kleinen Flecken schaden den »Idealen« wohl die vierte und fünfte Strophe. Was hier dargestellt wird, ist nicht die frische Begeisterung der rüstigen Jugend, sondern der Krampf der Verzweiflung, welche sich absichtlich berauscht, zur Liebe foltert und mit verschloßnen Augen in den Taumel eines erzwungnen Glaubens stürzt. Zwar kann diese unglückliche Stimmung auch mit der höchsten Jugendkraft gepaart sein, wo vernachlässigte Erziehung die reinere Humanität unterdrückte. Doch ist sie hier nicht poetisch behandelt und mit dem Ganzen in Harmonie gebracht. Schillers Unvollendung entspringt zum Teil aus der Unendlichkeit seines Ziels. Es ist ihm unmöglich, sich selbst zu beschränken und unverrückt einem endlichen Ziele zu nähern. Mit einer, ich möchte fast sagen, erhabnen Unmäßigkeit drängt sich sein rastlos kämpfender Geist immer vorwärts. Er kann nie vollenden, aber er ist auch in seinen Abweichungen groß.

Meisterhaft und einzig sind vorzüglich in der dritten Strophe der »Ideale«, wie auch in der »Würde der Frauen«, ja in allen Schillerschen Gedichten, abgezogne Begriffe ohne Verworrenheit und Unschicklichkeit belebt. An dieser gefährlichen Klippe werden noch manche scheitern. Wer kann ernsthaft bleiben, wenn der Dichter Lappe in die begeisterte Frage ausbricht (S. 47): »Wann dehnt sich meiner Seele Flügel? Wann schlüpf ich aus der Sinnlichkeit?«

Glücklicher ist Woltmann in der »Kunst«. Übrigens ist er seiner alten Vorliebe für die Elfen treu geblieben. Nur finden sich hier zur Abwechslung auch Sylphen. Gibt es weder Geister noch Gespenster, so kann man doch sicher auf Duft und Dämmerung rechnen. Schade, daß die schöne und seltne Gabe der Weichheit in zarten Bildern und Empfindungen, in fließender Sprache und gefälligen Rhythmen hier mit einer, wie es scheint, hartnäckig bleibenden Unreife gepaart ist. In Meyers wunderbar süßen Tändeleien hingegen ist das leiseste Gefühl mit der feinsten Ausbildung vereinigt. Seine vorzüglichsten Stücke sind »Biondina« und »Die Boten«: im »Weltgeist« vermisse ich Wärme und eine dem Stoffe gewachsene Kraft.

Schillers erste der »Stanzen an den Leser« ist wunderschön.

 

Aber auf diesen Anfang voll Wärme und wahrer Würde erscheinen die folgenden Strophen, ihrer Anmut ohngeachtet, unschicklich, weil man etwas mehr als eine leere Verbeugung erwartet.

Unter Goethes Gedichten scheint mir »Der Besuch« das vorzüglichste. Andre, selbst das so anziehende »Meeresstille«, würden vielleicht erst in dem vollständigen Zusammenhang, aus dem sie entrückt sein mögen, ihre volle Wirkung tun. Die kophtische Weisheit erinnert an vieles, unter andern auch an die harmonische Ausbildung des Adligen und Komödianten, worüber der liebenswürdige Wilhelm im dritten Bande der »Meisterischen Lehrjahre« so gutmütig schwatzt. Die »Epigramme«, in denen der größte Dichter unsrer Zeit unverkennbar ist, sind in der Tat eine Rolle, reichlich mit Leben ausgeschmückt, »voll der lieblichsten Würzen«.

Am meisten Ähnlichkeit hat die Würze dieser Epigramme mit dem frischen Salze, welches im Martial, nur zu sparsam, ausgestreuet ist. In andern, wie im 87., atmet eine zarte Griechheit und überall jener echt deutsche, unschuldige, gleichsam kindliche Mutwillen, von dem sich in einigen epischen Stücken der Griechen etwas Gleiches findet. Man rezensiert an diesem Büchlein nicht lange, aber im Lesen kommt man nicht davon. Es ist eine äußerst ergötzliche Unterhaltung, bei der man sich nur vor allzu gläubiger Nachsicht zu hüten hat.

Schiller und Goethe nebeneinanderzustellen kann ebenso lehrreich wie unterhaltend werden, wenn man nicht bloß nach Antithesen hascht, sondern nur zur bestimmtem Würdigung eines großen Mannes auch in die andre Schale der Waage ein mächtiges Gewicht legt. Es wäre unbillig, jenen mit diesem, der fast nicht umhinkann, auch das geringste in seiner Art rein zu vollenden, der mit bewundernswürdiger Selbstbeherrschung, selbst auf die Gefahr, uninteressant und trivial zu sein, seinem einmal bestimmten Zwecke treu bleibt, als Dichter zu vergleichen. Schillers Poesie übertrifft nicht selten an philosophischem Gehalte sehr hochgeschätzte wissenschaftliche Werke, und in seinen historischen und philosophischen Versuchen bewundert man nicht allein den Schwung des Dichters, die Wendungen des geübten Redners, sondern auch den Scharfsinn des tiefen Denkers, die Kraft und Würde des Menschen. Die einmal zerrüttete Gesundheit der Einbildungskraft ist unheilbar, aber im ganzen Umfange seines Wesens kann Schiller nur steigen und ist sicher vor der Flachheit, in die auch der größte Künstler, der nur das ist, auf fremdem Gebiete in Augenblicken sorgloser Abspannung oder mutwilliger Vernachlässigung, in der Zwischenzeit von jugendlicher Blüte zu männlicher Reife oder im Herbste seines geistigen Lebens versinken kann.

Nebst ihm hat Goethe die meisten Beiträge zu dieser Sammlung geliefert. Für die Fortsetzung derselben erregt beider glückliche Vereinigung die lebhaftesten Wünsche und die angenehmsten Hoffnungen. Überhaupt und auch in der Kunst darf nur durch eine günstige Veranlassung die vernachlässigte Mitteilungsfähigkeit der Deutschen geweckt werden, und die Höhe unsrer vereinzelten Bildung wird sich überraschend zeigen.

[Tiecks »Don-Quixote«-Übersetzung]

Die bisher in Deutschland gangbare Übersetzung des »Don Quixote« war ganz spaßhaft zu lesen, nur fehlte – die Poesie, sowohl die in Versen als die der Prosa, und somit der Zusammenhang des Werks, in dem eben nicht viel mehr, aber auch nicht weniger Zusammenhang ist wie in einer Komposition der Musik oder der Malerei. Don Quixotes schöner Jähzorn und hochtrabende Gelassenheit verlor oft die feinsten Züge, und Sancho nähert sich dem niedersächsischen Bauer.

Ein Dichter und vertrauter Freund der alten romantischen Poesie wie Tieck muß es sein, der diesen Mangel ersetzen und den Eindruck und Geist des Ganzen im Deutschen wiedergeben und nachbilden will. Er hat den Versuch angefangen, und der erste Teil seiner Übersetzung zeigt zur Genüge, wie sehr es ihm gelingt, den Ton und die Farbe des Originals nachzuahmen und, soweit es möglich ist, zu erreichen. Auch viele Stellen von denen, die fast unübersetzlich scheinen können, sind überraschend glücklich ausgedrückt. Doch ist die Übersetzung keineswegs im einzelnen ängstlich treu, obgleich sie es in Rücksicht auf das Kolorit des Ganzen auf das gewissenhafteste zu sein strebt. Daher ist in den Gedichten der Nachbildung des Silbenmaßes, welches beim Cervantes immer so bedeutsam ist, lieber etwas von der Genauigkeit des Sinns aufgeopfert. Was man hierin von dem Übersetzer hoffen dürfe, sieht man aus dem meisterhaft übersetzten Gedichte S. 417. Auch in dem Gedicht des Chrysostomus ist der Ton des Ganzen sehr gut getroffen. Die Prosa scheint, je weiter das Werk fortrückt, immer ausgebildeter und spanischer zu werden; auch die einzelnen Härten werden seltner.

Es fragt sich also nur, ob der Leser wird in den Gesichtspunkt des Übersetzers eingehn wollen, ob er sich, mit einem Worte, entschließen kann, den »Don Quixote« auch noch in andern Stunden als denen der Verdauung zu lesen, welcher bekanntlich alles, was nicht zu lachen macht, vorzüglich ernsthafte oder gar tragische Poesie, so leicht nachteilig wird. Wir wollen ihn also mit ebensoviel Nachdruck als Ergebenheit gebeten haben, den Cervantes für einen Dichter zu halten, der zwar im ersten Teile des »Don Quixote« die ganze Blumenfülle seiner frischen Poesie aus des Witzes buntem Füllhorn in einem Augenblicke fröhlicher Verschwendung mit einem Male ausgeschüttet zu haben scheint, der aber doch auch noch andre ganz ehr- und achtbare Werke erfunden und gebildet hat, die dereinst wohl ihre Stelle im Allerheiligsten der romantischen Kunst finden werden. Ich meine die liebliche und sinnreiche »Galathea«, wo das Spiel des menschlichen Lebens sich mit bescheidner Kunst und leiser Symmetrie zu einem künstlich schönen Gewebe ewiger Musik und zarter Sehnsucht ordnet, indem es flieht. Es ist der Blütenkranz der Unschuld und der frühsten, noch schüchternen Jugend. Der dunkelfarbige »Persiles« dagegen zieht sich langsam und fast schwer durch den Reichtum seiner sonderbaren Verschlingungen aus der Ferne des dunkelsten Norden nach dem warmen Süden herab und endigt freundlich in Rom, dem herrlichen Mittelpunkt der gebildeten Welt. Es ist die späteste, fast zu reife, aber doch noch frisch und gewürzhaft duftende Frucht dieses liebenswürdigen Geistes, der noch im letzten Hauch Poesie und ewige Jugend atmete. Die »Novelas« dürfen gewiß keinem seiner Werke nachstehn. Wer nicht einmal sie göttlich finden kann, muß den »Don Quixote« durchaus falsch verstehn. Daher sollten sie auch zunächst nach diesem übersetzt werden. Denn übersetzen und lesen muß man alles oder nichts von diesem unsterblichen Autor.

 

Da man schon anfängt, den Shakespeare nicht mehr für einen rasend tollen Sturm-und-Drang-Dichter, sondern für einen der absichtsvollsten Künstler zu halten, so ist Hoffnung, daß man sich entschließen werde, auch den großen Cervantes nicht bloß für einen Spaßmacher zu nehmen, da er, was die verborgne Absichtlichkeit betrifft, wohl ebenso schlau und arglistig sein möchte wie jener, der, ohne von ihm zu wissen, sein Freund und Bruder war, als hätten sich ihre Geister in einer unsichtbaren Welt überall begegnet und freundliche Abrede genommen.

Nur noch eine Bemerkung über die Prosa des Cervantes, von der ich schon vorhin erwähnte, daß auch Poesie in ihr sei und daß der Übersetzer ihren Charakter sehr glücklich nachgebildet habe. Ich glaube, es ist die einzige moderne, welche wir der Prosa eines Tacitus, Demosthenes oder Plato entgegenstellen können. Eben weil sie so durchaus modern wie jene antik und doch in ihrer Art ebenso kunstreich ausgebildet ist. In keiner andern Prosa ist die Stellung der Worte so ganz Symmetrie und Musik; keine andre braucht die Verschiedenheiten des Stils so ganz, wie Massen von Farbe und Licht; keine ist in den allgemeinen Ausdrücken der geselligen Bildung so frisch, so lebendig und darstellend. Immer edel und immer zierlich, bildet sie bald den schärfsten Scharfsinn bis zur äußersten Spitze und verirrt bald in kindlich süße Tändeleien. Darum ist auch die spanische Prosa dem Roman, der die Musik des Lebens fantasieren soll, und verwandten Kunstarten so eigentümlich angemessen wie die Prosa der Alten den Werken der Rhetorik oder der Historie. Laßt uns die populäre Schreiberei der Franzosen und Engländer vergessen und diesen Vorbildern nachstreben!

Versteht sich, die spanische Prosa des Cervantes. Denn dieser war wohl auch hierin einzig. Die Prosa seines Zeitgenossen Lope de Vega ist roh und gemein, die des wenig spätem Quevedo schon durch das Übertriebene herbe und hart und von einer kaum genießbaren Künstlichkeit.

 


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