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Drittes Kapitel.
Jammer einer Mutter

Am andern Morgen, bald nach drei Uhr, da noch kaum die erste Morgenhelle zu bemerken war, nahm der gutherzige Pächter Lorenz den Korb mit den Hühnern, hängte ihn an seinen Reisestab, schwang ihn über die Schulter, und wanderte mit eiligen Schritten Waldenberg zu. Der rüstige Mann kam deßhalb auch sehr bald wieder zurück.

Als es eben auf dem Thurme zu Ellersee sieben Uhr schlug, trat er mit dem leeren Korbe und dem erlösten Gelde schon wieder in seine Stube. Johanna stand eben am Butterfasse. Er setzte sich auf den nächsten Stuhl, und wischte sich den Schweiß ab. »Ich habe eben ausgerührt« sagte Johanna. »Sieh, da hast du ein Glas Buttermilch, nebst einem Stücke Brod. Erzähle mir nun, was du in Waldenberg erfahren hast.«

»Die Frau Hirschwirthin,« sagte Lorenz, »erzählte mir die Geschichte sehr ausführlich; ich will sie etwas kürzer fassen. Schon am Morgen des vergangenen Tages sah man durch Waldenberg eine Menge Kutschen und Leiterwagen fahren; alle waren gedrängt voll Menschen, die sich vor den herannahenden französischen Kriegsheeren flüchteten. Gegen Mittag kamen so viele Kutschen mit französischen Ausgewanderten, daß sie in den Wirthshäusern des Ortes kaum mehr ein Unterkommen finden konnten. Die bedauernswerthen Leute wollten bloß ein kleines Mittagsmahl nehmen, und sobald ihre Pferde gefüttert waren, eilig wieder weiter fahren. Ludwigs Mutter, eine schöne Frau, von zartem, feinem Aussehen, befand sich unter ihnen. Als es Zeit zum Essen war, rief sie dem Knaben, dem sie erlaubt hatte, in den Garten hinab zu gehen; allein es war nichts mehr von ihm zu sehen, noch zu hören. Indem sie überall, in dem Garten, auf der nahen Wiese und auf der Gasse ihn ängstlich suchte, kamen plötzlich einige österreichische Dragoner in das Dorf gesprengt, und sagten, daß die französischen Husaren sogleich nachkommen würden. Man hörte in einiger Entfernung scharf schießen. Es entstand ein allgemeiner Schrecken und ein großes Getümmel. Die ausgewanderten Franzosen sprangen eilends vom Tische auf, und befahlen, augenblicklich anzuspannen. Einige Herren halfen selbst mit, die Pferde anzuschirren und aus dem Stalle zu führen. Die Angst und der Jammer der bekümmerten Mutter aber waren unbeschreiblich. Sie war blaß wie eine Leiche, und lief, die Hände ringend und mit zerstreuten Haaren umher; sie bat, uneingedenk, daß die Leute die französische Sprache nicht verstanden, mit heißen Thränen und aufgehobenen Händen alle Menschen, die ihr im Hause und auf der Straße begegneten, ihr den Knaben suchen zu helfen. Indeß hörte man immer furchtbarer schießen; es fiel Schuß auf Schuß bereits sehr nahe an den Hecken und Weingärten des Dorfes. Die Reisegefährten der Frau wollten sie bereden, abzureisen, indem sie sonst in Gefahr stehe, gefangen nach Frankreich ausgeliefert zu werden. Allein sie sagte: »Lieber will ich sterben, als mein Kind im Stiche lassen.«

»Einer der Ausgewanderten, ein ältlicher Mann, versicherte sie, der Kleine sey mit seinen Gespielen in der Kutsche, die in dem nächsten Gasthofe angehalten, sogleich bei dem ersten Lärmen abgefahren. Die Frau lief sogleich selbst hinüber in den Gasthof, und fragte, ob das auch gewiß sey. Die Wirthsleute sagten: »Ja, ganz gewiß!« – Ob die Leute die Frau nicht recht verstanden haben, oder ob der alte Mann, der sehr um die Frau bekümmert schien, die Leute nur angelernt habe, die Frau zu hintergehen, damit sie nicht in Gefangenschaft oder gar um das Leben komme, weiß ich nicht. Die arme Mutter wurde, todtenbleich und fast ohnmächtig, von dem zitternden Greise in den Reisewagen gehoben. Als der Wagen zu dem Dorfe hinaus fuhr, ritten die französischen Husaren auf der andern Seite des Dorfes herein und setzten sich zur Mahlzeit nieder, von der die Geflüchteten, beinahe ohne Etwas davon zu kosten, aufgestanden waren.«

»Das ist sehr traurig,« sagte Johanna; »aber sag' doch, wer ist die unglückliche Mutter? Wie heißt sie? Und was ist sie sonst für eine Frau?«

Lorenz sagte: »Man nannte sie bloß Madame Düval. Sie schien ehemals reich gewesen zu seyn; aber nun scheint sie arm und dürftig. Ihre Kleidung von aschenfarbenem Kattun war nur ganz einfach, wiewohl sehr reinlich. Sie trug weder Gold, noch Spitzen. Die Kutsche, in der sie kam, war ganz gemein, und ihr Koffer sehr klein. Auch das Mittagsmahl, das sie für sich, ihren Ludwig und jenen alten Mann bestellt hatte, war gar nicht prächtig, ja sogar etwas sparsam. Die Hirschwirthin, die französisch spricht, und mir dieses Alles erzählte, konnte übrigens die Frau nicht genug loben, wie verständig und bescheiden sie sey.«

»Ach die arme Mutter!« seufzte Johanna, indem ihr die hellen Thränen über die Wangen flossen. »Wie groß wird ihr Schrecken seyn, wenn sie jene Kutsche einholt, und ihren geliebten Ludwig nicht darin findet. Wegen der nachsetzenden Kriegsheere kann sie nicht zurück kehren, ihn aufzusuchen; sie weiß nicht, wie es ihm unter einem fremden Volke ergehen werde. Sie muß fürchten, ihn lange Zeit, oder gar nicht mehr zu sehen. Wahrhaftig, sie muß einen Todeskummer empfinden.«

»Ich bedauere die gute Frau von ganzem Herzen sprach Lorenz; »aber wo ist denn ihr Sohn, der kleine Ludwig? Ist er noch nicht aufgestanden?«

»Ach,« sagte die Mutter, »das gute Kind schläft noch sanft und süß. Ich habe eben nach ihm gesehen. Der arme Kleine wird sehr bestürzt seyn, seine Mutter vielleicht Jahre lang nicht mehr zu sehen.«

Lorenz sprach etwas bekümmert: »Allein was fangen wir indessen mit dem Kinde an?«

»Das gibt sich von selbst!« sagte Johanna. »Gott hat uns das Kind zugeführt – und so behalten wir es, bis die Mutter wieder kommt, und das Kind wieder abholt. Ich denke, Gott hat es so gefügt, daß du eben nicht weit von dem alten Eichbaume vorbei gehen mußtest, als das Kind unter dem Baume so herzlich betete.«

»Das denke ich auch!« sagte Lorenz. »Aber wenn der Krieg viele Jahre lang dauern, und die Mutter gar nicht mehr zurück kommen würde, wenn sie auf ihrer traurigen Flucht, auf der sie sicher Vieles auszustehen hat, erkranken und sterben sollte, – was machen wir dann mit dem Kinde?«

»Dann erziehen wir den armen Kleinen mit unsern Kindern,« sagte Johanna. »Wo Sechse essen, ißt das Siebente auch mit – ohne großen Aufwand. Gott wird uns das Wenige, das wir haben, wenn wir es mit einem armen Kinde theilen, um so reichlicher segnen. Derjenige, der mit fünf Broden fünf tausend Mann in der Wüste speiste, lebt noch!«

»Das ist wahr,« sagte Lorenz. »Allein wenn gute Leute, die reicher sind, als wir, sich des Kindes erbarmen und es aufnehmen wollten, so wäre es mir doch lieb!«

»Wenn sich solche Leute fänden, und sich selbst dazu erböten,« sagte Johanna, »so wäre mir das vielleicht auch recht. Allein bitten wollen wir sie nicht darum. Die reichsten Leute sind nicht immer die freigebigsten. Und auch die Freigebigsten unter ihnen könnten zwar mehr für den armen Knaben thun, als wir, aber mit willigerm Herzen könnten sie es gewiß nicht thun. Ich fühle einmal ein Mutterherz zu dem Knaben, und du, liebster Lorenz, – ich weiß es gewiß – bist nicht weniger liebreich gegen denselben gesinnt; du hast sicher ein Vaterherz für ihn.«

»Das wohl!« sagte Lorenz, und fing nun an zu rechnen. ob sie bei dem geringen Ertrage ihres kleinen Pachtgutes so viel erübrigen könnten, den Knaben zu ernähren und zu kleiden. Lorenz kam aber mit seiner Rechnung nicht zurecht.

Allein Johanna unterbrach ihn, und sagte: »Wenn man etwas Gutes thun will, muß man nicht gar so genau rechnen; man muß dem Lieben Gott auch Etwas zutrauen. Ich dachte schon immer, wenn unser kleiner Konrad uns verloren ginge, und unter landfremden Menschen, etwa in Frankreich, hülflos und verlassen umher irrte – nicht wahr, da wünschten wir wohl recht herzlich, daß gute Menschen sich seiner erbarmen, und ihm unter ihrem Dache und bei ihren Kindern ein Plätzchen gönnen möchten! Nun, was wir wollen, daß man uns thue, das sollen wir auch Anderen thun.« Die Thränen standen ihr in den Augen, als sie dieses sagte.

Lorenz sprach sehr gerührt: »Ich wollte das Kind ja von Herzen gern annehmen und erziehen; allein da wir selbst nichts Ueberflüssiges haben, so können wir das doch kaum thun.«

»Ei«, sagte Johanna, »wir Menschen können mehr, als wir manchmal meinen! Du wolltest mir ja auf dem nächsten Jahrmarkte ein neues Kleid kaufen; laß das gut seyn, und verwende das Geld für den armen Ludwig!«

»Du bist doch eine eben so verständige als gutherzige Frau!« rief Lorenz, indem seine bedenklichen Mienen verschwanden, und seine gewöhnliche Fröhlichkeit wieder sein ganzes Gesicht erheiterte. »Ja, ja,« sagte er, »so wollen wir es machen; und auch ich will mich mit meinem alten Sonntagsrocke noch ein Jahr länger behelfen. So ist einstweilen für den Knaben gesorgt. Wir wollen ihn also behalten. Der liebe Gott wird weiter sorgen!«

In diesem Augenblicke trat der kleine Ludwig, völlig angekleidet, zur Thüre herein, wünschte Beiden, sehr freundlich guten Morgen, und bat Lorenz, nun sogleich zu satteln, und mit ihm zu seiner Mama zu reiten.

»Lieber Ludwig!« sagte Lorenz, »deine Mutter ist schon gestern Mittags von Waldenberg abgereist, und jetzt viele Meilen weit von uns entfernt. Sie war sehr bekümmert um dich; allein sie konnte nicht dort bleiben. Die Husaren vertrieben sie. Jetzt stehen mächtige Kriegsheere zwischen ihr und uns, so, daß wir jetzt unmöglich zu ihr kommen können.«

Der gute Ludwig fing an schmerzlich zu weinen; er schluchzte vor Jammer und inniger Betrübniß. Mutter Johanna setzte sich auf die Bank, stellte den weinenden Knaben zwischen ihre Knie, trocknete mit dem kleinen, weißen Taschentuche, das er bei sich hatte, ihm die Thränen ab, und sagte liebreich: »Weine nicht, liebster Ludwig! Habe eine kleine Weile Geduld; dann wirst du deine liebe Mutter wieder sehen und dann eine desto größere Freude haben. Indessen will ich deine Mutter seyn, so wie mein Mann sich als Vater gegen dich erweisen wird. Alle meine Kinder werden dich lieben, als wärest du ihr Bruder. Alles, was wir haben, wollen wir mit dir theilen!«

Allein Ludwig wollte sich nicht trösten lassen, und hörte nicht auf zu weinen. Da versuchte Johanna ein anderes Trostmittel. Sie ging mit ihm hinaus in den Hof am Hause, und sagte zu Lorenz, er solle das Füllen aus dem Stalle führen. Lorenz that es. Ludwig hatte noch nie in seinem Leben ein junges Pferd gesehen, und wußte nicht, daß dieses Pferdchen noch gar so jung sey. Er rief daher voll Erstaunen: »Ei, ein kleines Pferd! Ein kleines Pferd!« Er betrachtete das hübsche Thierchen, das kaum drei Monate alt war, mit großem Wohlgefallen, und versicherte, die Pferde, die er in der Stadt und auf der Reise gesehen habe, seyen alle sehr groß; dies kleine Pferd aber finde er viel artiger. Lorenz setzte ihn auf das Pferdchen, und führte es in dem Hofe auf und ab. Ludwig hatte eine ganz ungemeine Freude, das erste Mal zu Pferde zu sitzen, und zwar auf einem so kleinen, niedlichen Pferde, das ganz für ihn geschaffen schien. Aller Jammer war vergessen. Er sagte, wiewohl seine Wangen noch von Thränen naß waren, mit lachendem Munde: »Auf diesem Pferde werde ich morgen oder übermorgen zu meiner Mutter galoppiren.«

»Dieß,« sagte Johanna zu Lorenz, »hat geholfen, und die Traurigkeit des Knaben auf einmal in Freude verwandelt. Um bei einem Kinde eine Empfindung, die unangenehm oder gar unrecht ist, zu überwinden, muß man sie nicht geradezu bestreiten, sondern das Kind auf andere Gedanken zu bringen und in ihm andere Empfindungen zu erregen suchen. Dies thut auch bei Erwachsenen gut, wie ich es öfter an mir selbst erfahren habe. Wann mir etwas im Kopfe herum geht, singe ich ein fröhliches Liedchen oder plaudere mit meinen Kindern von etwas Anderem, oder erzähle ihnen ein Geschichtchen; oder ich sehe in dem Garten nach, wie schön Alles wachse und gedeihe, oder wie schön draußen auf dem Acker der Flachs gerathe, und wie lieblich er blühe. Neulich war ich gar übel aufgeräumt; da brachte mir die kleine Lise ganz unerwartet einen Strauß von den ersten Maienblümchen, und ich wurde sogleich wieder aufgeheitert und der besten Laune. Freilich, wann schwerere Sorgen oder Leiden der Erde uns danieder drücken, da hilft so Etwas nicht mehr! Allein dann erhebe ich meine Gedanken zum Himmel, und denke an den lieben Gott, der für uns Alle sorgt, und nach den kurzen Leiden dieser Erde uns ewige Freuden gibt. Da wird es denn sogleich besser mit mir, und ich bin wieder getrost, heiter und fröhlich.«

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