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Ludwig machte sich am folgenden Tage eine große Angelegenheit daraus, den Herrn Pfarrer zu besuchen. Er bürstete seinen blauen Frack reinlich aus, und bat seine Pflegemutter, ihm seine langen Haare zierlich auszukämmen. Er nahm, nachdem er erst um Erlaubniß gebeten, des kleinen Konrads Strohhut, indem es sich nicht schicke, ohne Hut Besuche zu machen. Johanna sagte, der einfache Strohhut werde sich wohl nicht zu dem schönen Kleide schicken. Allein Ludwig versicherte, das schicke sich sehr wohl; es sey eben jetzt die neueste Mode. Er ging nun in das Pfarrhaus, ließ sich bei dem Herrn Pfarrer erst melden, trat dann mit feinem Anstande und einer Verbeugung in das Zimmer, und sagte in französischer Sprache, er komme, dem Herrn Pfarrer seine Aufwartung zu machen, und ihm für die Güte, mit welcher gestern Abends der Herr Pfarrer; sich für ihn verwendet habe, nochmal zu danken.
Der Pfarrer, ein ehrwürdiger Greis und ein großer Kinderfreund, verstand die französische Sprache sehr gut, und hatte in seiner Bibliothek auch mehrere französische Bücher, die er sehr schätzte und sehr oft darin las; allein französisch reden konnte er nicht, weil er auf dem abgelegenen Dorfe, in dem er bereits vierzig Jahre lebte, nie Gelegenheit gehabt hatte, sich darin zu üben. Er hieß also den Knaben in deutscher Sprache willkommen, ließ ihn neben sich auf das Kanapee sitzen, und sagte zu ihm: »Wiewohl ich, mein lieber Ludwig, bloß in deutscher Sprache mit dir reden kann, so verstehe ich deine Sprache dennoch sehr wohl; zumal du eine sehr deutliche und reine Aussprache hast. Rede du also immerhin mit mir französisch; ich werde, da du von unserer Sprache das Meiste verstehst, dir deutsch antworten, jedoch hie und da mit einem französischen Worte nachhelfen.« Das war dem kleinen Ludwig sehr lieb, und er war nun sehr beredt.
Dem Pfarrer ging es sehr zu Herzen, daß der zarte, liebenswürdige Knabe von seiner Mutter getrennt worden, und in einem fremden Lande leben mußte. Er unterredete sich daher sehr liebreich und freundlich mit ihm, that mancherlei Fragen an ihn, und überzeugte sich, daß Ludwig eine sehr gute Erziehung genossen habe, und daß seine Mutter eine sehr edle und gebildete Frau seyn müsse.
»Nun, lieber Ludwig,« fragte der Pfarrer unter Anderm, »hast du auch schon angefangen, lesen zu lernen?«
»O ja,« sagte Ludwig; »ich kann französisch lesen, aber deutsch nicht.«
Der Pfarrer holte aus seinem Büchergestelle ein französisches Buch, das für Kinder geschrieben war, legte es offen vor Ludwig hin, zeigte mit dem Finger auf eine kleine Erzählung, und sprach: »Sieh, da lies einmal!« Ludwig las mit großer Fertigkeit und vielem Ausdruck.
»Wer hat dich so schön und gut lesen gelehrt, lieber Ludwig?« fragte der Pfarrer, nicht ohne Verwunderung.
»Meine Mutter,« antwortete Ludwig; »ich hatte außer ihr nie einen Lehrmeister.«
Der Pfarrer hätte nun auch gern gewußt, ob der Knabe in der Religion unterrichtet sey, und that deßhalb mehrere Fragen an ihn. Ludwig beantwortete alle sehr gut, ja mit Andacht und gerührtem Herzen. Mit besonderer Rührung sprach er von der Güte Gottes gegen die Menschen, von der göttlichen Vorsehung, die Alles, auch die Leiden, den Menschen zum Besten lenkt, vom Vertrauen auf Gott und dem Gebete, und von dem bessern Leben dort in jener Welt, im Himmel, wo wir einst Alle hinkommen, wenn wir das thun, was der himmlische Vater uns durch seinen lieben Sohn zu thun befohlen hat.
Der Pfarrer war sehr erfreut und sagte: »Ich sehe wohl, deine Mutter hat dir jene Lehren besonders eingeprägt, mit denen sie in ihrem Leiden sich tröstete, und die auch wirklich in allen Leiden uns den besten Trost gewähren. Du hast eine sehr fromme, gute Mutter, liebster Ludwig!«
»O sie ist so gut, so gut,« sagte Ludwig mit Thränen in den Augen, »und hat mich so lieb, daß ich es gar nicht aussprechen kann! Sie ist auch recht fromm! Jeden Morgen und Abend betete sie mit mir, – besonders für den Vater, daß wir ihn wieder finden mögen, und dann alle Drei wieder mit einander in unser Vaterland zurück kehren dürfen. – Ach, die liebe Mutter war oft recht traurig, daß wir so aus unserm Vaterlande verstoßen wurden, und daß wir wegen des Krieges nicht zu meinem Vater kommen können. Ja, die Leute wußten gar nicht, wie traurig sie oft war. Wann sie Besuch bekam, war sie zwar immer heiter und klagte nie. Aber wann sie in dem Zimmer so allein an ihrem Arbeitstischchen saß, da seufzte sie oft, und blickte mit nassen Augen zum Himmel!«
»Nun,« sagte der Pfarrer, »Gott wird ihr frommes Gebet und auch dein kindliches Flehen erhören!«
»Das glaube ich auch,« sagte Ludwig, »allein ich weiß nicht, was das ist! Als ich dort im Walde betete, erhörte mich Gott gleich, und schickte mir den Lorenz zu. Allein es ist heute schon der dritte Tag, seit ich beständig bete, der liebe Gott wolle mich doch wieder zu meiner Mutter führen. Allein Er scheint gar nicht darauf zu achten. Ich begreife gar nicht, warum Er mich so lange vergebens bitten läßt. Wenn ich an seiner Stelle wäre, ich würde die Menschen sogleich erhören, und jedem geben, um was er bittet.«
»Da würdest du großes Unheil anrichten, mein lieber Ludwig!« sagte der Pfarrer. »Gott, der Allwissende allein weiß, was uns Menschen gut ist. Nach seiner Weisheit kann Er, der nichts als unser Bestes will, uns nicht immer, so schnell erhören, oder uns gerade auf die Art helfen, wie wir es wünschen. Die Wünsche der Menschen sind oft sehr thöricht; ja manchmal würde auch das, was uns sehr gut scheint, uns doch nicht zum Besten gereichen. Indeß ist ein frommes Gebet nie vergebens. Gott hilft oft später und anders als wir wünschen, aber besser, als wir es immer wünschen können. Für jetzt hat Gott für dich gesorgt, und dich zu guten Pflegeältern gebracht; deiner lieben Mutter wird Er in ihren großen Leiden auch Trost in das Herz geben, und ich denke, der Tag wird bald anbrechen, an dem Er dich wieder in ihre Arme zurück führt.«
»Ach, die liebe, liebe Mutter!« rief Ludwig, und drückte beide Hände auf seine Brust, »ich kann es gar nicht sagen, wie lieb ich sie habe, und wie es mich schmerzt, daß ich durch meinen Leichtsinn die Leiden, die sie schon hat, noch vermehrt habe. Sie wird sehr in Sorgen um mich seyn, und oft weinen.« Der arme Knabe brach selbst in einen Strom von Thränen aus.
»Nun, nun, liebster Ludwig,« sagte der Pfarrer, »sey ruhig. Sich kümmern und plagen hilft nichts. Alles, was du jetzt thun kannst, ist dieß – daß du für deine Mutter betest, und recht fromm und gut seyest, und fleißig lernest, um ihr Freude zu machen. Ich will dir täglich eine oder zwei Stunden Unterricht geben. Da du so gut französisch lesen kannst, so mußt du nun auch das Schreiben lernen; und da du bereits so ziemlich gut deutsch sprichst, so will ich dich in deutschen Büchern lesen lehren. Ich will mit Hülfe der französischen Bücher, die ich habe, dich in Allem unterrichten, was ich für dich als nützlich erachte. Deine gute Pflegeältern werden es gewiß gern zugeben. Grüße sie mir freundlich, und komm' morgen zu dieser Stunde wieder – und weine nun nicht mehr, liebster Ludwig! Gott wird Alles recht machen, und dein und deiner Mutter Leiden noch in Freuden verwandeln.«
Ludwig besuchte die Lehrstunden, die ihm der Pfarrer gab, mit Herzenslust, und sie waren ihm die angenehmsten Stunden des Tages. Er war sehr wißbegierig, hatte immer etwas zu fragen und seine Fragen veranlaßten Gespräche, die für ihn so unterhaltend, als lehrreich waren. Er hatte ein sehr gefühlvolles Herz, wurde von den schönen Lehren oft sehr gerührt, und empfand die kindlichste Ehrfurcht und Dankbarkeit gegen den edlen Mann.
Ludwig hätte ihm auch gern seine Dankbarkeit zu erkennen gegeben. Am Vorabende von dem Namenstage des Pfarrers, der Bonifazius hieß, bat Ludwig seine Pflegemutter, ihm einen Groschen zu schenken. Die Mutter fragte, wozu.
»Ach,« sagte Ludwig, »ich möchte dem lieben, guten Herrn Pfarrer zu seinem Namensfeste gern ein Geschenk machen!«
»O mein lieber Ludwig,« sprach die Mutter, »was kannst du für einen Groschen kaufen, das den Herrn Pfarrer freuen könnte? Denn einen Groschen wirst du ihm wohl nicht schenken wollen?«
Ludwig sagte: »Ihm einen Groschen zu schenken, wäre allerdings sehr unschicklich. Ich werde ihm aber Etwas kaufen, das ihm gewiß Freude machen wird. Der Herr Pfarrer ist ein großer Liebhaber von Blumen. Er hat viele Rosenstöcke in seinem Garten, und freut sich sehr auf die Rosen. Allein noch sieht man da nichts als Knospen. Auch in unserm Gärtchen gibt es nur erst Rosenknospen; und so ist es in allen Gärten des Dorfes. Ich habe überall nachgesehen. Allein vor dem Fenster des Müllers steht ein Rosenstock, der schon herrliche Rosen trägt. Ich bat den Knaben des Müllers nur um eine einzige Rose; allein er wollte mir keine schenken, sondern sagte, für einen Groschen wolle er mir eine zu kaufen geben.«
Mutter Johanna sagte lächelnd: »Nun, das ist schön, daß du den Herrn Pfarrer so in Ehren hältst, und so viele Aufmerksamkeit für ihn hast; sieh, da gebe ich dir den Groschen mit Freuden.«
Ludwig eilte mit dem Groschen in die Mühle, und sprach zu dem Müllersknaben, er solle ihm nun die Rose dafür geben. Der Müller, der dieß hörte, sagte: »Das ist ein thörichter Einfall von dir, Ludwig, daß du für eine Rose Geld ausgeben willst. Warte noch vierzehn Tage, so kannst du Rosen genug umsonst haben. Allein so thöricht wie du handeln noch viele Menschen, die sich viel Geld kosten lassen, um etwa zwei oder drei Wochen früher Baumfrüchte oder Gemüse zu essen, die späterhin wohlfeiler, und auch besser und schmackhafter zu bekommen wären. Man muß warten können; die Zeit bringt Rosen.«
Ludwig sagte betrübt, daß er die Rose nicht für sich kaufen, sondern dem Herrn Pfarrer ein Geschenk zum Namenstage damit machen wolle. Da wurde der Müller sehr freundlich. »Das ist etwas Anderes!« sagte er. »Das ist ein herrlicher Einfall von dir! Stecke aber deinen Groschen nur wieder ein, lieber Kleiner. Nicht nur eine Rose sollst du haben, sondern den ganzen Rosenstock. Für unsern lieben Herrn Pfarrer ist mir nichts zu viel.«
Wer war nun je glücklicher, als Ludwig sich fühlte! Er trug den Rosenstock wie im Triumphe nach Hause, ordnete seinen Anzug so zierlich als er konnte, eilte dann in den Pfarrhof, überreichte dem Herrn Pfarrer den Rosenstock, und sagte dabei ein Sprüchlein, das er kürzlich gelesen hatte: »Gott woll', Ihr Leben zu erfreuen, auf Ihre Wege Rosen streuen.«
Der Pfarrer sagte gerührt: »Wo nahmst du doch den herrlichen Rosenstock her, liebster Ludwig?«
Als Ludwig nun erzählte, wie er zu dem Rosenstock gekommen sey, und der Pfarrer aus der Erzählung ersah, welche Angelegenheit sich Ludwig daraus gemacht habe, ihn zu erfreuen, traten dem ehrwürdigen alten Manne die Thränen in die Augen. »Gott segne dich, liebster Ludwig,« sagte er; »du gleichest jetzt noch einer dieser zarten Rosenknospen; bleibe immer fromm und gut, und du wirst schöner blühen, als diese vollen Rosen hier.«
Als Ludwigs Namensfest kam, schenkte ihm der Pfarrer ein kleines, französisches Gebetbüchlein, das er eigens für ihn aus der Buchhandlung hatte kommen, und sehr schön in rothen Saffian mit Gold hatte einbinden lassen. Er hatte auch den Spruch hineingeschrieben: »Jugend und Schönheit welken dahin gleich den Blumen; wer aber den Willen Gottes thut, besteht ewig.«
Ludwig hatte an dem schönen Büchlein eine unbeschreibliche Freude. Er versicherte, es sey ihm das angenehmste Geschenk von der Welt, das man ihm nur immer hätte machen können. Allein es war auch das nützlichste Geschenk für ihn; denn es enthielt sehr schöne Gebete, und Ludwig las darin Morgens und Abends, zu Hause und in der Kirche mit großer Andacht.