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Melchior Stybelius, Pfarrherr bei Heiliggeist zu Heidelberg, stieg mißmutig die Turmtreppe seiner Kirche hinab. Er hatte droben in der Stube des Wächters, als an einem stillen und ungestörten Flecklein, seine Predigt studieren wollen. Aber als er zur Tür eintrat, schnurrte der Schieferdecker vor ihm nieder. Der kam durch das geöffnete Dach von der Turmspitze herunter. Rings auf dem Boden lag das Handwerksgerät des Meisters. Schieferplatten, aufgeschichtete neue und zerstreute Brocken von alten, bedeckten die Dielen. Da war der Pfarrer rücklings zur Tür hinausgegangen. Jetzt stand er wieder in der engen Gasse. Wo sollte er hin? Nach Hause zurück? Aber seine Buben tollten durch Garten und Hausflur, sein Töchterlein Hanna saß in der Laube mit ihrer Gespielin – sie nähten die Aussteuer und sangen zu wett –, und der Pudel Ranko, der ungezogenste Hund in Heidelberg, bellte die Gartenmauer hinauf, hinter die eine Katze gesprungen war. Sollte er den Buben Stille gebieten, die Mädchen verstummen machen, dem Hund das Bellen verwehren? Alle drei Dinge gingen nicht an. So wandte er sich die Steingasse hinab und schritt über die Neckarbrücke. Die verlassene Michaelskirche drüben über dem Neckar auf dem Heiligenberge war ihm eingefallen. Dort war er zwischen vier Wänden – die brauchte er notwendig, wenn er seine Predigt studierte –, sie waren nicht zu nah beieinander und nicht zu fern voneinander, gerade recht für einen Zimmerwandel, und die Schritte hallten nicht wie hier auf der hölzernen Brücke oder wie drüben in der Heiliggeistkirche.
Als der Pfarrer durch das äußere Brückentor schritt, sah er durch das offene Fenster in die Stube des Pförtners hinein. Der saß am Tisch und vesperte.
»Wann schließt Ihr?« rief der Pfarrer.
»Seit Sankt Medard erst um zehn Uhr, Herr Pfarrer ... Herr Pfarrer, ist es wahr, was meine Barbara heute aus der Backstube gebracht hat, oder ist es Weibergewäsch?«
»Was meint Ihr denn?«
»Daß niemand mehr heiraten darf, der nicht den ganzen Katechismus auswendig hersagen kann, alle Fragen und Antworten von vorn nach hinten und von hinten nach vorn? Bei den jungen Maidlein sei ein rechter Jammer gewesen.«
»Übertrieben! Aber das ist wahr, die fünf Hauptstücke muß einer erzählen können, sonst darf er weder Bürger noch Ehemann werden in Pfälzer Landen.«
»Gottlob, daß wir uns schon haben, meine Barbara und ich«, sagte der Pförtner und verließ das Fenster.
»Schade!« murmelte der Pfarrer und sandte dem dicken Mann einen begehrlichen Blick nach. Das Examinieren war seine höchste Freude.
»Schade!« wiederholte er, als er das Tor verließ. Er schritt den rauschenden Strom entlang und sagte zu sich selber: »Ein König richtet das Land auf durchs Recht. Gott erhalte unsern edeln jungen Kurfürsten Friedericus den Vierten! Ein guter Herr, ritterlich und ehrbar und fromm! Er hält auf Zucht und Sitte. Den eifrigen Dienern Gottes gibt er Raum, der leichtfertigen Jugend aufzusitzen und Katechismum zu treiben. Aber, aber! sic bibitur, sic bibitur in aulis principum. Martinus hat recht: Deutschland ist ja ein arm gestraft und geplagt Land mit dem Saufteufel.«
Er bog vom Neckar ab in eine enge Schlucht hinein, durch die ein Fußpfad aufs Gebirg führte. Er ging langsam für sich hin. Zuweilen stand er in Gedanken still.
Wenn er morgen in die Heiliggeistkirche kommt – und er wird kommen, denn es ist ja der letzte Sonntag, ehe er in die Oberpfalz reitet –, Gott steh mir bei, daß ich kein stummer Hund sei. Ich will's ihm sagen, dick und dünn. Wie heißt es Esajas im fünften? Weh denen, die Helden sind, Wein zu saufen, und Krieger in Völlerei!
Der Pfarrer schritt grimmig fürbaß, dann blieb er plötzlich stehen und schaute zum Schloß hinüber, dessen warmrotes Gemäuer mit der dunkelgrünen Bergwand dahinter im Schatten lag, während der Sonnenschein durch das Tal flutete.
»Der liebe junge Herr«, sagte er leise, und die Augen wurden ihm feucht.
Eine Weile stand er so und machte mit der Rechten eine Bewegung, wie wenn er seinem Kurfürsten die Locken aus der Stirn striche und die Wangen tätschelte. Da trat die Sonne hinter einer Wolke hervor und stach ihm in die Augen; er wandte sich um und stieg bedächtig den Berg hinan. Als er in den Schatten des Waldes getreten war, holte er aus der Tasche seines Kamisols die Predigtschrift heraus und begann darin zu lesen. Manchmal schmunzelte er vergnüglich und brummte in den Bart: »Optime!« Dann wieder wiegte er den Kopf, ließ die Unterlippe hängen und sah von der Seite mit schiefen Augen in das Heft hinein. Oder er stellte sich vor einen Baum und starrte in das Papier, wie wenn er es mit seinen Augen an den Stamm spießen wollte. War er mit dem Text einer Seite im reinen, dann schritt er mächtig aus mit seinen kurzen Beinlein. Er runzelte die Stirn, zog die Brauen zusammen, preßte die Lippen aufeinander, und hundert und aber hundert Falten und Fältchen wimmelten über sein breites Gesicht. Seine Miene hatte den Ausdruck einer feindseligen Gespanntheit und eines verbissenen Trotzes: er memorierte. Der Schöpfer hatte ihm ein unbehältliches Ingenium verliehen, und so leicht ihm die Predigt aus dem Kopfe floß, wenn er in seinem Museum am Tische saß und schrieb, so hart hielt es, bis die Predigt wieder drinnen war im Kopfe.
Also arbeitend war der Pfarrherr bis zur Höhe des Bergsattels hinaufgestiegen. Er trat aus dem Walde und sah über das jäh abstürzende Niederholz ins Tal hinab. Seine Augen suchten das Schloß. Es lag tief unter ihm und war hoch überragt von dem dunklen Berghang des Königstuhls. Aber auch so hatte es noch seine Majestät, wie wenn Berg und Tal und alles seinetwegen geschaffen wären.
Eine Weile stand er atmend und schaute hinab. Dann trat er zurück auf den Weg, setzte sich auf ein Bänklein und sah vergnüglich zu dem Brunnen hinüber, der jenseits des Wegs im Schatten einer großen Buche aus dem Felsen quoll. Er freute sich auf den frischen Trunk, den er sich gönnen wollte, sobald er sich ein wenig verkühlt hätte.
Da mit einem Male zog er die Stirn kraus. Er hatte etwas gehört und zugleich etwas gesehen, was seinen Sinnen höchst verdächtig erschien.
Er schritt auf das Brünnlein zu und blieb an dem Rande der Rinne stehen, die das Wasser des Quells über den Weg in den Graben hinüberführte. Er legte die Hand über die Augen, denn die Sonne schien ihm ins Angesicht, und spähte in das Gebüsch hinein, das dem Brunnen gegen die Abendsonne kühligen Schatten gab. Sein Gesicht wurde rot vor Zorn und nahm jenen entschlossenen Ausdruck an, der den Kirchendiener bei Heiliggeist jedesmal veranlaßte, nach der Türklinke zu greifen.
Der entrüstete Pfarrherr war im Losbrechen. Da wurde die strenge Straffheit seines Mundes durch einen Zug listiger Schlauheit gebrochen. Wartet, Racker! dachte er, wozu habe ich des Frontinus Büchlein über die Kriegslisten gelesen? Auf den Zehen stieg er über die Rinne und schlich um das Gebüsch herum. Seine Absicht war, den Rain hinunterzugleiten und das Doppelwild, das er entdeckt hatte, von vorn anzugehen; so schnitt er die Flucht ab und konnte, aus der Tiefe tauchend, die erschrockenen Sünder mit dem Strafgericht überrumpeln wie ein zürnender Elias.
Als er aus dem Gebüsch trat, sah er deutlich, was ihn, durch die Zweige geschaut, in Zorn versetzt hatte. Umflossen vom Abendsonnenschein saßen ein Bursche und ein Mädchen nebeneinander auf einem gefällten Baumstamm. Dem lichterfüllten Tale zugewandt, schauten sie in die Ferne hinaus. Der Bursche hatte seinen linken Arm um die Schulter des Mädchens gelegt. Die Geliebte lehnte sich an seine Brust und umschlang mit ihren Händen seine Rechte, die in ihrem Schoße lag.
Der Pfarrer stand eine Weile still, und ohne es zu wissen, weidete er sich an dem lieblichen Bilde. Seine Stirn glättete sich, und sein altes Herz wurde ihm warm. Die Entrüstung war zerschmolzen, und seinetwegen hätte das schöne Paar dort oben am Waldessaum weiter sitzen und träumen können. Aber die Kriegslist hatte es ihm angetan; die war zu schön, als daß sie hätte unvollbracht bleiben dürfen. Der Pfarrer dachte sich die entsetzten Gesichter der Ertappten, wenn er vor ihnen aus der Tiefe aufgetaucht wäre, und alsbald legte sich sein Gesicht wieder in strenge Falten. Er betrachtete den Abhang zu seinen Füßen; der war steil, mit blühendem Heidekraut und glänzend grünen Heidelbeeren bewachsen; weiter unten zeigte sich das Geländer eines Steinbruchs, und darüber hinaus traf der Blick die jenseitige Bergwand.
Vorsichtig setzte sich der Pfarrer auf den Boden nieder, ließ die Beine über den Rand hinabhängen, und mit den Händen sich abstoßend glitt er sacht den Abhang hinunter. Aber sei es, daß der Stoß zu stark gewesen, oder daß das Gewicht des runden Körpers zu schwer war: der Pfarrer glitt und glitt immer rascher den Abhang hinab. Zuerst lächelte er über die schnelle Beförderung, dann ärgerte er sich ob der mißlungenen Kriegslist, dann schalt er sich wegen seines törichten Unterfangens einen Narren; mit einem Male aber faßte ihn jähes Entsetzen. Er gedachte des Steinbruchs, dem er entgegenglitt. Er sah im Geiste die schwindelnde Höhe, an der er so manches Mal hinaufgeschaut hatte. Er drehte sich um, so daß er mit dem Leib auf dem Boden lag, und krallte sich mit den Händen in den Boden. Aber die Heidelbeerbüsche und das Heidekraut, woran er sich halten wollte, glitten ihm durch die vor Schreck erstarrten Finger. Da gab er sich verloren. Mit einem Stoßgebetlein mischte sich die Vorstellung von dem Entsetzen, das die ganze Stadt ergreifen werde ob seines jämmerlichen Endes. Da sauste es rechts und links an ihm vorüber. Er fühlte, daß er dem Abgrund nahe sei. Ein Stoß und ein Krach, und das Geländer polterte hinunter. Er spürte einen scharfen Luftzug, und der Boden unter ihm hörte auf. In demselben Augenblick fühlte er sich an beiden Armen gepackt. Es war ihm, als ob sie ihm aus dem Leibe gerissen würden. Aber, o Entsetzen, die festhaltenden Gewalten gaben nach, die rettenden Stützen rechts und links kamen selbst ins Gleiten und Stürzen. Doch das war nur einen Augenblick. Jetzt hielten sie wieder fest. Ein Stemmen und Stampfen, ein Ringen mit dem Boden. Der Pfarrer hatte seine Füße in die Höhe gezogen und sich mit den Knien in den zerbröckelten Grund gebohrt. Jetzt fand er mit Händen und Füßen einen festen Halt, und nachdem er eine Weile stillgelegen und Atem geschöpft hatte, versuchte er's, sich aufzurichten. Seine Knie zitterten, aber er stand fest. Vorsichtig wandte er sich um, und es grauste ihm. Er stand am Rande des Steinbruchs. Die Erde und das Geröll waren in die Tiefe hinuntergetreten, und man sah in der Kante die Gräben, worinnen die Menschenleiber sich gemüht hatten, dem Sturz in den Tod zu entklimmen.
Schaudernd wandte er sich um, und ein »Gott sei Dank!« entwand sich seiner Brust. Dann sah er sich nach seinen Rettern um. Der Bursche und das Mädchen stiegen ein paar Schritte vor ihm die Höhe hinan, ruhig und still, wie wenn nichts geschehen wäre. Der Bursche hielt seine Gefährtin am Handgelenk umfaßt, und dann und wann, bei besonders steilen Stellen, unterstützte er sie beim Steigen. Dabei sprachen sie leise zueinander und wandten zuweilen den Kopf dem hinter ihnen herkeuchenden Pfarrer zu.
An einer Stelle, die besonders glatt und steil war, bückte sich der Bursche und hob die Predigtschrift auf, die dem Pfarrer, als er sich im Gleiten umgewandt hatte, aus der Tasche gefallen war. Er wollte sie ihrem Eigentümer zurückgeben. Aber als er sah, wie der Pfarrer außer Atem und hochroten Gesichts aufwärtsklomm, verschob er dies auf später und steckte die Schrift in sein Wams. Nach einer Weile sah sich der Bursche wieder um. Die Augen der beiden Männer begegneten sich. Die abwehrende Gebärde des Pfarrers sagte deutlich: Lasset mich in Ruhe, bis ich den abscheulichen Abhang hinter mir und sichern Boden unter meinen Füßen habe.
Jetzt standen die beiden jungen Leute oben am Rande des Waldes. Das Mädchen reinigte ihr Röckchen von den Erdkrumen, die in den Falten saßen, und der Bursche sah schweigend dem Pfarrer entgegen, der langsam heraufgestiegen kam.
Melchior Stybelius war oben angelangt. Er schöpfte tief Atem und wiederholte: »Gott sei Dank!« Dann schritt er auf die jungen Leute zu, streckte ihnen beide Hände entgegen und sagte mit einem warmen Aufleuchten seiner guten Augen: »Gott soll's euch lohnen! Ihr habt euer Leben gewagt, um das meinige zu retten!«
»Es ist hart am Tode vorbei bei uns allen dreien«, sagte der Bursche.
»Und wir wollen doch übermorgen Hochzeit halten!« fügte das Mädchen hinzu.
»Wollt ihr?« sagte der Pfarrer und betrachtete die beiden wohlgefällig vom Kopf bis zu den Füßen. »Das glaube ich euch schon«, fügte er lächelnd hinzu. »Aber seid ihr denn auch aufgeboten?«
»Freilich sind wir's!« sagte das Mädchen, »und morgen geschieht's zum andern Male. Heute vor acht Tagen haben wir uns dem Magister Scultetus vorgestellt, und der hat uns am letzten Sonntag in Heiliggeist aufgeboten. Das ist Bernd Hieber, der Jäger, und ich heiße Apollonia Wamboldin.
Der Pfarrer erinnerte sich daran, die beiden Namen in dem Aufgebotbüchlein gelesen zu haben, das ihm sein Amtsbruder zum Gebrauch für den morgigen Gottesdienst übersandt hatte. Bernd Hieber war ihm unbekannt, aber von dem Mädchen wußte er, daß es des kurfürstlichen Postreiters Wambold hinterlassenes Kind war, das seit des Vaters Tod draußen in der Au bei einer Muhme wohnte.
»Ihr Racker!« sagte er und setzte sich auf den Baumstamm, auf dem vorhin die beiden gesessen hatten. »Was treibt ihr euch denn da oben im einsamen Walde herum? Wißt ihr denn nicht, daß ihr euch gegen göttliches und kurfürstliches Gebot vergangen habt?«
»Wir haben nichts Böses getan«, sagte der Bursche.
And das Mädchen fügte hinzu: »Er hat im Hirschgehege an der hohen Straße droben die Wacht. Ich muß hinauf zu ihm, das Neueste zu künden.«
Das Mädchen seufzte, und der Bursche sah traurig zu Boden.
»Dann hat er mich bis hierher geleitet«, fügte Apollonia nach einer Weile hinzu.
»War's keine gute Kunde, die du deinem Schatze gebracht hast, Apollonia Wamboldin?« fragte der Pfarrer.
Sie schüttelte traurig den Kopf.
»Ihr wißt es ja«, sagte sie, und ihre Augen standen voller Tränen. »Es darf ja niemand mehr heiraten, der nicht den ganzen Katechismus herbeten kann, alle Fragen und Antworten, die Erklärungen und die Bestätigungen, die Beweisstücke und die Exempel, von vorn nach hinten und von hinten nach vorn. In der Backstube haben sie's heute erzählt, und es ist ein rechtes Wehklagen gewesen bei allen jungen Maiden. Ich kann ihn noch so ziemlich, aber er hat ihn völlig vergessen. Er hat ihn niemals gründlich gelernt, denn er ist aus dem Ambergischen. Keine Antwort kann er mehr, geschweige ein Beweisstück. Ich hab' ihm einen Katechismus heraufgebracht und habe gemeint, er solle nur frischweg vorn anfangen, der liebe Gott werde ihm schon helfen. Aber er hat gesagt, ich solle ihn nur wieder heimnehmen, er brächt' ihn sein Lebtag nimmer in den Kopf. Und wenn der Kurfürst bei seinem Sinn bleibe, dann müsse er sich ein Leids antun, denn heiraten darf er mich nicht, und er kann doch auch nicht von mir lassen.«
Der Bericht war von häufigem Schluchzen unterbrochen, und als das Mädchen zu reden geendet hatte, fuhr es zu weinen fort. Der Bursche sah finster vor sich nieder.
Der Pfarrer sah zuerst die Dirne und dann den Jäger an. Seine Augen wurden lüstern. Es überkam ihn ein Gefühl, wie es der Goldschmied hegen mag, dem mitten im Walde von dem pirschenden Pfalzgrafen ein köstlicher Stein zur würdigen Fassung übergeben wird.
»Wo ist denn der Jäger in die Schule gegangen?« fragte er.
»Zu Neumarkt in der Oberpfalz.«
Melchior Stybelius hob drohend den Finger. »Dort ist die Luft nicht sauber! Ubiquistischer Irrwahn ist die Pestilenz, die dort im Finstern schleicht; da werden wir dem Bräutigam besonders in der Lehre von den Sakramenten auf den Zahn fühlen müssen.«
Der Bursche erbleichte, und Apollonia brach von neuem in Tränen aus.
»Hör mit dem dummen Gegreine auf!« sagte der Pfarrer unwirsch. Dann ergriff er die Dirne an der Hand und zog sie an seine Seite nieder.
»Was gilt's?« scherzte er. »Heute wird das Examen bestanden, morgen werdet ihr aufgeboten, und übermorgen – husch! Setze dich zu meiner andern Hand, mein Sohn. So! Und jetzt nehmt euern Kopf zusammen!«
Apollonia schluckte die Tränen hinunter und richtete sich tapfer auf. Der Jäger saß geknickt zur andern Seite des Examinators.
»Ich werde zuerst einige Kreuzundquerfragen tun aus dem dritten Teile, den ich mit dem ersten verbinden werde, um sodann bei der Lehre von den Sakramenten des längern zu verweilen.«
Bei dieser Ankündigung zuckte Apollonia zusammen, der Jäger aber richtete sich auf und sah in trotzigem Gleichmut vor sich hin.
»Bernd Hieber, was verbeut Gott im achten Gebot?«
»Das Stehlen.«
»Schon recht. Aber wie sagt der Katechismus?«
Der Bursche schwieg.
»Antworte du, Apollonia Wamboldin.«
Das Mädchen schöpfte Atem und sagte dann die lange Antwort her, hier und da von dem beifällig nickenden Pfarrer unterstützt.
»Wie beweisest du, daß der Geiz verboten sei, Bernd Hieber?«
»Der Geiz ist verboten, weil er ein schändliches und schmutziges Ding ist.«
»Nichts da! Beweise aus der Schrift, aus der Schrift! Apollonia Wamboldin?«
Das Mädchen wollte das Gleichnis von dem reichen Mann anführen, dessen Feld wohl getragen hatte, so daß er sich sagte: Ich will meine Scheunen abbrechen und größere bauen. Aber der Pfarrer fiel ihr ins Wort: »Die Exempel kommen später; Lehrbeweise gehören hierher.«
Das Mädchen besann sich und raffte einige Sprüche zusammen, mit denen der Pfarrer zufrieden war.
So ging die Prüfung weiter. Der Jäger antwortete auf jede Frage, aber nur nach seinem Sinn und Herzen, weder mit den Worten des Katechismus noch mit denen der Schrift. Das Mädchen dagegen sagte die verlangten Erklärungen, Bestätigungen, Beweise und Beispiele, wie sie der Prüfende wünschte.
Melchior Stybelius war gerade im Begriff, zu der Lehre von den Sakramenten überzugehen, als er, den Augen des Jägers folgend, in den rotglühenden Sonnenball hineinschaute, der sich hinter einer Wolkenwand gegen die klaren Hardtberge zu senkte. Da fiel ihm ein, daß morgen Sonntag sei, und daß er seine Predigt noch nicht im Kopfe habe. Darum beschloß er, die Prüfung abzubrechen; aber sein Gewissen hätte ihm nicht erlaubt, dies zu tun, ohne einen wirkungsvollen Schluß.
Er stand auf, zielte mit dem Zeigefinger auf einen hirschhornenen Knopf am Wamse des Jägers. Dann setzte er sich wieder und hob behäbig an: »Seht, Kinder, ihr habt mir das Leben gerettet. Wenn ich nun aus Dankbarkeit gegen diese Wohltat durch die Finger sähe, wäre das recht von mir gehandelt, Bernd Hieber?«
»Ja«, sagte dieser herzhaft.
»Falsch geantwortet, grundfalsch. Sprich du, Apollonia Wamboldin. Wäre es recht von mir gehandelt?«
»Nein, es wäre nicht recht!« sagte das Mädchen weinerlich.
»Und warum denn nicht?«
Melchior Stybelius sah zuerst den Bräutigam und dann die Braut an. Beide schwiegen.
»Ich will euch auf die Spur helfen. Was würde ich ansehen, wenn ich euch, meinen Lebensrettern, Nachsicht gewährte? Antworte, Bernd Hieber!«
»Euern schrecklichen Tod, in den Ihr sicherlich gefallen wäret, wenn wir nicht beigesprungen und unseren Hals gewagt hätten.«
»Falsch, grundfalsch. Sag du's besser, Apollonia Wamboldin. Was würde ich ansehen?«
»Sehr gut! Und wie heißt es in der Schrift? Doch, das wißt ihr nicht! Keine Person sollt ihr im Gerichte nicht ansehen. Im fünften Buche Mosis im ersten. Welches Gebot würde ich übertreten, wenn ich jetzt die Person ansähe?«
»Keines«, sagte der Jäger.
Der Pfarrer runzelte die Stirn.
»Das erste!« rief das Mädchen aufs Geratewohl in der Todesangst.
»Sehr richtig«, nickte der Pfarrer. »Denn wer die Person ansieht, treibt Abgötterei.«
Mit erhobener Stimme fuhr er fort: »Wer seinen Nächsten zur Abgötterei verführt, was hat der verdient nach der Schrift? Antworte, Bernd Hieber.«
Der Jäger schüttelte den Kopf und stand leise auf.
»Den Tod!« flüsterte das Mädchen angstvoll.
»Ganz gewiß, den Tod. Denn wie sagt die Schrift? Doch, das wißt ihr nicht. Also spricht sie im fünften Buche Mosis im dreizehnten: ›Man soll ihn zu Tode steinigen, denn er hat dich wollen verführen von dem Herrn deinem Gott, der dich aus Ägyptenland, von dem Diensthaus geführt hat‹.«
In steigender Erregung fuhr der Pfarrer fort: »Bernd Hieber, Apollonia Wamboldin, wenn ihr mich zu der greulichen Abgötterei verführt, eure Person anzusehen, weil ihr mir das Leben gerettet habt, dann wehe euch, den Tod der Steinigung habt ihr verdient!«
Im höchsten Zorne war er aufgesprungen und schnappte nach Luft. Der Jäger stand vor dem Gebüsch und sah den Pfarrer mit erstaunten Augen an, während das Mädchen die Hände im Schoße rang.
Der Pfarrer faßte sich. Er wischte sich mit seinem Tüchlein die Schweißtropfen von der Stirn.
»Gott war euch gnädig, ich habe mich nicht verführen lassen, sondern recht und schlecht ohne Ansehen der Person habe ich euch geprüft. Apollonia Wamboldin, du bist löblich bestanden und magst unter Gottes Wohlgefallen vor den Altar treten. Aber mit dir steht es schlimm, Bernd Hieber. Wenn du im dritten Teile, so der leichteste ist, so schlecht beschlagen bist, daß du keine einzige Antwort hast geben können, wie erginge es dir, wenn ich dir in den Sakramenten auf den Zahn fühlte? Ich kann es vor Gott dem Herrn, der die heiligen Gebote gegeben hat, und vor unserem gnädigen Kurfürsten, dem er sie anvertraut hat, nicht verantworten, dich vor den Altar treten zu lassen. Du bist nicht würdig, ein Ehemann zu werden!«
Bernd sah den Pfarrer mit funkelnden Augen an.
»Wir werden übermorgen Hochzeit halten, ob Ihr es erlaubt oder nicht.«
»Ihr werdet so lange warten, bis du den Katechismus gelernt hast«, erwiderte der Pfarrer. »Und wehe euch, wenn ihr –«
Melchior Stybelius hob drohend den Finger und sah den Burschen mit durchdringendem Blicke an. Bernd zuckte gleichmütig die Achseln und suchte Apollonias Augen. Aber diese wichen aus und schauten unsicher zur Seite.
»Apollonia geht mit mir in die Stadt zurück, und du eilst dich, dahin zu kommen, wohin deines Kurfürsten Dienst dich stellt. Heute über vierzehn Tage – wie lange dauert deine Wacht droben im Wildgarten?«
»Morgen abend geht sie zu Ende, und am Dienstag muß ich mit dem Kurfürsten in die Oberpfalz gen Amberg.«
»Und du, Apollonia?«
»Wenn ich seine Frau bin, gehe ich mit, in der Kurfürstin Frauenzimmer. Wenn wir nicht vorher Hochzeit halten, muß ich zurückbleiben, denn die Kurfürstin nimmt nur Eheweiber mit auf ihre Reisen.«
Der Pfarrer schwieg und senkte den Kopf. Er wußte, daß der Kurfürst mindestens ein Jahr in der Oberpfalz verweilen werde, denn die Aufregung der lutherisch gesinnten Bevölkerung, die das Joch der reformierten Kirchenordnung nicht tragen wollte, erforderte die längere Anwesenheit des Landesherrn.
Ein mitleidiger Blick streifte das Mädchen. Aber nur einen Augenblick dauerte diese Regung, »Apage Satana!« murmelte er. »Ihr sollt bei dem Gericht keine Person nicht ansehen!«
»So hast du um so besser Zeit, den Katechismus zu lernen«, sagte er dann laut. Behüt dich Gott! Laß dich nicht verführen durch den ubiquistischen Irrwahn. Daß du mir das Leben gerettet hast, werde ich dir ewig danken, und du sollst meines Dankes froh werden; aber zuvor mußt du das Eheexamen bestanden haben.«
Der Jäger machte noch einen Versuch, einen Blick seiner Liebsten zu haschen. Aber Apollonia stand gesenkten Hauptes und ließ einen Grashalm durch die Finger gleiten. Da wandte sich Bernd unmutig ab, ohne den raschen Blick zu bemerken, den das Mädchen in diesem Augenblick ihm zuwarf. Ohne Gruß ging er davon und verschwand im Walde.
Apollonia lauschte den verhallenden Schritten, und als sie sich davon überzeugt hatte, daß ihr Bräutigam von ihr gegangen sei, kam über sie der ganze Jammer einer zerstörten Hoffnung. Sie setzte sich auf den Baumstamm nieder, barg das Gesicht in den Händen und weinte bitterlich. Der Pfarrer setzte sich zu ihr und redete ihr tröstlich zu. Er wußte nicht, was er sagte, denn er war in der peinlichsten Ratlosigkeit, und sein Herz wurde von einer Angst gepreßt, wie er sie nimmer empfunden hatte seit jener Stunde, wo er als Schüler des Kreuznacher Gymnasiums, an einer lateinischen Frühlingsode dichtend und über einen gemähten Kleeacker stolpernd, ein Lerchennest zertreten hatte. Die Sense des Mähders hatte die Brut geschont, aber der Stiefel des Poeten zermalmte sie.
So war ihm jetzt wieder zumute, und wie ein armer Sünder saß er neben dem weinenden Mädchen. Er redete auf sie ein, aber sein Herz wußte nichts von dem, was er sagte, und während sein Mund tönte, schämte er sich.
So saßen sie eine Weile. Die gegenüberliegende Bergwand und das Schloß lagen schon im düstern Abendschatten, und es wurde kühl unter den Bäumen. In einem nahen Busch sang eine Amsel, und drunten in der Schlucht sang eine andere. Melchior Stybelius hing mit angstvollen Augen an jeder Bewegung und an jeder Miene der Dirne.
Als sie aufstand und sich zum Gehen wandte, erhob auch er sich von seinem Sitz und schlich sich ihr an, denn er hatte das Gefühl, daß er ihr etwas sein müsse in ihrer großen Traurigkeit. Er schaute nach der Michaelskirche empor, die auf dem Berggipfel über ihm aus den Tannen schaute; ihr Turm leuchtete in den Strahlen der Abendsonne, die unter dem Gewölk hervorgetaucht war, und riesig dehnte sich der Schatten der Kuppel auf der Bergwand jenseits der Schlucht. Der Pfarrer bei Heiliggeist gab seinen Plan auf, droben in der leeren Kirche seine Predigt zu lernen. Er hatte ja noch die lange stille Nacht vor sich, und wenn die Kindlein in der Kammer schliefen und der Hund Ranko durch keinen hallenden Schritt, durch kein Pferdegetrapp und keine knarrende Tür mehr geärgert wurde, gab es keine stillere Klause als seine Studierstube im unteren Kaltental.
Schweigend waren der Pfarrer und das Mädchen den Pfad hinabgegangen und näherten sich eilenden Schrittes dem Ausgang der Schlucht. Auf dem Wege war mit beiden eine Veränderung vorgegangen. Apollonia hatte aufgehört zu weinen. Sie schien einen Entschluß gefaßt zu haben, dessen sie sich heimlich freute. Ihre Wangen leuchteten, und ihre großen Augen glänzten. Auf den schwellenden Lippen lag das Lächeln eines trotzigen Übermuts. Und nun war es, als ob sich die Wandlung in dem Gemüt des Mädchens dem Pfarrer mitgeteilt hätte; auch bei ihm schwand die weiche Stimmung. Je mehr er sich seiner Kirche näherte, desto gewisser wurde er, unsträflich gehandelt zu haben. »Verflucht sei, wer das Werk des Herrn lässig treibet!« sagte er zu sich; und als sie an das Brünnlein kamen, das zur Seite aus dem Felsen quillt, wo die Hirschgasse in das Neckartal mündet, da hatte er wieder all die Würde gewonnen, die einem Pfarrer bei Heiliggeist geziemt.
Apollonia machte halt an dem Brunnen. Sie wusch sich die verweinten Augen.
Melchior Stybelius war gleichfalls stehengeblieben; er besah sich, ob seine Gewandung die letzten Spuren des Sturzes abgeschüttelt habe.
Da kamen rasche Schritte die Schlucht herunter. Aufblickend erkannte der Pfarrer Bernd, den Jäger. Die Zornesröte stieg ihm ins Gesicht. Aber als er das gefaltete Papier sah, das der Bursche aus der Ferne in die Höhe hob, da übermannten ihn Schreck und Freude. Er griff in die Tasche seines Kamisols. Seine Predigt war nicht darinnen. Er schaute und griff nach dem Papier, das der Jäger in der Hand hielt – es war seine Predigt.
»Es ist Euch dies aus der Tasche gefallen, als Ihr den Berg hinunterkollertet. Verzeiht mir, daß ich vergessen habe, es Euch droben zu geben.«
Da strömte es über, das Herz des Pfarrers. Für die wiedergebrachte Predigt fühlte er heißeren Dank als für das gerettete Leben. Das Herz bebte ihm bei dem Gedanken, daß er zu Hause den Verlust entdeckt hätte; es wäre zum Verzweifeln gewesen, denn die Kurfürstin hatte ihm das Thema der Predigt angegeben, und er hätte keine andere halten können als diese, die nur auf dem Papier und nicht in seinem Kopfe war. Und nun hatte er sie wieder! Es war ihm, als müsse er die Hand des Burschen, die er in überströmender Dankbarkeit erfaßt hatte, in die Hand des Mädchens legen. Aber ob ihm nun das unbefangene Zutrauen zu den natürlichen Regungen seines Herzens verlorengegangen war oder ob die wiedergewonnene pfarrherrliche Würde ihn an das Werk des Herrn erinnerte, das er zu treiben hatte: fast heftig ließ er die Hand des Burschen fahren.
»Ich danke dir, Bernd«, sagte er, und die Stirn runzelnd fügte er hinzu: »Wer hat dir erlaubt, deinen Posten zu verlassen?«
Als ihn bei diesem gelogenen Vorwurf die Scham überkam, trat er auf die Seite und untersuchte sein Manuskript, ob es auch vollständig sei. Währenddessen trat der Bursche auf seine Braut zu, die ihn mit leuchtenden Augen anschaute. Sie wechselten einige Worte des Einverständnisses, und der Abschied, den sie voneinander nahmen, war nicht derart, als wenn er auf lange gelten sollte.
Melchior Stybelius sah dem davonschreitenden Burschen nach, und sein innerer Mensch richtete sich auf an dem Wort der Schrift: »Du sollst beim Gericht keine Person nicht ansehen.« Und als er durch das Tor schritt und den Turm seiner Kirche vor sich schaute, hob er sein Haupt voller Zuversicht und guten Gewissens. Hatte er doch den Versucher seiner Amtsehre zurückgeschlagen, und hatte er doch die Predigt für morgen in der Tasche.
Hinter dem inneren Tor schieden die beiden voneinander.
»Halte dich züchtig und eingezogen, bis dein Bräutigam wiederkehrt, und bete zu Gott, daß er dir und dem Katechismus treu bleibe.«
Apollonia hörte diese Ermahnung demütig an, aber ihre Augen wichen denen des Seelsorgers aus, und als sie durch die Neckarstraße dem oberen Tor zuschritt, lag ein üppiger Trotz auf ihren geschürzten Lippen.
Melchior Stybelius eilte über den dämmerigen Marktplatz. Als er am Gasthaus zum Goldnen Hirschen vorüberkam, klang ihm aus der sommerlich geöffneten Tür der Gaststube ein lautes Gespräch ins Ohr, aus dem er einzelne Worte auffing. Dieselben Worte tönten ihm aus den Gruppen plaudernder Bürger, an denen ihn sein Weg vorüberführte. Das Gespräch verstummte, wenn er vorbeischritt, und er fühlte, daß ihm die Leute auf den Rücken schauten.
Am Marktbrunnen, der unter einer breitästigen Linde rauschte, standen wasserholende Bürgertöchter und Dienstmägde, und hier war der Eifer des Gesprächs so groß, daß die Schwatzenden des Pfarrherrn nicht gewahr wurden. »Der Alte ist dran schuld!« rief es. – »Nein, der junge Frühprediger von der Klosterkirche; der sieht immer so griesgrämig drein, der möcht' uns am liebsten das Heiraten ganz verbieten.« – »Nein, ich sag euch, der Alte ist's, der hat eine Tücke auf uns, weil seine Hanna –«
Die Rednerin brach ab, die Mädchen stellten mit großem Geräusch ihre Kübel unter die Brunnenröhren. Die einen sahen verlegen drein, die anderen kicherten. »Meinetwegen hat er's gehört«, sagte die Rednerin von vorhin.
Der Pfarrer sputete sich, die stille Gasse zu erreichen, die zu seinem Hause führte. Als er aus der Hauptstraße in sie eingebogen war, vernahm er das scharfe Gebell seines Hundes.
Es klang von oben herab; der Hund mußte in der Speicherkammer eingesperrt sein. Das war sein üblicher Platz, wenn ein Fremder im Hause war. Denn er hatte die Unart, zu bellen und zu heulen, bis der fremde Mensch das Haus verlassen hatte. Die Nachbarn des Pfarrers hatten deshalb eine Bittschrift an die hohe Obrigkeit gerichtet, der Pfarrer möge angehalten werden, den Hund abzutun, da er durch sein gräßliches Geheule der Nachbarschaft das Leben verleide. Ein alter Schneider, des Pfarrers nächster Nachbar, hatte von Haus zu Haus die Unterschriften gesammelt, denn er und der Pudel Ranko waren intime Feinde, und das Geheul des Hundes war ihm besonders hinderlich, weil es seine Entwürfe störte, wenn er einen Kunden betrachtete.
Die Obrigkeit machte Erhebungen, und da dem Pudel keine Tätlichkeit vorgeworfen werden konnte, als daß er einmal einem kurfürstlichen Hatschier die Hosen zerrissen hatte, so erklärte sich das weltliche Gericht für unzuständig und übergab die Angelegenheit dem Kirchenrat zur disziplinaren Behandlung. Zufällig wohnte gerade der Kurfürst der Kirchenratssitzung bei, worinnen der Pudel traktiert wurde. Lachend entschied er, daß der Pfarrer einen Revers unterzeichnen solle, worinnen er sich verpflichte, für allen Schaden, den sein Pudel anrichte, aufzukommen. Die geistlichen Herren des Kirchenrats setzten den weiteren Beschluß durch, daß der Pfarrer amtsbrüderlich vermahnt werde, sich seines Pudels zu entledigen, um Ärgernis zu vermeiden. Wolle er dies nicht, so solle er sich anheischig machen, wenn ein Gemeindeglied zu ihm komme, geistlichen Rat zu holen, den Hund in einem sicheren und etwas entfernten Gewahrsam unterzubringen, damit das seelsorgerliche Gespräch nicht turbieret würde. Seitdem wurde der Hund, sobald ein Gemeindeglied den Pfarrer zu sprechen wünschte, von der Magd, der Tochter oder einem der Knaben in die Speicherkammer geschleppt.
Als der Hausherr an die Tür pochte, schwieg der Hund einen Augenblick und stieß ein freudiges Geheul aus, um alsbald wieder sein gewohntes Gekläff zu beginnen.
Die Tür öffnete sich, und Hanna, seine älteste Tochter, die ihm nach seiner Frau Tod das Haus führte, leuchtete die Treppe herunter.
»Du bist es, Vater!« sagte sie mit ihrer tiefen, wohllautenden Stimme.
Melchior Stybelius stieg langsam die Treppe hinauf.
»Wie geht es den Kindern ? Sind sie zu Bett? Warum heult denn der Hund? Ist denn noch jemand Fremdes im Haus?«
»Ach freilich, Vater, deine ganze Stube ist voll von Weibern, die auf dich warten schon seit einer halben Stunde. Sie wollen mit dir sprechen wegen des Eheexamens. Du glaubst gar nicht, wie groß die Aufregung ist in der ganzen Stadt. In deiner Stube geht es zu wie in einer Nähschule.«
»Was wollen denn die Weiber von mir ?« rief der Pfarrer zornig. »Ich kann sie nicht brauchen, ich muß meine Predigt lernen, schicke sie fort!«
»Aber Vater, kannst du denn deine Predigt noch nicht? Du warst doch im Turmstübchen!«
»Ach, dort hatte der Schieferdecker sein Wesen.«
»Bist du denn nicht in den Wald gegangen?«
»Bin ich, Hanna! Aber dort – doch ich erzähle dir nachher alles. Schaffe mir nur die Weiber fort!«
»Das kann ich nicht, Vater. Du mußt hinein zu ihnen. Sie haben dich kommen hören. Aber warte – laß mich nur machen. Du sollst sie bald wieder los haben. Versprich mir –«
»Was, Hanna?«
»Daß wir unseren Ranko behalten!«
»Wenn nicht der Kurfürst selber ihn uns abspricht, behalten wir ihn. Und nun in Gottes Namen will ich hinein. Richte mir das Essen, Hanna. Ich habe Hunger. Und hilf mir bald!«
Das Mädchen nickte ihm lachend zu und stieg die leiterartige Treppe hinauf, die zum Speicher führte.
Seufzend öffnete der Pfarrer die Tür seines Zimmers.
»Guten Abend miteinander!«
Etwa sieben oder acht Frauen, alle im mittleren Alter, erhoben sich von dem Ruhebettlein und den Stühlen und grüßten: »Guten Abend, Herr Pfarrer!«
Er gab jeder einzelnen die Hand.
»Was führt euch zu mir noch so spät in der Nacht?«
Eine von ihnen, der sich die Blicke der übrigen zugewandt hatten, erwiderte: »Wir möchten wissen, ob es mit dem Katechismusexamen de rHochzeitsleute seine Richtigkeit hat.«
»Da ist der Bescheid schnell gegeben. Er lautet ,ja«.«
»Aber, Herr Pfarrer, das war doch früher nicht! ... Meine Bärbel heult den ganzen Tag ... Es wird niemand mehr heiraten in der ganzen Pfalz.«
So rief es durcheinander.
»Wenn ihr einen Augenblick still seid, will ich es euch mit zwei Worten erklären. Aber habt ihr denn Zeit am Samstagabend? Wollt ihr nicht lieber ein andermal –?«
»Nein«, sagten die Frauen, »wir haben Zeit.« Und die Sprecherin setzte sich wieder auf das Ruhebettlein nieder.
Der Pfarrer hub an: »Erstlich, dieweil all unser Heil daran liegt, daß wir und unsere Nachkommen –«
In diesem Augenblick erhub sich in nächster Nähe ein so fürchterliches Geheul, daß selbst der Pfarrer erschrak.
»Das ist der Hund!« riefen die Frauen durcheinander und schauten ängstlich nach der Tür, die zu des Pfarrers Schlafkammer führte. In den kurzen Pausen zwischen den einzelnen Heulstrophen hörte man das schnuppernde Stoßen einer Hundsschnauze.
»Wir sind ganz sicher«, sagte der Pfarrer, innerlich erfreut. »Die Tür ist geschlossen.«
»So weiset doch Euern Hund zur Ruhe! Man versteht ja sein eigen Wort nicht!« schrie die Sprecherin dem Pfarrer ins Ohr.
»Ich will es versuchen, aber ihr werdet sehen: mir folgt er nicht!« schrie der Pfarrer durch seine vorgehaltenen Hände.
Er ging in seine Schlafkammer, und die Frauen hörten durch das Geheul des Hundes sein beschwichtigendes Zureden. Nach einer Weile kam er kopfschüttelnd zurück und zuckte mit der Achsel.
»Der sollte mein gehören! Ruft Eure Tochter!« schrien die Weiber durcheinander.
»Hanna! Hanna! Hole den Hund!« rief der Pfarrer in den Hausgang hinaus. »Wo ist denn das Mädchen?«
Er ging hinaus, sie zu suchen. Nach einer Weile kehrte er unverrichteter Dinge zurück. »Sie ist im ganzen Hause nicht zu finden.«
»Hier kann man ja nicht sprechen!« schrie die Wortführerin. »Könnt Ihr uns nicht in ein anderes Zimmer führen?«
»Gern«, sagte der Pfarrer lächelnd und ging mit der Ampel voran durch den Hausgang in das Wohnzimmer, wo sein Süpplein auf dem Tische dampfte. Aber kaum waren die Frauen eingetreten, so erscholl das Hundegeheul genau in derselben Nähe, und wieder hörte man in den kurzen Pausen das Schnüffeln und Kratzen des Tieres.
Die Weiber sahen einander ärgerlich an und fügten sich zum Gehen.
»Ihr solltet Euern Hund besser ziehen, abschaffen, totschießen!« schrien sie dem Pfarrer beim Abschiede zu. Der leuchtete ihnen die Treppe hinunter. Unten bei der Haustür hielten sie an, und die Sprecherin machte noch einen Versuch, von ihrem Thema zu reden.
Da mußte der Hund die Tür aufgesprengt haben. Er erschien oben an der Treppe, stellte sich mit gespreizten Beinen hin, streckte den Kopf in die Höhe und fing so erbärmlich an zu heulen, daß die Weiber, einander drängend, aus dem Hause flüchteten.
Als sich die Tür geschlossen hatte, war Ranko über seine gelungene Heldentat außer sich vor Vergnügen. Er raste von der Speicherstiege bis zur Haustür und wieder zurück und stieß mitunter einen Trompetenstoß triumphierender Lust aus. Wenn er an seinem sogenannten Herrn vorüberschoß, sah er ihn von der Seite an mit funkelnden Schalksaugen oder stieß ihn mit der Schnauze an den Stiefel.
Melchior Stybelius begab sich in das Wohnzimmer und setzte sich an den Tisch. Gleichmütig, wie wenn nichts geschehen wäre, kam seine Tochter zur Tür herein, holte ihr Nähzeug vom Fenstersims und setzte sich auch an den Tisch. Während der Vater sein Süpplein aß, erzählte er zwischenhinein in kurzen, abgerissenen Sätzen die Erlebnisse des heutigen Nachmittags. Hanna hörte ihm schweigend zu. Als sie von der Lebensgefahr des Vaters gehört hatte, war sie erbleicht, und als er von seiner Rettung erzählte, traten Tränen in ihre warmen braunen Augen. Ihre Lippen öffneten sich zu einem unmutigen Worte, als er von dem Ausgange des Eheexamens berichtete; aber ihr Vater, der gerade aufsah, winkte ihr Schweigen. Er hatte seine Erzählung vollendet und seine Suppe gegessen. Mit dem ungestüm fordernden Bettler, der bei jedem Bissen an ihm emporsprang und ihn am Ärmel kratzte, teilte er Brot und Fleisch und erhob sich dann, um sich in sein Stüblein zu begeben.
Unter der Tür blieb er stehen und sah auf den Hund zurück, der sich auf ein Wolfsfell gelegt hatte: »Ranko, ich möchte dich gern bei mir haben; willst du mit mir gehen?«
Der Hund besann sich eine Weile, dann erhob er sich mißmutig, streckte die Glieder und wandelte wie ein verdrießlicher Wohltäter hinter dem Pfarrer her.
Als dieser in seinem Museum war, stellte er die Lampe auf den Ofen, so daß sie das ganze Zimmer erhellte, zog die Predigt aus dem Kamisol und begann den üblichen Zimmerwandel.
Aber seine Gedanken waren nicht gesammelt. Immer wieder zogen sie hinauf zu dem Burschen, der jetzt in der Nacht droben im Walde stand und mit bitteren Gedanken seiner gedachte. Melchior Stybelius war heute gar nicht mit sich zufrieden, und wenn er kein gutes Gewissen hatte, fiel ihm das Erlernen der Predigt noch einmal so schwer.
Er setzte sich auf sein Ruhebettlein und rief seinen Hund. Als dieser sich nicht rührte, trat er zu ihm, kniete bei ihm nieder und liebkoste ihn. Dann trat er an das Pult und schrieb in ein Büchlein die Worte: »Durch die Barmherzigkeit des grundgütigen Gottes habe ich heute drei Wohltaten erhalten. Erstlich: Bernd, der Jäger, und Apollonia Wamboldin haben mir das Leben gerettet. Zum anderen: Bernd, der Jäger, hat mir meine verlorene Predigt wieder gebracht. Zum dritten: Mein Hund Ranko hat mir die Weiber zum Haus hinausgeheult. Es dünket mich fast, daß ich für die letzte Wohltat am dankbarsten gewesen sei.«
Er ging dann wieder auf und ab und begann an seiner Predigt zu lernen. Aber mit einemmal ertappte er sich, wie er am Fenster stand, in die Nacht hinausschaute und an das arme Mägdlein dachte, das jetzt wohl auf seinem Lager heiße Tränen weinte.
In solchen Augenblicken wurde in dem alten Pfarrer die Sehnsucht nach seinem verstorbenen Weibe lebendig, und es trieb ihn zu seinem Kinde hin, das der Heimgegangenen in Aussehen und Wesen so ähnlich war.
Auch jetzt verließ er seine Stube und ging leise hinüber in das Wohnzimmer. Er hatte das Bedürfnis, von seinem Kinde gerechtfertigt zu werden, so daß er dann mit geheiltem Gewissen zu seiner Predigt zurückkehren könnte.
Es war, als ob Hanna ihren Vater erwartet hätte. Sie schlug die Chronik zu, in der sie gelesen hatte, und sah ihren Vater an, der gesenkten Hauptes im Zimmer auf und nieder ging.
Als er wieder einmal ihrem Stuhle zunächst war, blieb er stehen, schaute sein Kind an und sagte: »Hanna, ich bringe die dumme Geschichte nicht aus dem Sinn.«
»Ich auch nicht, Vater.«
Sie schauten sich in die Augen. Als Hanna bemerkte, daß die Augen ihres Vaters flimmerten, senkte sie die ihren.
Nach einer Weile hub der Pfarrer wieder an, wie im Verfolg der Worte, die er in sein Büchlein geschrieben hatte: »Weißt du, Hanna, die beiden anderen sind meine Pfarrkinder, und denen bin ich Besseres schuldig als nur ein Herz.«
»Ich kenne nichts Besseres, Vater, als dein Herz.«
Melchior Stybelius streichelte seinem Kinde die braunen Flechten, und seine Augen füllten sich mit Tränen.
»So mußt du nicht sagen, Hanna! Aber eines möcht' ich noch von dir wissen. Nicht wahr, Kind, ich konnte doch nicht anders handeln? Ich wäre treulos gewesen gegen mein Amt, wenn ich der Neigung nachgegeben hätte.«
Er liebkoste ihre Flechten, aber die billigende Antwort blieb aus.
»Dann hättest du vorhin auch die Weiber anhören müssen, Vater!«
Der Pfarrer sah betroffen auf.
»Wahrhaftig«, sagte er, »wenn ich sie hätte examinieren dürfen – ich glaube, sie wären jetzt noch da.«
Er trat ans Fenster und schaute durch die runden Scheiben in die Nacht hinaus.
»Hanna!«
»Was willst du, Vater?«
Er drehte sich rasch um und sah scharf zu seiner Tochter hinüber.
»Was würdest du tun an Apollonias Stelle?«
Hanna richtete sich auf, so daß ihr Kopf in den Schatten der Spinde kam, und sagte, ohne sich zu besinnen:
»Ich ginge hinauf zu ihm in seine Wildhütte, noch in dieser Nacht, und würde ihm sagen: ›Da hast du mich, ich bin dein Weib‹; und morgen früh ginge ich mit ihm in die Welt hinaus.«
Der Pfarrer ging auf sein Kind zu und drückte ihr Haupt an seine Brust. Dann sagte er: »Gute Nacht, Hanna«, und ging still auf seine Stube.
Hanna löschte das Licht aus und ging hinüber in ihre Kammer. Das volle Mondlicht fiel herein. Sie öffnete ihre Flechten und setzte sich ans Fenster. Sie schaute hinaus in den flimmernden Schein und gedachte an den Weg des Mädchens durch den stillen Wald den dunkeln Berg hinan.
Da hörte sie ihres Vaters Tür gehen. Sie erhob sich, um ihn nochmal zu grüßen. Sie hatte schon ihre Tür geöffnet. Da sah sie ihren Vater, zum Ausgange gerüstet, mit Hut und Stock aus dem Zimmer kommen.
Unter der Tür wandte er sich noch einmal in die Stube zurück und lockte mit flüsternder Stimme dem Hunde. Der kam aus seinem Winkel hervor, ging um seinen schmeichelnden Herrn herum und wandelte dann wieder ins Zimmer zurück. Hannas Vater machte noch einen vergeblichen Versuch, seinen Hund zu bewegen, ihn zu begleiten. Dann drückte er leise die Tür in die Falle und schlich die Treppe hinunter. Das Mädchen hörte, wie er die Haustür öffnete und von außen zuschloß, und wie seine Schritte in der Gasse verhallten.
Wie gern wäre sie mit ihm gegangen! Aber sie wußte, daß er sie nicht dulden würde, und sie hatte das Gefühl, daß er bei diesem Gange allein sein müsse. Sie trat ans Fenster und sah zum bleichen Himmel empor. »Hinter dem Hause muß der Mond strahlen«, sagte sie. Er hat hellen Weg. Und betend dachte sie an ihren Vater. Dann ging sie in die Küche, füllte die Ampel mit Öl und kehrte in das Wohnzimmer zurück. Ihr Buch lag noch aufgeschlagen auf dem Tische. Sie suchte, wo sie stehengeblieben war, und las weiter getrosten Herzens und fröhlichen Sinnes.
Es war stille Mitternacht, als der Pfarrer über den mondbeglänzten Marktplatz ging. Er eilte an dem schwarzen Gebirge seiner Kirche vorbei, die Steingasse hinab, dem Brückentor zu. Hier klopfte er dem Pförtner und nannte seinen Namen. »Ja ja, der Tod geht um drüben über dem Neckar«, brummte der alte Daniel und erhob sich von seiner Pritsche. »Es schleicht zu Weinheim weidlich herum und ist jetzt schon in dreizehn Häusern, und jetzt ist es allbereits in Neuenheim, so daß sie den Pfarrer rufen. Da kann es leichtlich auch hierher kommen. Denn es ist noch niemals zu Weinheim gewesen, ohne daß es auch hierher gekommen sei.«
Der Mann redete von der Pest. Er war ans Fenster getreten und rief hinaus: »Geht nur zu, Herr Pfarrer; die Pforte ist auf!«
Melchior Stybelius öffnete das Türlein und schlüpfte hinaus in die schwarze Nacht, in die der Mondschein durch die Lücken des Brückenbaues neugierig hineinschaute. Der Boden dröhnte unter seinen Schritten, und aufgescheuchtes Nachtgevögel huschte über ihn hin und flüchtete sich in die schwärzesten Winkel des Dachgebälkes. Jetzt stand er vor der aufgetürmten Finsternis des äußeren Tors. Er klopfte an das Fenster und nannte seinen Namen. »Barbara, Barbara!« rief innen der Wächter. »Der Pfarrer geht hinüber. Jetzt fängt in Neuenheim das Sterben an.« Nach einer geraumen Weile kam er heraus mit einer Laterne und dem unförmlichen Schlüssel. Er öffnete die Tür, und der Pfarrer trat hinaus auf die mondhelle Straße. Er eilte dem Ufer entlang; rechts der glitzernde Strom, links das lichterfüllte Rebgehänge. Dann bog er in die nächtige Schlucht ein, die ins Gebirg hinaufführt ...
Er schritt vorwärts, ohne sich umzuschauen, ohne innezuhalten. Alle Müdigkeit war verschwunden, und wenn der Weg steiler wurde, so reizte ihn dies, nur um so schneller zu gehen. Er sah kaum zur Seite, wenn es im Gebüsch raschelte, und er horchte kaum auf, wenn das Echo den Hall seiner Schritte zurückwarf. Nur wenn die Glockenschläge vom Heiliggeistturme zu ihm herüberklangen, blieb er stehen und zählte. Bald war er aus der Finsternis der Schlucht auf die lichtbeglänzte Berghöhe gelangt und eilte nun unter den flimmernden Zweigen der jungen Buchen fürbaß, immer hinauf. Er atmete schwer, und der Schweiß brach ihm aus den Poren. Aber er hemmte seine Schritte nicht, bis er oben stand an dem stillen Kreuzwege, wo das Brünnlein klang wie ein Silberglöckchen aus dem heimlichen Mondscheinreiche der Elfen.
Dort hinter dem Gebüsch mußte der Baumstamm liegen, wo die beiden Liebesleute gesessen hatten, und hier war der Weg, der zum Holtermann hinaufführte. Hinter diesem, zwischen der einsamen Waldstraße, die von den Römerzeiten her auf dem Kamme des Gebirges hinführte, und zwischen dem steilen Berghang, der in das Siebenmühlental hinabstürzte, lag des Kurfürsten Hirschgarten, den der Jäger Bernd Hieber vor dem Einbruch der Wildschützen zu hüten hatte.
Melchior Stybelius stieg rüstig den Berg hinan zwischen den hohen Föhren, deren rötliche Gipfel im Mondlicht leuchteten. Darauf kam er in stillen, dunkeln Tannenwald. Hier hörte er seinen eigenen Tritt nicht und atmete auf, wenn er mit dem Fuße an eine unterhöhlte Wurzel stieß. So ging er eine Weile. Dann lichtete sich der Blick. Er sah aus der Finsternis in einen Schlag hinaus, wo ein gespenstischer Tag waltete und auf den klaren Stämmen der vereinzelten Hochbäume sich flimmernde Wipfel wiegten.
Der Pfarrer ging langsamer; es war ihm feierlich zumute, wie wenn er auf die Kanzel stiege. Jetzt war er in den Schlag hinausgetreten. Auf dem Boden wechselten langgestreckte, schwarze Schatten mit breiten lichten Streifen. Dort das unförmliche Ungetüm, das mitten in einem weiten hellen Raum schwarz auf dem Boden klotzte, war der Schatten der Holtermannseiche; und zur linken Hand stieg sie selber empor, auf der Mondseite wie lichter Firnschnee, gegen den Schatten zu wie schwarze Felswand.
Die Gestalt des Pfarrers wandelte hoch zwischen den Bäumen, und ihr gespenstischer Schatten glitt von Finsternis zu Finsternis. Jetzt war der Schatten in die Nacht getaucht, die den Holtermann hütete, und schon wollte er wieder herauswachsen in das Licht hinein und dem nächsten Dunkel zu, da rief aus eben diesem Dunkel eine helle Stimme:
»Halt, oder ich schieße!«
Melchior Stybelius hatte die Stimme erkannt, und das Herz frohlockte ihm in der Brust.
»Bernd Hieber, laß mich hinaustreten ins Licht, und dann erschieße mich, wenn du willst.«
Eine Weile war alles still, dann fragte die Stimme von vorhin, aber sie bebte:
»Wer seid Ihr denn?«
»Das wirst du alsbald sehen!«
Der Pfarrer trat aus dem Schatten und befreite sein Haupt von dem breitkrempigen Hut.
Da stieß der andere einen Schreckensruf aus und begann:
»Alle guten Geister ...«
Der Pfarrer lachte. »Du Narr, ich werde doch nicht spuken bei lebendigem Leibe.«
Er trat auf den Jäger zu und griff mit der Hand voraus.
»Da ist die Armbrust, und da bist du selber. Hier hast du meine Hand, sie ist Fleisch und Bein und noch warm und lebendig, Gott sei Dank und dir!«
»Was wollt Ihr da oben?« fragte der Jäger entsetzt.
»Zu mir? Wer hat Euch verraten ...« brauste der Jäger auf.
»Verraten? Was ist da zu verraten? Komm heraus aus der Finsternis, daß wir uns in die Augen schauen! Bernd, bist du allein?«
»Ja.«
»Ist niemand in deiner Hütte?«
»Nein.«
»Weit und breit kein Mensch ?«
»Keiner, von dem ich weiß.«
»So komm! Ich bin müde. Wir wollen noch ein paar Schritte gehen bis zur Wegscheide. Dort steht eine Bank.«
Sie kehrten auf den Weg zurück und hatten bald die Bank erreicht. Sie lag im Dämmerschein. Der Mond neigte sich zum Untergang.
»Wir wollen uns setzen, Bernd. Leg dein Gewehr auf die Seite und antworte, was ich dich frage. Du wirst mir dieses Mal auf jede Frage antworten können. Aber Bernd, daß du mir die Wahrheit sagst! Versprich mir's bei Gott!«
»Bei Gott!« sagte Bernd.
»Sage, Bernd, warum hast du mich angerufen, als ich noch im Schatten war. Hätte ich Böses im Sinne gehabt, so hätte ich mich rüsten können zur Wehr.«
»Oder Ihr hättet auch fliehen können«, sagte Bernd. »Unter den Wildschützen ist so mancher arme Teufel. Hab' ich ihn nicht gesehen, so brauch' ich nicht wider ihn zu zeugen.«
»Siehst du, Bernd«, sagte der Pfarrer vergnügt, »jetzt bist du in der hundertundsiebenten Frage des Katechismus bestanden. Denn wie lautet selbige? ›Ist's aber damit genug, daß wir unseren Nächsten, wie obgemeldet, nicht töten?‹ Antwort: ›Nein, denn indem Gott Neid, Haß und Zorn verdammt, will er von uns haben, daß wir unsern Nächsten lieben als uns selbst, gegen ihn Geduld, Friede, Sanftmut, Barmherzigkeit und Freundlichkeit erzeigen, seinen Schaden soviel uns möglich abwenden, und auch unseren Feinden Gutes tun.‹ Die Wildschützen sind ja deine Feinde, Bernd ... Warum hast du mir denn heute mittag die Predigt wieder gebracht? Hättest du sie nicht gebrauchen können, um dir Pfropfen daraus zu machen?«
»Freilich wohl«, sagte Bernd; »aber ich wußte ja, daß sie euch zugehört. Und dann –«
Der Pfarrer fiel ihm erfreut ins Wort: »Wenn du deine Armbrust verlörest und ich fände sie, was wolltest du?«
»Daß ich sie wieder kriege.«
»Optime! Die hundertundelfte Frage ist auch bestanden. Denn wie heißt sie ? ›Was gebeut dir Gott im achten Gebot ?‹ Antwort: ›Daß ich meines Nächsten Nutzen, wo ich kann und mag, fördere und gegen ihn also handle, wie ich wollte, daß man mit mir handle!‹« »Ich habe noch nicht alles gesagt«, meinte der Bursche, und seine Stimme klang verzagt.
»So? Was hast du mir noch zu sagen?«
»Ich habe auch die Apollonia noch einmal sehen wollen.«
»Und mit ihr sprechen wollen?«
»Ja.«
»Und etwas mit ihr verabreden wollen?«
Der Bursche nickte.
Der Pfarrer kraute sich hinter den Ohren. »In der hundertundneunten Frage steht die Sache bedenklich. Weißt du, sie lautet: ›Verbeut Gott in diesem Gebot nichts mehr denn Ehebruch und dergleichen Schanden?‹«
Plötzlich aber ging ein Freudenschein über sein Gesicht, und er rief:
»Um so besser aber weißt du in der hundertundzwölften Frage Bescheid! ›Was will das neunte Gebot?‹ Antwort: ›Daß ich wider niemand falsch Zeugnis gebe, in Gerichts- und allen anderen Handlungen die Wahrheit liebe, aufrichtig sage und bekenne.‹ Zu den Gerichtshandlungen gehört auch das Eheexamen. In der zweiten Tafel bist du gut bestanden, Bernd. Wir wollen jetzt noch ein wenig die erste Tafel vornehmen. Wie du den Berg hinunter gesprungen bist, um mich vor dem Absturz zu retten, hast du da auch an Gott gedacht?«
»Dazu hatte ich nicht die Zeit«, sagte Bernd ehrlich.
»Gut. Wenn du nun selber hinuntergestürzt wärest und wärest todwund zwischen den Steinen gelegen, aber noch mit all deinen Sinnen, was hättest du getan?«
»Ich hätte mich umgeschaut, wo die Apollonia ist.«
»Recht so! Und wenn du sie heil und gesund gesehen hättest, was hättest du dann gesagt?«
»Gott sei Dank! hätte ich gesagt.«
»Vortrefflich! Und wenn sie tot neben dir gelegen wäre?«
»Dann wäre ich zu ihr hingekrochen und hätte ihr die Augen zugedrückt.«
»Und dann?«
»Dann hätte ich gesagt: Gott schenke ihr eine fröhliche Auferstehung!«
»Und wenn das Sterben an dich selber gekommen wäre?«
»Dann hätte ich gesagt, was mich meine Großmutter gelehrt hat.«
»Was hat dich denn deine Großmutter gelehrt?«
Der Bursche faltete andächtig seine Hände, schwieg aber.
»Nun?« ermunterte der Pfarrer.
»Das sagt man nur in Todesnot«, erwiderte Bernd leise.
»Auch in der ersten Tafel bist du gut beschlagen«, sagte der Pfarrer mit weicher Stimme. »So sind wir nun über die Gebote glücklich hinaus«, fuhr er munter fort. »Da in dem gottseligen Wandel nach den zehn Geboten sich des Menschen Dankbarkeit für die Erlösung erweist, diese Dankbarkeit aber den rechten Glauben voraussetzt, so wollen wir annehmen und uns dessen freundwillig versichert halten, daß du auch im Glauben wohl und vortrefflich bestanden seist. Nun aber die Sakramente! Wie wird es wohl damit stehen, Bernd? Das wird ein schweres Stück geben.«
Melchior Stybelius schaute eine Weile vor sich nieder; dann blitzte es schalkhaft in seinen Augen.
»Bernd«, sagte er, »sprich die Wahrheit! Weißt du, was Ubiquität ist?«
»Nein«, antwortete der Jäger betrübt.
»Gott wird dir solche Unwissenheit lohnen!« sagte der Pfarrer feierlich. »Und nun versprich mir, Bernd, erhalte dir diese glückselige Unkenntnis, wenn du nach Amberg kommst, wo die Lutherischen wohnen. Versprich mir, Bernd, daß du dich niemals mit der Ubiquität in deinen Gedanken abgeben willst, und daß du einen jeden, der dir diesen seelenmörderischen Irrwahn empfiehlt, als einen greulichen Verführer verabscheuen willst.«
»Das verspreche ich gern«, sagte Bernd treuherzig und schlug in die hingehaltene Rechte ein.
»So, Gott sei Dank! Jetzt sind wir auch durch die Sakramente glimpflich hindurchgekommen. Bernd, stehe auf!«
Der Pfarrer erhob sich gleichfalls.
»Bernd Hieber, kurfürstlicher Jäger, du hast dein Eheexamen rühmlich bestanden! Übermorgen ist Hochzeit im Pfarrhause.«
»In Eurem Hause?« fragte der Bursche verwundert. »Wer denn?«
»Bernd Hieber und Apollonia Wamboldin.«
Da schwang der Bursche seine Mütze und jauchzte in den Morgenwind hinein.
»Und nun leb wohl bis dorthin! Wann zieht der Kurfürst ab?«
»Am Dienstag nach der Mahlzeit.«
»Und am Dienstag früh um zehn Uhr ist die Trauung in der Heiliggeistkirche.– Welche Stunde mag es jetzt sein, Bernd?«
Der Jäger sah gen Himmel und sagte: »Drei Uhr ist's vorüber.«
»Und um halb neun Uhr habe ich die Predigt zu halten!«
Der Pfarrer fröstelte.
Der Mond war untergegangen. Sein mildes, weiches Reich war von harter, kalter Morgendämmerung verdrängt. Die Schatten waren verschwunden, aber auch das Licht war erloschen, und im kühlen Tau schauerte der Wald. Aus der Tiefe aber klang ein Wachtelruf.
Bernd begleitete den Pfarrer durch den Schlag und den Tannenwald bis an die Wegscheide, in deren Nähe das gestrige Examen stattgefunden hatte.
»Bis hierher darf ich gehen«, sagte er. Er trat aus dem Walde vor und spähte den Weg hinab.
»Nach wem spähst du aus?« fragte der Pfarrer.
Bernd antwortete nicht. »Wollt Ihr mir noch einen Gefallen tun?« fragte er nach einer Weile.
»Welchen?«
»Geht nicht die Hirschgasse hinunter, sondern am Heidenknörzel vorbei über die Kühruhe und die Küblerswiese nach dem Stifte.«
Bernd kämpfte mit sich, aber er fürchtete offenbar, das gute Ergebnis seines Eheexamens zu beeinträchtigen. Er blieb die Antwort schuldig.
»Es ist ein Umweg von einer halben Stunde, aber ich will dir den Gefallen tun, Bernd«, sagte der Pfarrer.
Sie schieden voneinander. Der Pfarrer griff wacker aus. Es war ihm so frisch und fröhlich zumute. Er lauschte auf das Gezwitscher der erwachenden Waldvögel und schaute in den goldig aufdämmernden Morgen hinein.
»Jetzt die Predigt«, sagte er. Er zog die Handschrift aus dem Kamisol. Aber es war noch zu finster, daß er hätte lesen können.
Er steckte sie wieder in die Tasche und suchte sich aus dem Gedächtnis den Gang der Predigt zu vergegenwärtigen. Wie stand sie ihm mit einem Male so deutlich vor der Seele, greifbar in allen ihren Teilen, übersichtlich und durchsichtig! Und wie er nun daranging, sie wörtlich durchzudenken, wie strömten, wie drängten sich die Gedanken, wie stellten sich mühelos die Worte ein! Er hielt die Predigt nicht laut, aber er machte mit der Rechten die Gebärden, während er in der Linken Stock und Hut trug. Jetzt tätschelte er seinem Kurfürsten die Wangen, jetzt hob er drohend die Faust.
Er war gerade an der Stelle angelangt, wo er den scheidenden Kurfürsten vor den Gefahren des Hoflebens warnt. »Wehe denen, die Helden sind, Wein zu saufen, und Krieger in der Völlerei!«
Er hob beschwörend seine Rechte, während er gerade im dichten Kochwald um eine scharfe Wegbiegung stürmte. Da hörte er unmittelbar vor sich den Entsetzensschrei einer weiblichen Stimme.
Als er zu sich kam und vorwärts schaute, da sah er, wie eine schlanke Dirne, die in der Rechten ein Bündel trug, eiligen Laufs den Berg hinunter flüchtete.
Der Pfarrer lachte hinter ihr her. Vergnüglich sagte er zu sich: »So hat denn Bernd, der Jäger, auch die schwierige hundertundneunte Frage bestanden, die vom siebenten Gebot.«
Als er eine Weile fortgeschritten war, kam er an einen Platz, von dem er den Weg bis hinunter auf die Landstraße überschauen konnte. Das Mädchen kam ihm wieder zu Gesicht. Es lief noch immer in der gleichen Fluchtschnelle.
»Ja, springe du nur, Dirnlein!« lachte der Pfarrer behaglich. »Wenn eine sündige Maid einem alten Seelenwächter zuvorkommen will, muß sie früher auf den Beinen sein.«
Eine übermütige Stimmung war über ihn gekommen, als er zu sich sagte: »Meine Hanna wäre mir zuvorgekommen...!«
Als der Pfarrer die Tür seines Hauses öffnete, da leuchtete ihm schon durch das Flurfenster die Morgensonne entgegen. Beim Treppensteigen fühlte er Todmüdigkeit in den Beinen. Aber sein Herz war vergnügt, darum hatte er das Bedürfnis, ein Wesen zu liebkosen, ehe er sich niederlegte. Er trat in die Studierstube, deren dumpfige Luft ihm fast den Atem versetzte, und trat auf seinen Pudel zu. Der Hund war durch die Tritte aufgewacht und sah, schwach mit dem Schwanze wedelnd, seinen Herrn verdrießlich an. »Du bist ein guter Hund, ein schöner Hund, der beste Hund in ganz Heidelberg«, so schmeichelte er der ungnädigen Bestie. Da umschlangen ihn von hinten zwei weiche Arme, eine zarte Wange schmiegte sich an die seine, und sein Töchterlein flüsterte: »Und du hast das beste Herz in ganz Heidelberg.«
»So früh schon auf?« sagte der Pfarrer, der sich die Liebkosung seines Kindes wohlig gefallen ließ.
Sie hielt ihren Vater umschlungen und fragte: »Wie ist es ergangen?«
»Gut, gut. Aber ich bin müde. Welche Zeit ist es?«
»Es ist fünf Uhr vorüber.«
»Laß mich zwei Stunden schlafen, dann wecke mich und halte mir die Morgensuppe bereit. Übermorgen ist bei uns Hochzeit.«
»Bei uns?« rief die Tochter erstaunt.
»Freilich. Aber du nicht. Bernd, der Jäger, und Apollonia Wamboldin.«
Der Pfarrer gähnte.
Hanna sah ein, daß jetzt keine Zeit zu Erörterungen sei. Sie begleitete ihren Vater bis an die Tür seiner Kammer.
»Weißt du auch«, sagte er, mit schweren Füßen an die Schwelle stoßend, »weißt du auch, daß ich über dich bei mir selber ein Urteil getan habe – in Vergleichung?«
»Ich verstehe dich kein Wort. Was für ein Urteil?«
»Das sag' ich dir erst an deinem Hochzeitstage. Wenn's dazu kommt«, fügte er seufzend hinzu und ging in seine Schlafkammer...
Der Kirchendiener stand besorgt vor der Sakristeitür und sah den Fischmarkt hinab. Es läutete schon eine Viertelstunde. Der kurfürstliche Hof war bereits erschienen, und der Pfarrer war noch nicht da. Da sah er ihn hinter dem Turme hervorkommen, langsam und schwerfällig, wie einer, der müde Glieder hat. Auch sah er bleich und übernächtig aus; aber seine Augen leuchteten fröhlich.
Der Kirchendiener ging beruhigt in die Kirche zurück, seine Obliegenheiten zu besorgen. Nach einer Weile kam er in die Sakristei und prüfte den Pfarrer von allen Seiten, ob er recht sei. Er zupfte ihm die Krause über dem Predigtmäntelchen zurecht und steckte die hervorlugenden weißen Bändel hinter den Kragen. Dann öffnete er ihm die Tür.
Die Kirche war gesteckt voll. Die Heidelberger wollten noch einmal ihren geliebten Kurfürsten schauen. Er hatte durch seine schlichte Leutseligkeit ihre Herzen gewonnen, und seine Fehler entschuldigten sie. Nicht minder hingen sie an seiner edeln Gemahlin, der Tochter des großen Oraniers. Als das stattliche Fürstenpaar durch ihre Mitte schritt, da hingen hundert Augen voll Zärtlichkeit und guter Wünsche an den hohen, adligen Gestalten.
Aber noch etwas anderes hatte die Heidelberger in die Kirche gezogen. Sie erwarteten, daß ihnen heute der kurfürstliche Erlaß wegen des Eheexamens mitgeteilt und ausgelegt werde, und es gab derer genug, die versichert hatten, sie würden laut und deutlich ihr Mißfallen kundtun.
Melchior Stybelius sprach heute etwas leiser als gewöhnlich, und seine Stimme hatte einen weichen Klang. Zuerst schien er unsicher zu sein, er redete stockend und versprach sich zuweilen. Aber bald riß ihn die innere Bewegung mit sich. Die Predigt war auf den scheidenden Fürsten gemünzt und sprach schlicht und warm all die Sorgen, Hoffnungen und Wünsche aus, die ein gutes Pfälzerherz in der Abschiedsstunde für seinen geliebten Pfalzgrafen hegte. Der Prediger vergaß alle anderen Menschen, er hatte es nur mit dem Kurfürsten zu tun. Er klopfte ihm auf den Backen, er strich ihm das blonde Haar aus der Stirn, er sah ihm in die hellen blauen Augen hinein und redete zu ihm ehrerbietig und väterlich vor allem Volk. Die Frau Kurfürstin hatte Tränen in den Augen, und Friedrich saß gesenkten Hauptes. Als die Predigt auf den Höhepunkt des strafenden Teils gelangt war und von der Kanzel die Drohung erscholl: »Weh denen, die Helden sind, Wein zu saufen«, da senkte sich das kurfürstliche Haupt noch tiefer, und der erste Reichsfürst saß inmitten der Bürger seiner Hauptstadt wie ein reuiger Sünder.
Nach dem Gesange der Gemeinde und nach dem Gebet kam die Verkündigung des kurfürstlichen Erlasses. Ein Rauschen ging durch die Versammlung. Die Leute stellten sich auf die Zehen, um besser hören zu können. Der Pfarrer verlas den Befehl ohne Erläuterung. Unter den jungen Bürgern entstand ein Räuspern und Scharren. Die Kurfürstin machte ihren Gemahl darauf aufmerksam. Dieser, um eines Hauptes Länge höher denn alles Volk, drehte sich um und ließ seinen Falkenblick über die Menge hinschweifen. Da wurde es mäuschenstille. Der Pfarrer hielt inne, schaute mit suchendem Blick in die Gemeinde hinein, und als er gefunden hatte, senkten sich zwei Mädchenaugen. Dann fing er an mit erhobner Stimme: »Nach rühmlich bestandnem Eheexamen werden zum anderen und letzten Male ausgerufen: Bernd Hieber, der Jäger, und Apollonia Wamboldin. Gott möge solchen zu ihrer übermorgen vorhabenden Hochzeit Glück und Segen verleihen!«
Ein fröhliches Flüstern rauschte durch die Kirche. »Das fängt gut an!« sagten die Mädchen zueinander. Die Burschen aber meinten: »Wenn der Bernd das Examen bestanden hat, dann brauchen wir uns auch nicht zu sorgen.«
Melchior Stybelius stieg die Kanzel hinunter. Unten wartete seiner der Kurfürst und streckte ihm die Hand entgegen. Hierauf trat die Kurfürstin auf ihn zu und dankte ihm mit warmem Blick.
Dann gingen die Herrschaften, von dem Geistlichen geleitet, den mittleren Gang vor und dem Turmtore zu. Die Leute waren in ihren Bänken geblieben, und jetzt streckten sich von allen Seiten dem Kurfürstenpaare die Hände entgegen. »Behüt euch Gott! Glückliche Reise! Kommet gesund wieder!« riefen Männer und Frauen. Ein Mütterchen rief der Kurfürstin zu: »Ein Söhnlein zur Weihnacht!« Und die hohe Frau dankte mit freundlichem Blick für den guten Wunsch.
Jetzt waren die Scheidenden, vom Volke umdrängt, bis zum Ausgange gelangt. Da blieb der Kurfürst stehen und fragte: »Wo sind denn die Hochzeitsleute, die das Eheexamen so rühmlich bestanden haben?«
»Der Jäger ist droben am Kirschgarten auf der Wacht«, erwiderte Melchior Stybelius.
»Hier ist die Wamboldin!« rief es, und zwei Frauen führten das errötende Mädchen vor das Fürstenpaar.
»Bernd, der Jäger, geht mit nach Amberg; da werden wir seine Liebste auch mitnehmen müssen«, sagte der Kurfürst lächelnd.
»Es ist noch ein Platz auf dem Mägdewagen«, erwiderte die Oranerin.
»Und den Bernd werden wir zum Kutscher machen müssen«, meinte der Kurfürst. »Seine Liebste aber muß zuhinterst sitzen, sonst wirft er uns den Mägdewagen um.«
Lachend ging der Kurfürst aus der Kirche. Vor dem Tore blieb er stehen und sah noch einmal nach dem Bräutchen zurück:
»Wann soll die Hochzeit sein?«
»Übermorgen«, sagte Apollonia knicksend.
»Potz Blitz, da müssen wir unsere Reise auf einen Tag verschieben, Luise!« sagte der Kurfürst zu seiner Gemahlin. »Ich muß natürlich bei der Hochzeit sein, und mein herzliebes Gemahl will auch wieder einmal tanzen.«
Diese verzog schmollend die Lippen.
»Wo werdet ihr beieinander sein? Im Hirschen?«
»In meinem Hause findet die Hochzeit statt, kurfürstliche Gnaden.«
»So? Im Pfarrhause? Wohl zur Probe für des eigenen Töchterleins Hochzeit? So gefallen mir meine Pfarrherren! Was gilt's, gestern haben meine Heidelberger über das Eheexamen gewettert, und heute sind sie vergnügt damit. Das habe ich Euch zu verdanken. Mein Gemahl und ich werden kommen zur Hochzeit! Verlaßt Euch drauf. Den Braten werden wir mitbringen. Wie sieht es mit Euerm Keller aus?«
»Kurfürstliche Gnaden werden's ja erproben!«
»Stybel, Stybel!« lachte der Fürst und hob drohend den Finger. »Während Eurer Predigt habe ich auf ein Vierteljahr das Trinken verredet, und Ihr seid der erste, der mich zum Trinken verführt!... Wartet, ihr Schlingel!« unterbrach er sich und kam seiner Gemahlin zu Hilfe. Diese war von einer Kinderschar eingefangen worden. Knaben und Mädchen reihten sich zu einem Kreis um die Fürstin und sangen im Ringelreihen
»Wer ist in diesem Türmelein?
Des Niederländers Töchterlein.
Darf man sie auch sehen?
Nein, der Turm ist viel zu hoch.
Man muß einen Stein abbrechen.«
Vor dem lustig scheltenden Kurfürsten stob das Geflügel kreischend auseinander. Er gab seiner Gattin den Arm und rief der lachenden Kinderschar zu: »Kommt morgen mittag um zwölf Uhr auf das Schloß, das Lösegeld zu holen. Was wollt ihr denn?«
»Roter Wein
Und Brezel drein.
Was noch dazu?
Paar neue Schuh«,
sangen die Kinder hinter ihm her.
Von dem fröhlichen, grüßenden Volke umdrängt, gingen die kurfürstlichen Herrschaften zu Fuß den Schloßberg hinauf.
Drei Tage später verließ der Hof die Hauptstadt. Aus allen Dörfern strömten die Leute herbei, um ihrem Pfalzgrafen Lebewohl zu sagen. In der Hauptstraße war ein Menschengewoge, so daß sich der Reiterzug, an dessen Ende der Kurfürst ritt, kaum hindurchwinden konnte. Des Rufens und Grüßens und Tücherwehens nahm es kein Ende. Dann kam die Kutsche der Kurfürstin. Es war keine Frau und kein Mägdlein in Heidelberg, das nicht noch einmal hineingegrüßt hätte zu dem lieben, blassen Gesicht. Den Schluß machten die Gesindewagen. Auf einem derben Fuhrwerk saßen acht dralle Mägde, lauter junge Ehefrauen, deren Gatten im Gefolge ritten. Auf der Vorderbank saß Bernd, der Jäger, mit der Peitsche in der Hand, und neben ihm, strahlend vor Glück, seine Eheliebste. Als sie an der Heiliggeistkirche vorüberfuhren, trat der alte Pfarrer Melchior Stybelius auf den Wagen zu. Bernd hielt die Pferde an, und noch einmal schauten die glückseligen jungen Leute in die guten Augen ihres Examinators. Sie schüttelten ihm die Hand, und der Wagen fuhr weiter. Er war noch nicht am Chor der Kirche vorüber, da richtete sich Bernd auf, drehte sich um und tat einen solchen Jauchzer, wie ihn der Heiliggeistkirchenturm bei all seinem Alter noch nicht vernommen hatte. Bis heutigentags hat der Turm keinen solchen Jauchzer gehört, und er ist doch seit damals um mehr als dreihundert Jahre älter geworden.