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»Wildfang! Wildfang!« klang es durch die kurze Gasse. Das Heidelberger Bürschlein, das so gerufen hatte, wartete eine Weile, ob der Kesselflicker, der eben in der kurfürstlichen Kanzlei verschwunden war, wieder herauskomme.
Der Platz war günstig: das Ruferlein stand im Schatten der hohen Mauer des Barfüßerklosters, und man konnte von seinem Standort nach verschiedenen Seiten hin ausreißen. Aber Wartenkönnen war noch nie eine besondere Tugend der Heidelberger Jungen gewesen.
»Wildfang!« rief das Bübchen noch einmal aus Leibeskräften die Kanzleigasse hinauf, dann ging es pfeifend von dannen.
Um dieselbe Zeit begegneten sich zwanzig Schritte davon zwei Männer; der eine ging würdevoll, der andere hatte es eilig.
»In den Rat?« fragte den Schwertfegermeister Johannes der kurfürstliche Apotheker. Johannes, der auf das »Wildfang!« gelauscht hatte, sah den Fragenden gedankenvoll an und nickte. Gleich darauf blieb er stehen und schaute zurück. Es war ihm eingefallen, daß er hätte antworten sollen: »Nein, zur Glockenschau!« Aber der Nachbar bog eben hurtig in die Kanzleigasse ein; dem war es wohl nicht so wichtig gewesen mit seiner Frage.
Johannes nahm die schwarze Mappe, die er in der rechten Hand getragen hatte, unter den linken Arm und zupfte den breiten weißen Kragen über seinem Mantel zurecht. Dann ging er langsam seines Wegs weiter, den Burgweg vollends hinab, am Kloster vorbei, am Marktplatze hin, auf die Heiliggeistkirche zu.
Als er vor dem schmalen, niederen Turmpförtlein stand, schob er einen Schemel zur Seite, der den Zugang versperrte. Der Schemel gehörte dem Geschirrhändler, der zwischen den beiden nächsten Strebepfeilern zur rechten Hand seine Bude hatte. »Guten Morgen, Meister!« grüßte der Mann aus seinem Lädchen heraus. Johannes winkte dankend mit der Hand, dann holte er einen breiten Schlüsselbund aus seinem Mantel hervor und hielt ihn vor sich in die Sonne. Die Sonne kam von hintenher; unter ihrem Glitzern leuchtete das weiße Haar milden Scheines auf dem blendenden Kragen, wie Silber auf einem damastenen Tischtuch. Der Alte beschaute aufmerksam die Schlüssel, dann griff er nach dem richtigen und wollte ihn gerade in das Schloß des Türchens stecken, als sich ihm eine Hand auf die Schulter legte.
Unwirsch sah er sich um, aber als er in die lachenden, grüßenden Augen seines Stubenherrn sah, verflog der Schatten von seiner Stirn.
Es wäre wohl niemand möglich gewesen, verdrießlich in diese fröhlichen Augenlichter zu schauen. Aus einem jungen, lebendigen Antlitz leuchteten sie frisch und ehrlich in die Welt hinaus. Der, dem sie gehörten, mochte guter Leute Kind sein. Die Kavaliersfeder auf dem Hut und der neumodische Degen an der Seite hätten auf einen von Adel schließen lassen, auf einen hannöverschen oder brandenburgischen Junker, wie sie sich damals häufig mit ihren Hofmeistern auf der Reise nach Welschland in dem lustigen Heidelberg aufhielten; aber das derbe, hausgemachte Tuch der Gewandung deutete auf einen Sohn aus schlichtem Bürgerhause, und die Schreibmappe unter dem Arm auf einen Studenten.
»Laßt mich Eure Akten tragen und nehmt mich mit, Hospes!« sagte der junge Mann, und schon hatte er seinem Hauswirt das schwarze Leder abgenommen. »Ich habe Euch etwas Herrliches aus dem collegium politicum des Herrn Samuel Pufendorf zu erzählen!«
»Einem anderen schlüge ich's ab«, sagte Meister Johannes und steckte den Schlüssel ins Schloß. »Gerade bei diesem Gange bin ich gern allein.«
»Verzeiht!« sagte der Student betreten und reichte dem Alten die Mappe hin.
»So ist's nicht gemeint!« rief Meister Johannes und drehte den Schlüssel um. »Euch hab' ich immer gern bei mir. Kommt nur mit, Jodokus!«
Er zog das Türchen auf. Aber ehe er eintrat, wandte er sich um und sah forschend und innig seinem jungen Freund ins Angesicht.
Jetzt sieht er mich wieder so an, dachte der Student und öffnete die Lippen; aber der Alte nahm ihm das Wort weg.
»Wir müssen langsam tun; darum will ich vorausgehen.«
Er trat in den Turm.
Dicht hintereinander gingen sie die finstere Wendeltreppe hinauf. Gleich nach den ersten Stufen hatte Jodokus angefangen, ein lustiges Liedlein zu pfeifen, aber als der Meister stehenblieb, unterbrach er sich und fragte: »Es ist Euch nicht recht, wenn ich pfeife; nicht wahr, Hospes?«
»Sonst immer, aber jetzt unterlaßt es lieber.«
Johannes ging weiter. Jodokus blieb stehen und rief hinauf: »Soll ich weggehen?«
»Nein, kommt! Aber seid ein bißchen ernsthaft, wenn Ihr könnt.«
Der Alte hielt sich beim Steigen am Seil. Als sie an einem Lichtloch vorüber waren und der helle Schein gerade noch des Jünglings Wange streifte, wandte der Ratsherr langsam den Kopf und schaute dem Studenten ins Angesicht. Dieser sah den Blick nicht, aber er fühlte ihn.
»Meister Johannes«, begann er, »warum schaut Ihr mich immer so an? Oder laßt mich anders fragen: Warum habt Ihr mich überhaupt haben wollen?«
»Heut ist mir's lieb, daß ich jemand eignes bei mir habe, mit dem ich reden kann«, sagte der Alte und stieg langsam vorwärts. »Meine Frau wäre mitgegangen, aber sie kann die Treppe nimmer steigen. Sie wird mich abholen, denn sie weiß, was für ein schweres Herz ich herunterbringe.«
Jodokus war errötet, als ihn sein Hauswirt jemand eignes nannte. Er schwieg eine Weile, dann hub er wieder an.
»Ich meine nicht heute, sondern überhaupt, von Anfang an. Ihr braucht Euch doch nicht mehr die Last mit einem Studenten aufzuhalsen, der Euch nur Unmuß ins Haus bringt? Warum habt Ihr mich denn damals haben wollen? Da komm' ich in den Burgweg hinein und denke bei mir: Dort den alten, lieben Mann mit den freundlichen Augen und dem weißen Haar, den bittest du, daß er dir zu einem Stüblein rate und zu ehrlichen Herbergsleuten. Und wie ich Euch frage, schaut Ihr mich an mit ebensolchen Augen wie vorhin und nehmt mich an der Hand und führt mich in Euer Haus. Hei, wie mir das Herz lachte, als ich in Eure Werkstatt kam! War mir's doch, als wär's meines Vaters seine! Ihr aber führtet mich die Treppe hinauf in die Stube zu Eurer Frau –«
»Vergesset Eure Rede nicht«, unterbrach ihn Meister Johannes, »aber schweiget jetzt. Es spricht sich und hört sich nicht gut beim Treppensteigen.«
Sie gingen nun schweigend weiter, bis sie in ein helles, breites Gemach kamen. Es war der Läuteraum. Die Enden der Glockenseile hingen von der Decke herunter. In einem Winkel führte eine hölzerne Stiege weiter hinauf. Dem breiten Fenster gegenüber in einer Mauernische war ein Bänklein, darauf sich der Alte setzte. Jodokus stand vor ihm und fuhr lebhaft fort:
»Wie mich Eure Frau sieht, schlägt sie die Hände zusammen und ruft: Der Valentin, wie er leibt und lebt! And Ihr behaltet mich bei Euch, gebt mir ein lustiges Stüblein, von dem ich den Schloßaltan schauen könnte und die schönen Hoffräulein der Frau Kurfürstin, wenn der dicke Turm nicht wäre; und die Hospita hält mich wie ihr eigen Kind. Aber wenn ich nach dem Valentin frage, dem ich so ähnlich sehen soll, dann weicht Ihr mir aus und die Hospita auch, als ob's nicht geheuer wäre, davon zu reden. Hier ist ein Ort, recht dazu geschaffen, wundersame Mär zu hören. Was ist's mit dem Valentin, Meister?«
Der Alte sah vor sich nieder. Nach einer Weile fragte er:
»Habt Ihr niemand in Eurer Familie, der ein Schwertfeger war, wie Euer Vater, und gleichen Alters mit ihm und mir, und der Valentin Herbert hieß?«
»Schwertfeger sind meine Vorfahren alle gewesen«, sagte der Student, »aber der Name Herbert kommt in unserer Schwägerschaft nirgends vor, und auch der Vorname Valentin ist unserer Familie fremd. Zudem ist keiner in unserer ganzen Freundschaft, von dem man nicht reden dürfte. Ihr aller Leben ist recht und schlecht gewesen; es müßte denn –«
Meister Johannes schaute den Studenten aufmerksam an.
»Erlaubt, daß ich mich zu Euch setze!« sagte dieser. Er war bisher vor dem Alten gestanden und hatte mit einem der Glockenseile gespielt, dem einzigen schwarzen unter den fünfen; Meister Johannes hatte ihm zugesehen, und sein Blick war einigemal mit eigentümlichem Ausdruck dem Wellenlauf des Seiles in die Höhe gefolgt. Jetzt warf der Student das Seil in den Winkel und setzte sich zu seinem Hauswirt.
Jodokus erzählte.
»Als Kinder kamen wir zuweilen von Dillenburg nach Herborn hinüber zu meinem Großvater, dessen Waffenschmiede hinter dem Amthause in der Chaldäergasse lag. Er hatte eine alte Bilderbibel, die wir oft betrachteten. Wenn wir sie durchgeblättert hatten, dann entzifferten wir, was der Urgroßvater hinten auf die letzten Blätter geschrieben hatte. Es waren Nachrichten über seine Eltern und Kinder, wann und wo sie geboren worden sind, wer sie über die Taufe gehoben hat, wo und mit wem sie ihren Hausstand gegründet haben; und wenn sie nicht mehr am Leben waren, stand auch, meist von anderer Hand geschrieben, von ihrem seligen Abschied darinnen. Unter den Kindern meines Urgroßvaters war auch ein Mägdlein angeführt, deren Namen durch einen dicken schwarzen Strich so zugedeckt war, daß er nicht mehr gelesen werden konnte. Daß es ein Mägdlein war, sahen wir daraus, daß am Anfang der Zeile vor dem ausgestrichenen Namen von des Urgroßvaters Hand geschrieben stand: eine Tochter. Hinter dem dicken Strich aber an der Stelle, wo bei den andern von ihrer Verheiratung oder von ihrem christlichen Ende zu lesen war, stand geschrieben: Den Namen der Gottlosen vertilgest du immer und ewiglich. Psalm 9, Vers 6.
Als wir wieder einmal hinter den Blättern saßen, trat gerade der Großvater ins Zimmer. ›Wer ist denn das‹ fragten wir und wiesen auf die verdeckte Schrift. – ›Das war eine Schwester von mir.‹ – ›Wie heißt sie denn?‹ – ›Sie hat keinen Namen.‹ – ›Wer hat den großen schwarzen Strich gemacht?‹ – ›Das hat euer Urgroßvater getan.‹ – ›Was bedeutet denn der schwarze Strich?‹ – ›Der bedeutet: sie ist nicht mehr vorhanden.‹ Damit nahm der Großvater uns das Buch aus der Hand und schloß es in die Lade. Mir aber geht es seit der Zeit durch Mark und Bein, wenn ich die Worte lese oder höre, die der Erzvater Jakob zu seinen Söhnen gesagt hat: ›Joseph ist nicht mehr vorhanden, Simeon ist nicht mehr vorhanden ... ‹«
»Habt Ihr denn gar keine Spur, wohin Eures Großvaters Schwester verschlagen worden ist?« fragte Meister Johannes.
Nach einigem Nachsinnen sagte Jodokus: »Vielleicht hat sich ihr Schicksal in der Stadt Mainz vollendet. – Hospes, was schaut Ihr mich so an?«
»Woraus schließt Ihr das?«
»Weil es ein Herkommen in unserer Familie ist, die Stadt Mainz zu meiden. Als ich nach Heidelberg zog, sagte mir mein Vater zu guter Letzt: ›Du weißt, Jodokus, kein Schuh aus unserem Geschlecht tritt auf das Mainzer Pflaster.‹«
Das dünne schwarze Glockenseil, das Jodokus vorhin in den Winkel gejagt hatte, zitterte zu seiner Rechten, und er griff von neuem danach, denn er hatte die Gewohnheit, daß seine Hand immer mit etwas spielen mußte. Sein Hauswirt aber, dessen Blick darauf gefallen war, legte ihm den Arm über die Schulter und nahm ihm das Spielzeug aus der Hand.
»Ihr seid es«, sagte er mit bewegter Stimme, »meines Herzbruders Gefreund. Die Ähnlichkeit hat nicht gelogen.«
»Habt Ihr die Verschollene gekannt?« fragte Jodokus schier erschrocken.
»Nein, und ich weiß auch ihren Namen nicht. Aber ihr Sohn ist mein Trautgesell gewesen hier in Heidelberg. In Euerm Stüblein hat er gehaust.«
Jodokus sagte zögernd: »Unser Name hat reinen Klang. War er ein ehrenhafter Gesell?«
»Ihr sollt es hören. Aber zuvor muß ich meines Amtes walten. Geht mit hinauf bis auf den Altan, dort wartet meiner, bis ich von den Glocken herunterkomme. Wir setzen uns dann in den Schatten des Turmes, und ich erzähle Euch von Valentin Herbert, Euerm Blutsverwandten, und meinem Herzbruder.«
»Erlaubt, daß ich Euch begleite«, bat Jodokus. »Ich bin immer ums Leben gern zu den Glocken hinaufgestiegen.«
Der Alte sah seinen Genossen freundlich an und nickte ihm zu, dann stand er auf und ging voran die hölzerne Treppe hinauf.
Sie kamen zu der Wohnung des Turmwächters und traten ein. Es waren drei freundliche Gelasse nach Nord, West und Ost. Der Wächter stand in gehorsamer Haltung an der Tür und gab dem Ratsherrn auf seine Fragen gebührenden Bescheid. Meister Johannes prüfte die Feuerlaterne, ließ sich die Brandfahne zeigen, besichtigte das Feuerhorn und maß das Öl im Fläschlein, ob es auch vorschriftsmäßig am Samstag für die Woche erneuert worden sei. Dann trat er auf den engen Vorplatz hinaus und untersuchte die Glockenseile, die hier, wo sie durch den Boden gingen, am meisten gescheuert wurden. Eines sprach er ab, die anderen waren in Ordnung. Nachdem all dies vollendet war, stiegen sie vollends hinauf.
Es ist ein eigen Ding, oben bei den Glocken zu sein. Da hängen sie nebeneinander, die großen und die kleinen, im dicken Gebälk. Es ist feierlich still bei ihnen. Weil sie so mächtig rufen können, darum können sie auch so merkwürdig schweigen. In den Winkeln hinter den Glocken ist es finster, so recht ein Ort für Fledermäuse und Schleiereulen. Aber durch die Schallöcher flutet der Sonnenschein, und draußen gehen die Winde. Die Schallöcher sind wunderbar hell und überaus festlich; so gibt es gar keine anderen Fenster mehr in der Welt. Man sieht es ihnen an, daß sich da der Glockenschwall hinausschwingt in die freie Luft hinein.
Die beiden Männer standen an einer Stelle, von wo sie den ganzen Raum überblicken konnten. Der Meister nannte die Glocken eine nach der anderen und erzählte von ihrer jeglichem Berufe. Aber eine, die in dem finstersten Winkel hing und tiefer als alle anderen, nannte er nicht.
»Was ist denn das für ein arm ausgestoßen Glöcklein, das nie keinen Sonnenstrahl kriegen kann und tief unter den anderen hängt?«
Der Meister, der gerade vorsichtig über die Balken schritt dem Ausgange zu, gab keine Antwort; aber als sie draußen waren und die Leitertreppe hinunterstiegen, sagte er: »Das ist die Armesünderglocke.«
Sie gingen an der Turmwohnung vorbei und noch eine hölzerne Treppe weiter hinab. Dann kamen sie an ein Pförtlein. Der Alte stieß den Riegel zurück, und sie traten hinaus auf den Turmaltan.
Da schauten sie auf den fröhlichen Strom zwischen seinen grünen Ufern, auf die dunkle Brücke hinter dem Brückentor und auf die trutzige Stromfeste, den Marstall. Und sie schauten über die Gärten und Wiesen der Vorstadt, über die Türme und Ringmauern hinaus in die lustige Pfalz, durch die der Neckar seine Schleife zieht, und sahen den Rhein in der Ferne leuchten, und darüber schwebten die Wasgauberge in blauem Duft. And dann schauten sie in den grünen Wald hinein, der zum Greifen nah in die Höhe steigt, und hinüber nach dem Fürstenschloß. Die Fenster glänzten in der Morgensonne, und der rote Stein hauchte eine milde Glut. Hinter dem dicken Turme schaute der Friedrichsbau vor wie ein lachendes Frauenantlitz hinter einer dräuenden Eisenfaust. Und sie schauten in die Altstadt hinunter, die aus tiefen steinernen Augenhöhlen zu ihnen heraufsah, und deren spitze Giebeldächer sich um die Kirche drängten wie erschrockene Schafe um ihren Hirten. And sie sahen in die Gassen hinein und mußten lächeln über die fußelnden Männlein und Fräulein; und wenn ein Bübchen über die Straße sprang, sahen sie es, als ob eine Ameise quer über einen Zaunstecken liefe.
Der Himmel war klarblau. Gerade über der Kirche aber hing eine wohlige, schwellende weiße Wolke; die warf einen milden Schatten auf die Stadt, während das obere Tal, die Kuppen der Berge und das ebene Land im Sonnenschein lagen.
Nachdem Jodokus seine Augen geweidet hatte, suchte er das Dach im Burgweg, unter dem sein Stüblein lag. Als er's gefunden hatte, deutete er auf den dünnen Rauchodem, der dem Schornstein entschwebte, und sagte: »Meister, das Feuer auf der Hospita ihrem Herd hat's nicht eilig, gerade wie der Ritterbote daheim in meiner Heimat.« Dann wandte er sich rasch um und rief: »Nun weiset mir den Speyrer Dom, wo die Kaiser begraben liegen.«
Johannes deutete nach der Richtung und sagte: »Seht Ihr dort das Hochgericht in der Ebene draußen, rechts neben dem Gaisberg? Gerade über dem mittleren Galgen seht Ihr die Türme von Speyer.«
Jodokus schaute hinüber; dann senkte er die Augen und rief:
»Hei, da kann man schön in die Stuben hineinschauen!«
»Man kann auch schön hineinschießen!« schmunzelte der Meister. »Habt Ihr's einmal getan?« fragte Jodokus.
»Das will ich meinen, ich und Kunigunde, wir waren die letzten da oben.«
»Wer ist Kunigunde?«
»Ihr werdet's hören, wenn ich Euch jetzt von meinem Hammergesellen, dem Valentin Herbert, Euerm Gefreund, erzähle. – Nicht hierher«, wehrte er, als sich der Student auf das Bänkchen gesetzt hatte, das hinter ihnen an den Turm gemauert war. »Ich muß hier immer nach dem Hochgericht schauen, und das tut meinen Augen weh; kommt, auf der anderen Seite ist auch ein Ruhsitz.«
Sie gingen um den Turm herum und setzten sich. Sie lehnten den Rücken an die Wand und schauten über das Kirchendach und das Rathaus hinüber den alten Strom hinauf in die grüne Bucht der Berge.
Meister Johannes hub an:
»Seit zweihundert Jahren und länger ist die Waffenschmiede am Burgweg zu Heidelberg bei allen, die Schwert und Sporen tragen, löblich bekannt. Hier hat der Vater des Philippus Melanchthon seinem Kurfürsten Flamberge und Hellebarden geschmiedet. Von dem kam die Schmiede auf den Urgroßvater meiner Frau. Sein Enkel, mein herzliebster Schwäher, hatte keinen Sohn, aber ein Töchterlein. Das sollte die Schmiede erben, und jeder, der als Gesell ins Haus zog, wurde darauf angesehen, ob er der Rechte sei, Tochter und Schmiede zu kriegen.
Es war im Jahre zwanzig. In Böhmen brannte das Kriegsfeuer. Aber man dachte bei uns: Heidelberg ist weit von Prag! Das Jahr neunzehn war gut gewesen, und man war fröhlichen Herzens ...«
»Was ist denn das?« unterbrach Jodokus den Erzähler und trat an das steinerne Geländer.
Von der Bergstadt her erscholl ein Geschrei wie von vielen hellen Knabenstimmen. Da man wegen der überhangenden Dächer in die engen Quergassen jener Gegend nicht hineinschauen konnte, war die Ursache des Getümmels verborgen. Aber der Lärm näherte sich der Kirche. An der Mündung der Apothekergasse blieben Leute stehen und schauten hinauf. Also da herab mußte die schreiende Schar kommen.
»Sind doch ein hitzig Völklein, die Pfälzer«, sagte Jodokus altklug und schüttelte mißbilligend seinen Lockenkopf. »Was die in einem Gäßlein zusammenspektakeln, das gibt bei uns einen Landlärmen von Hadamar bis Dillenburg.«
Jetzt hörte man einzelne Rufe aus dem unsichtbaren Chore. Es waren gellende Stimmlein. Nur ein einziges Wort schrien sie, das lautete: »Wildfang! Wildfang!«
»Sie jagen Euerm Kurfürsten einen Wildfang ein«, sagte Jodokus.
Meister Johannes schüttelte den Kopf und erwiderte: »So sind unsere Heidelberger Buben nicht; die stellen viel lieber dem Weibel ein Bein, wenn er einen Wildfang jagen will.«
Jetzt ergoß sich der lärmende Haufen auf die Hauptstraße. Voran ging ein Keßler, der eine Pauke trug, die er geflickt haben mochte, und hinter ihm drein sprangen große und kleine Buben und schrien: »Wildfang! Wildfang!« Der Keßler aber ging unbekümmert seines Wegs, und die Vorübergehenden blieben stehen und lachten.
»So hat die Gasse eine Komödie aus dem Jammer gemacht!« sagte Meister Johannes und strich sich die Haare aus der Stirn.
»Eine Tragikomedia hat heute auch Samuel Pufendorf den Pfälzer Wildfangstreit genannt«, erwiderte Jodokus eifrig. »Davon hab' ich Euch vorhin erzählen wollen. Ihrer fünfe von uns, lauter Rheinländer, haben ihn in einem Schreiben ehrerbietig darum gebeten, daß er uns im Kollegium sagen möchte, wer recht hat, ob Carolus Ludovicus oder seine Widersacher.«
»Ei der tausend!« rief der Ratsherr neugierig; »und was hat er denn gesagt?«
»Wildfang! Wildfang!« rief es noch einmal vom inneren Tore her, dünn und fremd, wie ein Spinnwebfädchen, das der Windeschwall heraufgetrieben hat.
»Oh, es war eine herrliche Stunde! Wir Ausländer jubelten wie noch nie. › Recte dixisti!‹ schrien wir, › pulcherrime, verissime, splendidissime!‹ Die Pfälzer, die zuerst Widerpart hielten, wurden mitgerissen. Nur ein paar vom Pfälzer Adel, ein Katzenellenbogen und ein Degenfeld und ein Menzingen, scharrten. Da schrie ich: › Cui non placuit exito!‹ Die anderen schrien mit. Da verhielten sie sich still. Der Kurprinz, der zuerst totenblaß geworden war, als das Lärmen anfing, wandte sich um und schaute mich freundlich an mit seinen schwermütigen Augen und klatschte in die Hände, daß seine bleichen Wangen rot wurden. Ich weiß, er kann den Degenfeld nicht leiden. Oh, es war ein herrlicher Spektakel!«
»Und was hat denn Herr Samuel Pufendorf für eine Antwort gegeben?«
»Oh, es war so fein und so groß, so wuchtig und so spitzig! Es läßt sich eigentlich nur auf lateinisch sagen.«
»Was war denn der Sinn?«
»Der Streit hat drei Seiten«, sagte er, »eine juristische, eine ökonomische und eine politische. Die Juristen müssen sagen: Der Pfalzgraf hat recht. Denn alle Leute, die nirgends hingehören und darum keine andere Heimat haben als des Reiches Boden, die sind von Rechts wegen dem deutschen König eigen als ihrem einzigen Schützer, so alle Landstürzer und Bastarde und Unehrliche und jedermann, der ohne Fried und Recht ist. Nun hat der Kaiser Wenzel alle Königsleute in jeglichem Gebiet, worinnen dermaleinst das Recht der Franken galt, dem Pfalzgrafen bei Rhein geschenkt für ewige Zeiten. Aber Jahr und Tag darf ein solcher leben und schalten und walten, als ob er frei wäre; aber wenn er zwölf Monate und sechs Wochen und drei Tage an einem Ort gewesen ist, der dereinst zum Frankenland gehörte, dann kann der Büttel des Pfälzers kommen bei Tag oder Nacht, der legt ihm die Hand auf die Schulter und sagt: ›Ich nehme dich im Namen meines gnädigen Kurfürsten zum Wildfang.‹ Jetzt muß er dem Pfalzgrafen zinsen und fronden; kein Teufel kann ihm helfen, es sei denn, daß er ihn in die Hölle holt. So müssen die Juristen sagen. Die Rentmänner aber werden urteilen: Dem Pfalzgrafen ist ein weidlich Mittel an die Hand gegeben, seine Untertanen zu mehren und seinen Schatz zu bessern. Und wenn ein Land so verödet ist wie die Kurpfalz durch den Jammer des großen Krieges, hat dann nicht der Herr des Bodens die Pflicht, dem verderbten Wesen aufzuhelfen? Auch in früheren Zeiten haben die Pfälzer so getan, jedesmal wenn es galt, die Kraft des Landes zusammenzuraffen. Nie aber war es nötiger als jetzt, und nie günstiger. Denn der Krieg hat auf dem Gebiet des alten Frankenlandes die Hälfte von allem verschlungen, was Recht und Heimat hieß, und die Hälfte aller Menschen dem hingeworfen, dem die Heimatlosen und Rechtlosen gehören. Kein deutscher Fürst würde sich besinnen, sie aufzuheben als ein Geschenk des Schicksals; warum sollte es der Pfälzer tun? – Nun aber hat der Wildfangstreit noch eine dritte Seite, die politische. Von der Politik verstehen die Juristen und Rentmeister unserer Tage soviel wie der Esel vom Saitenspiel. Ist es nicht eine Tragikomödie, daß der deutsche König seine Rechte verschleudert wie ein Verschwender den Silberschatz seines Hauses, und daß ein deutscher Fürst, um seinem Land aufzuhelfen, von Rechts wegen seine deutschen Nachbarn übel traktiert und ausplündert, und daß er, um ein Vater des Vaterlandes zu sein, ein Mitzerstörer des Reiches sein muß? ›Da seht ihr, was das Reich ist!‹ hat er uns zugerufen, und seine Perücke hat der Zorn geschüttert, und seine Augen haben gesprüht. ›Es ist kein Staatsgebilde, es ist ein Untier, das um die Wette mit den Fremden das deutsche Volk verdirbt. Aber das deutsche Volk ist nicht zu verderben‹, hat er gerufen. ›Deutschland ist trotz all seines Unglücks reich an Menschen und an Gütern. Die deutsche Nation ist kriegerisch von jeher, aber sie ist auch zu allen Werken des Friedens in Kunst und Wissenschaft, in Handel und Gewerbe und Ackerbau überaus geschickt. Unter einer starken Krone könnte unser Volk der ganzen Welt furchtbar sein; aber wir wären es nicht, sondern die ganze Welt würde reich werden von dem Segen des deutschen Volkes!‹ – Als er das sagte, ist ein Jubeln und Jauchzen ausgebrochen, daß es nicht zu beschreiben ist.«
Der Erzähler war in der Erregung aufgestanden. Seine Wangen waren gerötet, und mit seinen Locken spielte der Wind.
Meister Johannes schüttelte den Kopf. Er schaute nach dem Schlosse seiner Fürsten hinüber und sagte: »Fröhlich Pfalz, Gott erhalt's!«
Jodokus war den Augen seines Wirts gefolgt und rief: »Seht, wie der Hospita ihr Feuer brennt! Aus dem dünnen Streiflein ist eine Rauchsäule geworden.«
»Laßt das Feuer brennen, wie es will«, sagte Johannes bedächtig. »Kommt, setzt Euch auf das Bänklein und hört mir zu.«
»Ist Euer Hammergeselle Valentin vielleicht ein Wildfang gewesen?«
Der Meister zog die Augenbrauen in die Höhe und sagte: »Ihr werdet's hören. Kommt, setzt Euch her!«
Jodokus verzog den hübschen Mund. Seine Lust, den neuen Verwandten kennenzulernen, schien nicht übermäßig groß zu sein. Zögernd kam er herbei und setzte sich widerstrebend an die Seite seines Hauswirts. Aber ehe dieser den Mund öffnete, sagte der Studiosus fast ängstlich: »Hospes, in meiner Sippe sind lauter ehrenwer–«
Meister Johannes zerschnitt ihm das Wort durch eine gebieterische Handbewegung.
»Wir waren drei Gesellen«, fuhr Johannes fort, »und wir hatten gute Zeiten in der Schmiede verlebt und uns eine braven Batzen erworben. Denn als Friedrich mit seiner Engländerin noch bei uns hauste, war ein herrliches Leben oben auf dem Schlosse und nieden in der Stadt. Da war kein Tag, an dem nicht ankommende und scheidende Gäste an der Schmiede vorbeiritten, und die Lustbarkeiten auf dem Anger nahmen kein Ende. Für uns gab's alle Hände voll zu tun. Die Arbeit war streng, aber mit allerlei Kurzweil vermischt. Die Werkstatt wurde nicht leer von Herren, denen am Zeug zu bessern war, oder die kamen, um Waffen zu kaufen oder zu vertauschen, und mancher, der in einer Kavaliersfehde den Todesstoß erhielt, hatte vorher bei uns die Waffe, die ihm das Leben nahm, prüfend in der Hand gehalten. So gab es für uns viel zu gaffen und zu horchen, zu lachen und zu schwatzen. Dabei waren wir im Hause trefflich gehalten. Des Meisters Tochter Margarete sorgte für den Tisch – der Alte war ein Witwer –, und jeder von uns dreien hätte meinen können, daß sie ihm besonders günstig sei, so unparteiisch bedachte sie der Reihe nach jeden von uns mit seinen Leibspeisen.
Als die Pfalz nach Böhmen gezogen war, wurde es still in Heidelberg, und für uns kamen müßige Stunden. Die Büchsenmacher und die Stückgießer hatten mehr zu tun als wir, denn von unserem Gezeug waren die Rüstkammern trefflich voll. Ein Geselle hätte jetzt ausgereicht, aber der Meister bat keinem von uns ab; es mochte ihm die Wahl weh tun zwischen uns, und geradeso erging's wohl seiner Margarete. Auch von uns dreien kam keinem das Wandern in den Sinn, obgleich es keinem nach dem Geschmack war, auf der faulen Haut zu liegen.
Bald kamen bedenkliche Nachrichten aus Prag und hinter ihnen die Sorgen. Auch in der Pfalz wurde geworben, und unser gnädiger Herr, der Administrator, besann sich auf das pfälzische Wildfangrecht, um die Kriegskasse zu füllen. Alle Zugewanderten wurden aufgeschrieben und ihrer Herkunft heimlich nachgespürt. Unsaubere Gesellen taten dabei Kundschafterdienste. Hatte sich der Wildfang Haus und Hof erworben, so daß kein Verdacht des Auswanderns war, so blieb er unbehelligt; war aber Sorge, daß er aus dem Lande zöge und bar Geld mitnähme, so legte ihm der Büttel die Hand auf die Schulter und fing ihn für den Kurfürsten, dem er fortab zahlen und zinsen mußte, daß es eine Schinderei war. Einigen wenigen gelang es, sich vorher hinwegzustehlen; ob sie aber die Freiheit retteten, blieb ungewiß, denn in den Städten und Flecken all des Landes, worüber des Kurfürsten Wildfangrecht ging, saßen kraft alter kaiserlicher Bewilligung pfälzische Ausvögte, um jeden, der bis hierher entronnen war, abzufangen, und man erzählte sich, daß in den Dörfern der Waldecker Zent und anderwärts die Bauern zur Wildfangjagd aufgeboten wurden wie sonst zur Saujagd. Darum waren es nur wenige, die ihr Heil in der Flucht suchten. Es gab einen besseren Ausweg. Wer sich in einem pfälzischen Regiment anwerben ließ, war vor dem Vogte sicher, solange er dem Kurhut diente. So kam es, daß viele Gesellen, mit deren Herkunft es nicht in Ordnung war, die Werkstatt mit dem Rücken ansahen und dem Kalbfell nachliefen. Es verging nicht ein Tag, wo nicht der eine oder der andere von unseren Herbergskameraden in die Schmiede kam und uns zum Abschied lud. Da waren wir dann noch einmal beisammen und sangen gute Reiterlieder. Aber ein herzlicher und aufrichtiger Klang war nicht dabei. Keiner fragte den Scheidenden: ›Warum gehst du?‹ und von selber gab keiner Auskunft. Ein verdrücktes und verschlossenes Wesen hatte überhand genommen, denn Angeberei und Heimtückerei waren im Schwang. Darum redete niemand von seiner Herkunft, und keiner fragte den anderen danach. Da das Wildfangrecht lange vergessen gewesen war und die Herrschaft es von heut auf morgen hervorholte, war kein Mensch darauf gerichtet, und die Unsicherheit war um so größer. Auf der Herberge, wo es sonst so lustig zuging, ward es einsam und stumm. Handel und Wandel fingen zu stocken an, und wer Herr seines Leibes war, verließ die Stadt, über die krächzend die Raben flogen.
Wir drei blieben. Was ging uns der Wildfangschrecken an? Ich selber war ein Heidelberger Kind, und von den anderen beiden wußte ich nichts anderes, als daß auch sie bürgerbürtige Leute seien. Der eine war aus Friedberg in Hessen, der andere aus Mainz. So hatten wir nichts zu fürchten; und mochte es auch in der Stadt unerfreulich zugehen, wir drei hielten zusammen und hatten aneinander genug. Ich war von uns dreien der älteste und war auch am längsten in der Schmiede. Bald nach mir war Gerwig aus Kaiserslautern herübergekommen. Wir wurden schnell gute Freunde, und außer einem, mit dem ich zusammen in Bacharach vor dem Amboß gestanden hatte, war mir nie einer lieber gewesen als er. Den anderen freilich konnte ich nicht vergessen, und wenn wir des Sonntags nach dem Mittagsmahl in unserer Kammer lagen und die Hieben verzehrten, die Margarete uns mit hinaufgegeben hatte, und die Sonne so freundlich zum Laden hereinschien, und Gerwig sich streckte und sagte: ›Es ist doch eine Staatsherberg, dies Heidelberg‹ – dann erwiderte ich: ›Wenn noch mein Valentin da wäre, dann könnte es nirgends schöner sein in der Welt als hier!‹ – Auf den war aber nicht zu hoffen; er hatte auf dem Rochustag zu Bingen eines Ratsherrn Sohn niedergeschlagen einer Dirne wegen und war flüchtig gegangen. Darauf hatte es auch mir in Bacharach nimmer gefallen wollen, und ich war heimwärts gezogen. Von Valentin hatte ich seit Jahr und Tag nichts mehr gehört.
Da trat er eines Tags in die Schmiede herein und fragte nach Arbeit. Es war an einem Sonntag abend. Wir hatten auf dem Anger mit der Armbrust geschossen und saßen bei einem Kruge Wein in der aufgeräumten Werkstatt. Ich traute meinen Augen nicht, als ich die hohe Gestalt in der Tür stehen sah. ›Kennst du mich denn nicht mehr, Johannes?‹ fragte er. Da flog ich ihm um den Hals.
Valentin gefiel dem Meister ausnehmend wohl. Er war ein Bursche so stattlich und schön, daß ihn jedermann mit Lust ansehen mußte. Gemeiniglich schaute er sanft und treuherzig aus seinen Augen, aber wenn er einen rasch anblickte, fuhr ein Feuerstrahl heraus. Dabei war er lustig und gegen jedermann freundlich. Er war die gute Stunde selbst und brachte den Sonnenschein mit, wohin er kam.
In unserer Kammer wurde eine dritte Lagerstatt aufgeschlagen, und am anderen Morgen stand er mit uns am Amboß. Der Meister lachte über sein ganzes Gesicht, wenn er ihn heimlich betrachtete, so flink und geschickt und verständig war er bei der Arbeit.
Ich freute mich über seinen guten Einstand und war daheim und auf der Herberge stolz ob meines Kameraden. Dem gefiel es wohl bei uns, und er beschloß zu bleiben. Ich fragte ihn, ob er nichts zu fürchten habe wegen des Binger Ratsherrn Sohn, den er auf dem Rochusberg zuschanden gehauen hatte. ›Du meinst den Mainzer Fähnrich?‹ erwiderte er gleichmütig. ›Ach was, wer einem Liguisten den Arm gelähmt hat, braucht jetzt in Heidelberg nichts zu fürchten. Auf dem Wege hierher bin ich in Mainz selber gewesen und bin den Stadtknechten vor den Spießen herumgelaufen‹ – ›Das ist tollkühn!‹ rief ich erschrocken. Er zuckte die Achsel und meinte, er blühe unter einem glücklichen Stern.
Leid tat es mir, daß unseres Meisters Tochter über den neuen Gast nicht erfreut zu sein schien. Sie war scheu und stumm in seiner Gegenwart. Als ich sie fragte, ob sie ihn nicht leiden könne, zuckte sie die Achsel, und als ich wissen wollte, was sie gegen ihn habe, sagte sie, daß sie sich vor seinen blitzenden Augen fürchte.
Ein eigentümliches Ding war es mit Gerwig. An jenem Sonntag, wo Valentin kam, war er überaus lustig gewesen, aber mit Valentins Eintritt fiel ein Schatten auf seine Stirn, und er war ein paar Tage lang mürrisch. Aber das wunderte mich bei ihm nicht, denn er war zäh wie Harz, aber treu, wie die Hessen sind.
Es dauerte nicht lange, so hatte ihm Valentin das Herz abgewonnen, und täglich wuchs ihr Gefallen aneinander. Zuerst freute ich mich darüber, dann wurde ich traurig: ich merkte wohl, daß sie sich lieber hatten als mich; und doch war ich dem einen wie dem anderen der frühere Freund gewesen – jetzt aber war ich beiden entbehrlich geworden. Es entging mir nicht, daß sie mich leiden mochten als einen, der nichts verdarb und es ehrlich meinte; aber ihre Lust hatten sie ohne mich aneinander.
Eines Sonntags badeten wir vor dem Mittagessen. Da sah ich, daß sie sich ihre Zeichen in den Arm geschnitten hatten und Herzbrüder geworden waren, und mir hatten sie nichts davon gesagt! Als wir nach dem Mahle in unsere Kammer hinaufstiegen, kam's über mich mit Grimm und Weh. Die beiden hatten sich schon zum Faulenzen ein jeder auf sein Lager gelegt, und ich verteilte unter sie die Hieben, die mir Margarete mitgegeben hatte. Als ich Gerwig die neunte auf sein Bett hinzählte, fragte er verwundert: ›Hat sie dir heute siebenundzwanzig statt achtzehn gegeben?‹
›Nein‹, sagte ich; ›aber ich mag keine, der Bissen quillt mir im Mund. Es wird das beste sein, wenn ich meine Vaterstadt verlasse und wieder in die Welt hinausziehe!‹
›Warum denn?‹ fragte Gerwig verwundert.
›Ihr beide braucht mich doch nicht!‹ rief ich unmutig und warf mich auf mein Bett.
Eine Weile waren sie still, dann fing Valentin an: ›O du alter, guter, dummer Johannes!‹
Ich grub den Kopf in das Kissen, um nichts zu hören, aber soviel merkte ich doch, daß beide schwiegen.
Als ich am anderen Morgen in die Schmiede trat, kamen sie wie auf Verabredung auf mich zu, faßten mich freundlich an den Händen, und Gerwig sagte: ›Johannes, wenn es dir recht ist, wollen wir beide auch mit dir Herzbrüderschaft machen.‹ Da wurden mir die Augen feucht vor Freude. Wir riegelten die Schmiede zu und vollbrachten alles nach Schwertfegerbrauch. Zum Schluß ätzten sie mir ihre Zeichen in den Arm, und ich tat ihnen das gleiche mit dem meinen.«
Der Erzähler streifte Wams und Hemd an seinem rechten Arme zurück und zeigte seinem jungen Freunde die blauen Bilder auf der Kaut. »Das Karnischkettlein mit dem Dolch ist Gerwigs Zeichen«, erläuterte er. »Der gebogene Arm mit dem Schwertfegerhammer in der Faust ist Valentins Emblema; es stammt, wie er sagte, von seiner Mutter Seite.«
»Das steht ja auf meines Vaters altem Siegelring!« rief Jodokus.
Der Meister sah den Studenten bedeutungsvoll an.
»Euer Gefreund ist's, von dem ich erzähle. Doch hört weiter!
Von jenem Tage an hielten die beiden und ich zusammen wie Stahl und Eisen.
Valentin und Gerwig gingen Hand in Hand und Aug' in Auge; aber dabei streckte jeder die Hand aus nach mir, und ich ging bald neben dem einen, bald neben dem anderen. Mich deuchte damals, daß zwischen uns dreien kein Geheimnis und kein verborgener Gedanke möglich sei. Ach, und doch war beides vorhanden!
Es gab eine Sache, über die wir niemals redeten, obgleich sie so nahelag: das war die Frage, ob wir bleiben oder weggehen sollten. Wir saßen in der Schmiede, als ob dies so sein müsse, obgleich wegen der Kriegsläufe die feine Arbeit, für die wir eingerichtet waren, immer seltener begehrt wurde, und wegen des Wildfangwesens Beklemmung und Unmuß in der Stadt von Tag zu Tag zunahmen.
Von unseren Kameraden mußten wir deshalb manchen Spott hören. Sie meinten, daß jeder von uns des Meisters Tochter und die Schmiede ersitzen wollte, und sie wunderten sich nicht wenig über unsere Eintracht bei diesem Geschäft.
Aber nicht Margarete war der Grund unseres Bleibens, sondern ein anderes Frauenbild: das war Margaretens Muhme Kunigunde, die Tochter des Turmwächters auf der Heiliggeistkirche.
Ihr Vater war Schließer auf der Feste Dilsberg gewesen und war von dort mit seiner Tochter an jedem schönen Sonntag herübergekommen in die Burgwegschmiede zu Heidelberg. Das war noch zu der Zeit, wo es lustig in Heidelberg herging. Hatten sich Vater und Tochter in der Schmiede ausgeruht, dann zogen wir sechs, die beiden Alten, die zwei Mädchen und Gerwig und ich (Valentin war damals noch nicht da) auf den Anger hinaus und vergnügten uns nach Herzenslust. Bald nachdem der Kurfürst nach Böhmen gezogen war, wurde Kunigundens Vater von einem Schlagsfluß heimgesucht, und unser gnädiger Herr, der Administrator, gab ihm aus sonderlicher Huld den leichten Wärterdienst auf dem Turm der Heiliggeistkirche. Seitdem war Kunigunde täglicher Gast in der Schmiede.« –
Der Erzähler schwieg. Jodokus, der zuvor zerstreut zugehört hatte und erst aufmerksam geworden war, als Valentin, der mutmaßliche Sohn seiner Altmuhme, erwähnt wurde, sah seinen Hauswirt verwundert an. Der stand auf und ging den Altan vor bis an das entgegengesetzte Eck. Dort stand er eine Weile und schaute in die blaue Ferne. Dann kam er zurück, setzte sich auf das Bänklein, wischte mit der Hand über die Stirn und fuhr fort:
»So stolz und schön war keine, weder in der Stadt noch droben auf dem Schloß, als des Turmwächters Tochter. ›Sie geht wie eine Pfalzgräfin‹, sagten die Bürgersfrauen neidisch, wenn sie ihr nachschauten, und klagten, daß ihr Gruß hochmütig sei, als ob sie mehr wäre als alle anderen. Sie trug ihre schweren goldenen Zöpfe wie eine Krone auf dem Haupt und neigte beim Gruß ihr Köpfchen so leise, als ob sie für ein unsichtbares Krönlein auf der Flechtenkrone fürchte. Wenn ihr Mündlein nicht lachte, dann schmollte es. Ihr Lachen klang immer von oben herunter wie von einem Altan oder einem weißen Zelter, und wenn sie die Lippen aufwarf, dann sah sie aus, als ob die ganze Welt dazu da wäre, daß die Tochter des Turmwächters der Heiliggeistkirche ihre Glossen über sie mache.
Da ihr Vater am rechten Arme gelähmt war, besorgte sie den größten Teil seines Amtes. Sie löste ihn ab im Ausguckhalten und steckte die Brandfahne hinaus und schlug Sturm, wenn ein Feuer ausgebrochen war. Sie läutete die verschiedenen Glocken, von der Frühglocke bis zum Feierabendglöcklein, und des Sonntags überwachte sie das Zusammenläuten. Des Nachts und von der Mittagsglocke bis zur Vesperglocke war ein Stadtknecht ihrem Vater zur Hand. Gehaust hat sie droben in den Stüblein, die Ihr angesehen habt, und ihr liebster Platz war hier, wo wir jetzt sitzen.
Des Mittags nach dem Zwölfuhrläuten stieg sie den Turm hinab und tat ihre Gänge in der Stadt. War sie damit fertig, so verweilte sie den Rest ihrer freien Zeit in der Burgwegschmiede. Wenn sie hereintrat, kam der lichte Tag. Mit raschem Gruß ging sie an uns vorüber hinauf zu ihrer Muhme. Nach einer Weile, während deren wir Gesellen kein Wort sprachen und auf jeden Laut horchten, kamen die Mädchen herunter und setzten sich auf ein Bänklein der Esse gegenüber. Da saßen sie und schauten uns zu. Bald hub ein Lachen und Schwatzen an; das Eisen klirrte lustig, und die Funken sprühten dazu. Hatten wir's damit genug getrieben, dann sangen wir: ›Dort droben auf dem Berge, da steht ein Rautensträuchelein.‹ Oder: ›Es steht ein Baum im Odenwald, der hat viel grüne Äst.‹ Es ist nicht zu sagen, wie lieblich ihre Stimme scholl; die flog gleich einer Lerche über die anderen Stimmen hinaus, und der ganze Burgweg war voll süßen Getöns. Einmal war die Pfalzgräfin von Zweibrücken mit ihrem Frauenzimmer hereingetreten während des Gesangs. Sie stand an der Tür und winkte uns zu, daß wir zu Ende singen möchten. Margaretens dünnes Stimmlein hörte man fast nicht mehr, und auch Gerwig und ich schwankten und wurden unsicher und leise, aber unsere Lerche jubilierte geradeso gleichmütig und himmelsgewiß wie sonst, und wundervoll schmiegte sich ihr Valentins Stimme an. Als dann die Pfalzgräfin den Mädchen dankend die Hand reichte, da wurde Margarete über und über rot und knickste bis schier auf den Boden, aber ihr Gespiel neigte das Haupt, wie wenn sie die Kurfürstin wäre und sich die Pfalzgräfin für eine Huld bedankt hätte.
Unseres Meisters Tochter wußte immer etwas zu arbeiten, und auch während des Plauderns und Singens trieb sie jederzeit etwas Nützliches. Kunigunde dagegen hielt die Hände müßig im Schoß, oder wenn ihre schlanken Finger etwas zu schaffen hatten, dann war's ein Spielwerk.
Eines Tages wurde sie von Margarete, halb im Ernst, halb im Scherz, darob gescholten.
Da warf Kunigunde die Lippen auf und sagte: ›Meine Hände treiben ein heilig Werk, darum dürfen sie gemeine Arbeit nimmer tun.‹
›Was ist das für ein heilig Werk?‹ fragte Margarete.
›Glockenläuten!‹ erwiderte sie. ›Wenn ich's unterließe, dann wäre der Tag ohne Segen und die Nacht ohne Gebet.‹
›Darf man der Jungfer nicht einmal helfen bei dem heiligen Werk?‹ fragte ich.
›Warum denn nicht?‹ sagte sie lächelnd. ›Aber nur einer auf einmal. Es ist nur Platz für zwei auf dem Ausruhbänklein.‹
›Um so besser!‹ rief ich und lachte.
Kunigunde aber sagte: ›Ich habe zweierlei Glockenseile, weiße und ein schwarzes. Bei was für einem wollt ihr mir läuten helfen?‹
Sie schaute zu uns her, aber keinen an.
›Bei einem weißen!‹ rief ich.
›Und Ihr, Valentin?‹ fragte sie und beugte sich zurück in den Schatten des Feilenbords, das zu ihren Häupten war.
›Ich will Euch beim schwarzen helfen‹, sagte Valentin und spannte den Koller, den er über den Bügel gelegt hatte. Er sagte es leichthin und mühsam, wie der redet, der gerade eine schwere Arbeit tut.
›Das ist recht!‹ rief Kunigunde, und eigentümlich klang ihre Stimme. ›Bei den weißen Seilen brauche ich niemand, aber das schwarze geht zu einer schweren, schweren, schweren Glocke. Morgen sollt Ihr mir sie läuten helfen!‹
Gerwig hatte bei diesem Gespräche kein Wort gesagt. Er stand im finstersten Winkel der Werkstatt und feilte darauflos, daß das Eisen knirschte und stöhnte.
Nach dem Abendessen gingen wir drei auf die Herberge zum Wein. Als wir an die Ecke der Ingramstraße und der mittleren Badgasse gekommen waren, zog ein Haufen Menschen die Gasse her.
›Da haben sie wieder einen gefangen‹, sagte Gerwig; ›wer mag es wohl sein?‹
Wir warteten, bis der Trupp vorüber wäre.
Hinter dem Büttel zwischen zwei kurfürstlichen Knechten ging ein Bekannter von uns, ein Grobschmiedgeselle. Er war barhäuptig, sein Wams war zerrissen, und seine Augen waren mit Blut unterlaufen. ›Heute mir, morgen dir!‹ rief er herüber, als er unser ansichtig wurde.
Die Schar war vorbei, und wir gingen langsam unseres Weges weiter, mitten in einer aufgeregten schwatzenden Menge.
›Sie haben ihn vom Amboß weggeholt.‹ – ›Er hat sich am Büttel vergriffen und muß für drei Tage in den Turm.‹ – ›Sie haben ihm eine schändliche Falle gelegt; der krumme Schreiber auf der kurfürstlichen Kanzlei ist schuld daran.‹ – ›Er muß sein Werkzeug verkaufen, daß er den Fahndgulden zahlen kann.‹
So flog es uns von rechts und links in die Ohren.
Als wir in der Herberge angekommen waren, saß der Tisch voll Kameraden, und alle redeten von dem Vorfall. Wir setzten uns zu ihnen und hörten zu und redeten mit.
Niemand hätte vermutet, so hieß es, daß der Herbold ein Wildfang sei. Er habe sich selber verraten. Er sei zu einer Zeit nach Heidelberg gekommen, wo noch kein Mensch hätte denken können, daß die Herrschaft ihr Wildfangrecht hervorhole, darum habe er sich den Tag seiner Ankunft nicht gemerkt. Um ihn zu erfahren, sei er auf die kurfürstliche Kanzlei gegangen. Dort habe man Verdacht geschöpft, daß er vor Jahr und Tag davongehen wolle, und habe ihm ein falsches Datum gesagt, so daß er der Meinung gewesen wäre, er hätte noch lange Zeit. Unterdessen hätte man seiner Herkunft nachgespürt und gefunden, daß er ein Jungfernkind sei und darum dem Pfalzgrafen verfallen. Man habe ihn ruhig gewähren lassen bis auf die Stunde, wo zwölf Monate, sechs Wochen und drei Tage um waren, da habe ihn der Büttel gefangen. Es wurde weiter noch berichtet, daß der Grobschmied, der daran gewesen sei, Meister zu werden, wegen seiner unehrlichen Geburt aus der Zunft gestoßen werden müsse. Es bleibe ihm jetzt nichts anderes übrig, als Soldat zu werden, und er habe doch eine alte Mutter zu ernähren. An all dem Unglück sei niemand schuld als der krumme Schreiber mit seiner Schnüffelei.
›Schlägt denn niemand dem verdammten Schreiber die Zähne in den Hals?‹ rief Valentin ingrimmig. Dann schüttelte er sich, wie er immer tat, wenn er einer Sache los sein wollte, und war bald der Lustigste am Tisch.
Wir brachen alle miteinander auf. Die anderen waren schon auf der Straße, Gerwig und ich standen an der Tür und warteten auf Valentin, der als der letzter vom Tische aufstand. Er nahm seine Kappe von der Wand. Es war niemand in der Stube als der Wirt und wir drei. Im Nebenzimmer saßen noch ein paar Meister. Valentin ging an uns vorüber nach dem Fenster und sah durch die Scheiben in die schwarze Nacht. Dann wandte er sich um, schritt in den Winkel neben dem Schenktisch und blieb vor der Lade stehen, worinnen das Zunftbuch liegt, in das Name und Herkunft aller Gesellen und der Tag ihres Eintritts eingeschrieben sind.
›Nun?‹ fragte Gerwig verwundert.
Valentin aber wandte sich an den Wirt und sagte:
›Holt mir doch einmal das Gesellenbuch heraus! Ich möchte etwas darinnen nachsehen!‹
›Was wollt Ihr denn nachsehen?‹ fragte der Herbergsvater und schaute den Valentin von der Seite an.
Der gab keine Antwort, und der Wirt wartete auf keine, sondern ging in den Keller. Valentin setzte sich zu uns, die wir uns auf der Bank neben der Tür niedergelassen hatten. Valentin harrte des Wirts, und wir anderen schauten verwundert drein; keiner mochte fragen.
Als der Wirt wieder heraufkam, sagte er: ›Der Büttel hat das Buch geholt. Es liegt auf der kurfürstlichen Kanzlei. Wenn Ihr etwas nachsehen wollt, müßt Ihr dorthin gehen.
Dem Herbold hat der Gang die Freiheit gekostet‹, fügte er hinzu und trug den geholten Wein in das Nebenzimmer.
Wir standen auf und gingen nach Hause.
›Was hast du denn nachsehen wollen?‹ fragte Gerwig in der Finsternis.
›Ach nichts, eine Kleinigkeit! Ich sag's euch einmal. Heute ist mir's nicht drum.‹
Als wir in unseren Betten lagen, sagte keiner gute Nacht. Dies war ein Zeichen, daß jeder noch zu plaudern willens war; aber lange fing keiner an. Doch der Wein hatte mich aufgeregt; ich dachte an Kunigunde und an das schwarze Seil, und auf einmal fuhr mir's heraus:
›Ich möchte wissen, welchen von uns dreien sie am liebsten hat.‹
›Du brauchst nicht an sie zu denken, Johannes!‹ sagte Gerwig nach einer Weile. Seine Stimme klang schier hochfahrend.
›Oho! Warum nicht? Das möchte ich doch wissen!‹ rief ich auffahrend. Ich hatte etwas reichlich getrunken.
›Sie ist viel zu steil für dich‹, sagte jetzt Valentin.
›Zu steil?‹
›Ja! Wo man an sie hinkommt, findet man nichts als Absturz. Das ist nichts für dich, Johannes. Mach dich an die Margarete! Die ist wie der Königstuhl von hinten.‹
›Was du schwätzest! Wie der Königstuhl von hinten?‹
›Jawohl! Da geht es so sachte hinauf vom Angelbachtälchen her durch die Wiesen und Felder nach Gaiberg und durch den fröhlichen Wald so allgemach zum Gipfel. So ist die Margarete. Aber die Kunigunde ist wie der Königstuhl von vornen. Aus dem Strom steigt er dachjäh in die Höhe, so steil, daß man den Gipfel nicht sieht. Man weiß gar nicht, wie hoch der Berg ist, wenn man anhebt, hinaufzusteigen. Da bleib du weg, Johannes.‹
›Natürlich, das ist nur etwas für dich!‹ brummte ich. ›Seid jetzt still!‹ sagte Gerwig mürrisch. ›Ich will schlafen. Gute Nacht!‹
›Gute Nacht!‹ sagten wir. Ich wachte noch eine Weile, und solange ich wachte, hörte ich, wie sich Gerwig unruhig in seinem Bett herumwarf.
Am folgenden Tag hatten wir mehr zu arbeiten als sonst. Der Meister war in aller Frühe zu einem werten Kunden, dem Herrn Philipp von Selmstatt, nach Bischofsheim gefahren, um Waffen zu bringen und Waffen zu holen. Da hatten wir drei um so nötiger, fleißig zu sein, denn ein Herr von Gemmingen hatte am vorigen Abend einen Harnisch geschickt, den er zur Vesperzeit wieder haben wollte, und in der Frühe brachte der Büttel ein Richtschwert zum Bessern: es sollte ausgewetzt, geschärft und geglättet werden, und zwar alsobald, denn noch an demselben Tage wurde Hochgericht gehegt. Wir arbeiteten den Morgen über angestrengt, und keiner hatte Lust zum Plaudern.
Als wir nach dem Mittagessen wieder begonnen hatten, kam Kunigunde. Sie trug ein schwarzes Kleid und zeigte ein ernstes Gesicht. Margarete war ihr auf der Straße begegnet; so traten sie miteinander zur Schmiede herein. Gerwig und ich arbeiteten an dem Harnisch, Valentin glättete das Richtschwert. Kunigunde trat alsbald an den Tisch, sah Valentin freundlich an und sagte:
›Ich will Euch helfen!‹
Wir trauten unseren Ohren nicht.
Sie nahm einen Lappen Hirschleder vom Tisch, tunkte ihn in das Putzpulver und begann am oberen Ende zu reiben, da, wo das Eisen in eine breite Spitze zuläuft.
›Rührt das Ding nicht an!‹ rief Valentin und zog das Schwert zurück. ›Wißt Ihr, was das ist?‹
Kunigunde nickte. ›Freilich«, sagte sie; ›das ist auch eine vornehme Arbeit, so gut wie das Läuten.‹
Sie griff wieder nach dem Eisen, wie wenn es ein Gartenmesser wäre, zog es an sich heran und fuhr fort, eifrig zu reiben.
Ohne innezuhalten, sagte sie:
›Ihr helft mir ja heute auch – am schwarzen Seil ziehen!‹
Ihre Wangen glühten.
Wir beiden anderen waren aufgestanden und schauten nach dem Paare hinüber. Mir war der Anblick bitter; aber – ich wußte nicht, wie es kam – ich mußte voller Angst an Gerwig denken. Dem zitterte der Arm, so daß das Kettlein am Harnisch klirrte. Von Gerwig gingen meine Augen zu Margarete, die auf einem Schemel saß und Frühbohnen zum Nachtmahl richtete. Sie schaute nach dem Paar hinüber und lächelte glücklich in sich hinein, wie eine, die ein holdes Geheimnis weiß.
Das Richtschwert war nun glatt und hell wie ein Spiegel. Valentin hielt es in die Sonne, und Kunigunde betrachtete die eingegrabenen Zieraten. In der Mitte des breiten Eisens über den zarten Bug hinweg war ein Hochgerichtsbild dargestellt. Der arme Sünder saß auf dem Richtstuhl, die Hände auf dem Rücken, den Nacken bloß, die Augen verbunden. Hinter ihm stand der Rachrichter und schwang das Schwert in beiden Händen. Rechts und links von dem Bilde war je eine Inschrift. Kunigunde las:
›Die Herren wehren dem Unheil.
Ich exequiere ihr Urteil.‹
›Weiß der Mann sonst nichts?‹ fügte sie geringschätzig hinzu. Dann las sie leise den Spruch auf der anderen Seite und sagte: ›Das lautet besser:
Wenn ich das Schwert tu aufheben.
Dann schenke dir Gott das ewige Leben.‹
Sie sah das Bild an.
›Wenn er so hinter dir steht, kann nur deiner Seele noch geholfen werden‹, sagte sie zu dem armen Sünder auf dem Bild.
›O nein‹, erwiderte Valentin, und seine Stimme klang bewegt. ›Wenn jetzt ein Weib die Arme um ihn schlingt und ruft: Ich begehre dich zum Gatten!, dann hat sie das Recht, seine Stricke zu zerschneiden und ihn frei und ledig von dannen zu führen.‹
›Ist das wahr?‹ fragte Kunigunde.
›Ja, es ist Rechtens seit alter Zeit‹, versicherte ich.
›Das tut keine!‹ rief Kunigunde.
›Wenn sie ihren Schatz von Herzen lieb hat?‹ warf Margaretens sanftes Stimmlein ein.
›Gehört sie dann nicht in des Henkers Sippe?‹ fragte Kunigunde.
Es mußte jemand mit dem Kopfe genickt haben, denn sie richtete sich hoch auf und rief: ›Pfui! Dann ist sie ja unehrlich und gehört zu denen hinter der Stadtmauer am Mantelbau! Pfui!‹
Während sie dies sagte, schaute ich zufällig nach der offnen Türe und sah den Büttel den Burgweg herunter kommen, aber ich sah auch, wie Valentin bei Kunigundens Worten todesblaß wurde.
Der Büttel tappte jetzt über die Schwelle, blieb stehen und sah sich um. Schmunzelnd betrachtete er die beiden Mädchen und sagte: ›Bei euch geht's lustig zu!‹
Dann fragte er: ›Ist der Kitzelstecken fertig?‹
Valentin legte das Schwert in seine Scheide und überreichte es dem Büttel.
Der nahm es und fragte:
›Seid Ihr nicht der Valentin Herbert aus Mainz?‹
›Der bin ich; was soll's?‹
›O nichts‹, sagte der Büttel und sah Valentin freundlich an. ›Unsereins muß einen jeden kennen, von Amts wegen.‹
Dann zog er das Eisen heraus und betrachtete die blitzende Schneide.
›Hui!‹ rief er und zog die Schultern in die Höhe. Er stieß das Eisen schnell wieder in die Scheide. Dann wog er das Schwert in beiden Händen.
›Schwer ist's! Aber der Kerl hat auch einen Nacken wie ein Stier. – Wohl bekomm's! Wohl bekomm's! – So! Jetzt kann ich wieder gehen. – Viel Vergnügen miteinander!‹
Während der Büttel zur Tür hinauspolterte, trat Kunigunde zu Valentin. Auch sie war blaß geworden.
›Ihr wißt jetzt, wobei Ihr mir helfen sollt; seid um sechs Uhr im Turm. Und‹ – sie betrachtete ihn vom Kopf bis zu den Füßen – ›ich habe mein Nachtmahlkleid angelegt.‹
Als sie, von ihrer Gespielin begleitet, weggegangen war, arbeiteten wir schweigend, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt.
Eine halbe Stunde vor sechs Uhr legte Valentin still die Arbeit nieder. Keiner von uns anderen schaute auf, und keiner sagte ein Wort. Er ging die Stiege hinauf. Nach einer Weile kam er wieder herein in seinem Sonntagsgewand, mit hellen Wangen und Händen. Guten Feierabend wünschte er uns und verließ die Schmiede.
Wir arbeiteten weiter, ohne zu reden. Als es sechs Uhr zu schlagen anhub, legte Gerwig die Arbeit hin. Ich tat dasselbe. Wir lauschten. Als der letzte Stundenschlag verhallt war, fing das Armesünderglöcklein an zu läuten.
Ich kannte den Ton von Kindesbeinen an. Es kam mir vor, als hätte es nie so laut und hurtig geklungen. Natürlich; sie waren ja auch zu zweit.
Nach einer Weile hörte die Glocke auf. ›Das ist die erste Pause‹, sagte ich; ›jetzt geht der arme Sünder am Kirchturm vorüber.‹
Ich nahm die Arbeit wieder auf. Gerwig stand am Fenster und schaute in den Hof. Plötzlich schnellte er herum und fuhr mich an: ›Was willst du?‹
›Ich habe nichts gesagt‹, erwiderte ich und arbeitete weiter. Er wandte sich dem Fenster zu und starrte wieder in den Hof hinaus.
Jetzt fing das Glöcklein von neuem an. Der arme Sünder war am inneren Tore angelangt.
Es war mir, als habe die Glocke mit dem schwarzen Seil noch nie so schrillen Ton gehabt. Man hörte es ihrem wilden Klingen an, wie das Erz in den Lüften flog. Das Triumphieren des trunkenen Glöckleins nahm kein Ende. Es war nimmer zum Aushalten. Ich drückte mir die Ohren zu, aber das schneidende Sausen fand doch seinen Weg zu meinem Gehör. Gerwig lief in der Schmiede auf und nieder und schlug an das Eisenblech, das an den Wänden hing und in den Winkeln lehnte, damit der unheimliche Jubel vom Turme übertönt werde. Als er wieder einmal an mir vorüberfuhr, fielen mir die Hände von den Ohren, so erschrak ich über sein verzerrtes Gesicht.
Da merkte ich, daß die Glocke schwieg. Dann war mir wieder, als ob sie weiter läute. Sie hatte wirklich aufgehört. Aber durch die Lüfte zog ein scharfes Summen, und der Glockenton bebte mir noch im Mark.
›Läuten sie wieder?‹ fragte Gerwig.
›Nein‹, erwiderte ich. ›Die zweite Pause dauert länger als die erste.‹
›Ewig lang, ewig lang!‹ stöhnte Gerwig.
Dann rief er: ›Warum läuten sie denn nicht? Der Kerl ist ja schon zum Speyrer Tor hinaus!‹
›Sie werden gleich wieder anfangen‹, sagte ich, um ihn zu beruhigen.
Gerwig fuhr herum und sah mich ingrimmig an. Ich las ihm das Wort von den Lippen, das er mir zurufen wollte.
Dann zischte er: ›Sie sollen wieder läuten!‹ und schrie: ›Läutet! Läutet! Läutet!‹
Endlich fing das Glöcklein wieder an zu läuten. Gerwig horchte.
›Läuten sie?‹
›Ja.‹
Da nahm er ein Blech, warf es auf den Amboß, ergriff den größten Hammer und schlug darauf los, daß die Schmiede mit Getöse erfüllt war.
›Hör auf!‹ rief ich. ›Man wird ja verrückt!‹
Ich zog ihm das Blech unter dem Hammer weg. Da schmiß er den Hammer in den Winkel und warf sich auf einen Stuhl.
Wir lauschten. Das Glöcklein schwieg.
Ich machte mich daran, die Werkstatt aufzuräumen.
Gerwig stützte den Ellbogen auf das Knie, legte das Kinn in die Hand und schaute unverwandt nach der Tür. Er atmete schwer, und das Haar hing ihm in die heiße Stirn.
Nicht lange, so tat sich die Tür auf, und Valentin trat mit fröhlichem Gruße herein. Wir schauten ihm ins Gesicht. Ich sah ihm an, mit einer Gewißheit, die ich hätte beschwören mögen, daß er Kunigundens Mund geküßt hatte. Ein stolzes Lächeln lag auf seinen Lippen, und er kräuselte sie so voller Übermut, wie wenn sie ihm ihr Lachen und ihr Schmollen aufgeküßt hätte.
Ich schaute Gerwig an, ob der es auch sähe. Ja, er sah es auch. Seine Unterlippe bebte, unsere Augen begegneten einander, und wir verstanden uns.
Valentin war erregt und voller Gedanken. Lichter und Schatten flogen über sein Gesicht. Er ging unruhig im Gemach umher. Seine Augen ruhten zuweilen auf Gerwig und auf mir, wie wenn er uns etwas sagen wollte, was ihm schwer über die Lippen ging. Als er einmal hinter Gerwig stehenblieb und die Stuhllehne mit den Händen faßte, stand Gerwig auf, als ob er es nicht bemerkte, und ging zur Tür hinaus. Auch ich ging meines Wegs, und an diesem Abend redete keiner ein Wort mehr mit dem anderen.
Als ich in unsere Schlafkammer trat, lag Gerwig schon zu Bett. Ich merkte, daß er noch wache, aber es war mir nicht um ein Gespräch. Ich hatte mich kaum niedergelegt, als Valentin hereinkam. Er lauschte auf der Schwelle, und da wir beide still waren, trat er leise herein, entkleidete sich rasch und bestieg sein Lager. Ich hörte, wie er einigemal tief aufseufzte. Dann richtete er sich auf und sagte:
›Gerwig! Johannes! Gerwig! Wacht ihr? Hört ihr, was ich sage?‹
Gerwig gab einen Laut von sich, und ich fragte: ›Was willst du?‹
›Wißt ihr noch genau, an welchem Tage ich hierher gekommen bin?‹
Eine Weile gab ihm niemand Antwort. Dann sagte ich:
›Nein. Es wird etwa ein Jahr sein. Warum fragst du denn?‹
›Der Kurfürst war noch in Heidelberg‹, sagte Valentin; ›es war ein Sonntag?‹
Ich bestätigte es. ›Ja. Und Kunigunde war dagewesen. Aber die kam damals an jedem Sonntag vom Dilsberg herein.‹
›War es noch im Juli? Oder war es schon im August? Das weiß ich nicht.‹
Nach einer Pause sagte Gerwig, der bisher geschwiegen hatte: ›Ich weiß, wann du gekommen bist.‹ – ›Wann war's?‹ – ›Im Kopfe hab' ich's nicht.‹ – ›Hast du's aufgeschrieben?‹ – ›Ja.‹ – ›Wo denn?‹ – ›Nicht hier.‹ – ›Aber wo denn? Wo steht es denn?‹ – ›Im Wald.‹ – ›Im Wald?‹ – ›Ja.‹
Ich fuhr auf. ›Gerwig, redst du im Traum?‹ fragte ich.
›O nein, ich wache. Ich habe im Wald eine Buche; in ihre Rinde habe ich alles eingeschrieben.‹
›Und da steht auch, wann ich gekommen bin?‹
›Jahreszahl und Monat und Tag. – Daneben ist eine Armbrust in die Rinde geschnitten.‹
›Was bedeutet die Armbrust?‹
Gerwig antwortete leise: ›An dem Tag hat Kunigunde mit meiner Armbrust geschossen. – Am Abend dieses Tages – ich erinnere mich ganz genau – bist du gekommen.‹
Eine gute Weile war es still.
›Schau doch in dem Herbergsbuch nach!‹ rief ich, denn es war mir, als müsse ich ihn und Gerwig auseinanderhalten.
›Das ist ja auf der Kanzlei.‹
›Ich will für dich hingehen und fragen.‹
›Aber die Halunken geben es nicht aus der Hand.‹
›Nun gut; drum fragt man sie.‹
›Ach‹, sagte Valentin, ›dann denken sich die Schufte wer weiß was!‹
›Laß sie denken, was sie wollen!‹ meinte ich.
Gerwig aber fragte: ›Warum möchtest du denn wissen, wann du gekommen bist?‹
›Ach‹, erwiderte Valentin, ›ich möchte wissen, wann Jahr und Tag seit dem vergangen sind, zwölf Monate, sechs Wochen, drei Tage.‹
Da richtete sich Gerwig im Vette auf und fragte: ›Du bist doch kein Wildfang?‹
›Wo nicht gar!‹ rief ich, aber das Herz klopfte mir beklommen. ›Valentin ist so wohl geboren wie du und ich. Stammt nicht dein Vater aus einem sächsischen Pfarrhaus und deine Mutter aus einer nassauischen Schwertfegerfamilie?‹
›Das ist wahr, aber ...‹
›Was aber?‹ rief Gerwig.
›O ihr lieben Herzbrüder‹, seufzte jetzt Valentin, ich habe niemand in der Welt, dem ich mich anvertrauen darf, als euch, und ich will euch alles sagen, damit ihr mir raten und helfen könnt!‹
›Schweig!‹ sagte ich, aber zu gleicher Zeit sagte er:
›Meine Mutter hat meinen Vater vom Henkerskarren zum Gatten geholt.‹
Es wurde still im Gemach.
›Du bist unehrlich und rechtlos‹, sagte Gerwig nach einer Weile.
›Ja, das bin ich. Und ihr seid meine Herzbrüder. Dich, Johannes, habe ich immerdar als einen treuen deutschen Gesellen erkannt, und du bist mein allerliebster Gerwig – auf der Erde und im Himmel und in der Hölle mein Gerwig. Mein Geheimnis ruht jetzt in euern Händen. Es reut mich nicht, daß ich's euch gesagt habe.‹
›Weiß jemand davon in Heidelberg?‹ fragte ich.
›Ich glaube nicht. Aber in Mainz gibt es noch viele, die es erlebt haben, und wie leicht kann einer von denen hierher kommen.‹
›Darum möchtest du fort, ehe Jahr und Tag vorbei ist‹, sagte Gerwig.
Ich aber schalt Valentin: ›Du hättest gleich gehen sollen, vor einem Vierteljahr, als das Wildfangwesen anfing, oder hättest dich wenigstens damals nach dem Tag deiner Ankunft erkundigen sollen; das Buch lag noch lange auf der Herberge, und das Fragen war noch unverdächtig.‹
›Freilich‹, klagte Valentin. ›Aber ich dachte, ich hätte noch Zeit genug. Und vor dem Fortgehen fürchtete ich mich geradeso wie vor dem Gefangenwerden.‹
›Und jetzt?‹ fragte ich.
›Sie will ja mit!‹ jubelte Valentin. ›Habe ich noch acht Tage Zeit, so wird alles gut.‹
Dann richtete er sich auf, setzte sich auf des Bettes Rand und fuhr fort:
›Liebe Brüder, ich bitte euch, daß ihr mir helfet. Hundert Gulden habe ich, und wenn mir jeder von euch noch fünfzig Gulden leiht auf deutsches Gesellenwort, dann reicht es für uns. Wir ziehen fort aus des Pfalzgrafen Jagdbann, fort von der Heimat meiner Mutter und über die Heimat meines Vaters hinaus. Ich weiß eine Stadt, weit von hier, wo es für einen Fremden leicht ist, Meister zu werden, wenn er nur ein Deutscher ist.‹
›Was ist das für eine Stadt?‹ fragte ich.
›Auch das will ich euch verraten: Rosenberg in Schlesien, wo die Polen wohnen. Aber die Deutschen sind Herren, und die Polen sind Knechte.‹
›Und Kunigunde geht mit?‹
›Die geht mit.‹
›Und den lahmen Vater läßt sie zurück?‹ fragte ich ingrimmig.
›Den nehmen wir auch mit!‹ erwiderte Valentin. ›Wir kaufen ein Kütschlein und zwei Pferde. Hab und Gut machen sie zu Geld, dann haben wir noch einmal hundert Gulden. So fahren sie gemächlich, und ich reite daneben. Irgendwo unterwegs, wo die Herberge gut ist und die Vögel am schönsten singen, halten wir Hochzeit.‹
›Die Vögel singen nirgendwo um diese Jahreszeit‹, sagte Gerwig trocken.
Ich aber rief: ›Und das alles habt ihr miteinander ausgemacht, das schwarze Seil in den Händen?‹
›Das und noch viel mehr.‹
›Das ist ein unheimlicher Verspruch.‹
›Wir haben das schwarze Seil regiert und dem Tod kommandiert‹, sagte Valentin.
›Oder ihr habt ihn herbeigeläutet!‹
Valentin legte sich auf sein Bett zurück. Es war wieder still im Gemach.
›Geht denn Kunigunde gern so weit hinweg zu den fremden Menschen?‹ fragte ich, um das unheimliche Schweigen zu brechen.
›Ja, sie geht gern. Denn die Meistersfrauen gelten dort geradesoviel wie die Edelfrauen bei uns. Und sie braucht dort keine gemeine Arbeit zu tun. Sie kann soviel Knechte und Mägde haben, als sie nur will, lauter Polacken.‹
›Weiß Kunigunde von deiner unehrlichen Herkunft?‹ fragte jetzt Gerwig, der lange geschwiegen hatte.
›Nie darf sie davon erfahren!‹ rief Valentin. ›Ihr kennt sie ja, wie sie so stolz ist! Nicht umsonst heißt sie die Pfalzgräfin. Wenn sie je erführe, was ich bin, und was sie durch mich geworden ist, das könnte sie nimmermehr ertragen! Sie ist des Glaubens, daß ich auswandern will, weil ich dort rascher Meister werde als sonst irgendwo, und weil sie es dort besser bekommt als hierzulande.‹
›Aber wenn du nicht mehr soviel Zeit hast, wie du meinst, und auf heute oder morgen entrinnen mußt?‹
›Das ist nicht möglich. Ich habe gewiß noch vierzehn Tage Zeit.‹
›Aber gesetzt den Fall?‹
›Dann stell' ich etwas an, daß ich fliehen muß. Ich schleich mich vor der Vesperzeit, wo Kunigunde in der Schmiede ist, durch die Gärten auf die Kanzlei und schlage dem Schreiber, der unseren Kameraden, den Serbold, verraten hat, die Zähne in den Hals. Dann schließ ich die Kanzleistube zu und nehme den Schlüssel mit und springe durch das Fenster in den Winkel und durch die Gärten hierher. Ich sag' der Kunigunde: ›Ich habe mit dem Schreiber Händel bekommen und hab' ihm das und das getan, ich muß außer Landes fliehen, gehst du mit?‹ – Ich weiß, sie geht mit. Denn sie liebt mich; und Gefahren schrecken sie nicht, die locken sie an. Sie vertraut darauf, daß ihr und Margarete ihren Vater versorgen werdet. Ihr habt mir derweilen ein Pferd verschafft und zu deinem Oheim Johannes, dem Gärtner im Klingenteich, in den Stall gestellt. Dort treffen wir uns auf verschiedenen Wegen und reiten den Klingenteich hinauf nach Waldhilsbach zu und weiter nach einer Reichsstadt, wo man die Pfälzer nicht mag, nach Wimpfen oder Heilbronn. Dort sind wir vorerst sicher. So hab' ich mir alles ausgedacht, und ich vertrau dabei auf euch. Und nun, liebe Herzbrüder, wollt ihr mir helfen?‹
›Ja‹, erwiderten wir, zuerst ich, dann Gerwig.
Gerwig fügte hinzu: ›Ich weiß ein gutes Pferd in der Vorstadt, das ist feil.‹
Valentin überhörte dies und sagte:
›Schwöret mir jetzt, daß ihr weder meiner Braut noch sonst irgendeinem Menschen sagt, was ihr von meiner Herkunft wißt.‹
Wir richteten uns auf.
›Ich schwör's bei meiner Seligkeit!‹ sagte ich, und Gerwig tat den gleichen Schwur.
Dann schlug Gerwig Feuer und entzündete die Ampel. Er und ich stiegen aus unseren Betten, und jeder holte aus seiner Truhe fünfzig Gulden, die er dem Valentin auf die Bettdecke zählte. Der wickelte das Geld in ein Tuch und schob es unter sein Kissen.
Als wir wieder in unseren Betten lagen, sagte Valentin: ›Morgen ist der Kurfürstin Geburtstag, und Feiertag auf herrschaftlichen Befehl. Da gehen wir in der Frühe zu deinem Baume, Gerwig, und schauen nach dem Tage.‹
›Nein, nein‹, rief Gerwig hastig. ›Mein Baum wird keinem Menschen verraten. Aber ich will hinausgehen und dir die Kunde bringen.‹
›Wenn ich noch acht Tage Zeit habe, ist alles gut, und soviel ist es gewiß noch.‹
Und dann sagte er uns viel tausend Dank und wünschte uns gute Nacht. ›Nun hab' ich ein leichtes Herz‹, sagte er noch. Dann wurde es stille.
Ich lag noch eine Weile wach. Valentin war alsbald eingeschlafen. Man hörte seinen tiefen, ruhigen Atemzug. Gerwig lag unbeweglich, aber ich merkte wohl, daß er wache. Endlich schlief auch ich ein.
Gegen Morgen wachte ich auf, von einem Traum erschreckt, Um seiner los zu werden, richtete ich mich auf. Valentin lag auf dem Rücken und schlief ruhig. Ich sah nach dem anderen Bett, und es überlief mich: Gerwig saß aufrecht und schaute zu Valentin herüber. Unsere Blicke begegneten sich. Da legte er sich zurück. Ich tat das gleiche und war bald wieder eingeschlafen.
Als ich erwachte, hatte Gerwig schon Lager und Zimmer verlassen. Valentin stand angekleidet am Tisch und zählte sein Geld. Aber zwischenhinein lachte er und sang und plauderte mit den Gulden, so daß er immer wieder von vorn anfangen mußte. Endlich hatte er seine Barschaft beisammen: es waren zweihundertsiebzehn Gulden. Er band sie wieder in das Tuch und legte seinen Schatz in die Truhe. Dann kam er auf mich zu, schloß mich in die Arme und nannte mich seinen allerliebsten Bruder; und er lobte Gerwig als den treusten Freund. Er gönne mir von Herzen die schöne Schmiede mit der Margarete, und dem Gerwig alles gute Glück und das schönste Mädchen von der Welt nach seiner Kunigunde. Er werde uns das geliehene Geld auf der kaiserlichen Post zurückschicken mit den schönsten Stücken aus seiner Werkstatt und mit polnischen Pelzen für unsere Frauen, und wir sollten es erleben, daß er dankbar sei.
Mitten in diesen Reden trat er auf einmal ans Fenster, drehte sich kurz um und sagte mit einem angstvollen Schein in den Augen: ›Nicht wahr, Johannes, es wird alles gut?‹
Als ich angekleidet war, gingen wir in die Stube hinunter. Der Meister war in der Nacht von Bischofsheim zurückgekehrt und saß mit Margarete am Tisch.
Es war der erste Geburtstag der Kurfürstin, seit sie Königin von Böhmen war. Deshalb wurde auf Befehl der Herrschaft in der Stadt gefeiert. Um das gedrückte Gemüt des Volkes zu erquicken, veranstaltete der Rat des Nachmittags auf dem Anger ein Armbrustschießen, das vor dem großen Krieg in Stadt und Land die liebste Lustbarkeit war. Der Meister und Margarete beredeten gerade mit uns, wie wir den Tag zubringen sollten, als Gerwig eintrat. Er war vor dem Frühstück ein wenig im Freien gewesen. Nachdem er den Meister und Margarete begrüßt hatte, gab er Valentin und mir die Hand. Er war todesblaß, aber sein Blick war ehrlich und sicher. Als er Valentin die Hand drückte, sah er ihm fest und tief in die Augen.
Nach dem Frühstück verkündete Valentin dem Meister und dessen Tochter, daß er mit Kunigunde versprochen sei. Margarete lachte über ihr ganzes Gesicht, aber der Meister machte eine sauersüße Miene. Ich glaube, er hätte jeden von uns zwei anderen der Kunigunde lieber gegönnt als den Valentin, den er wohl seiner eigenen Tochter zugedacht hatte. Doch schluckte er den Ärger hinunter und wünschte Glück, wie es sich ziemt.
Als wir anderen uns wieder um den Tisch gesetzt hatten, verließ uns Valentin, um zu seiner Braut zu gehen. ›Ich bleibe über Mittag auf dem Turm‹, sagte er. ›Dann holen wir euch ab und spazieren über den Riesenstein, die Wolfsschlucht hinunter nach dem Anger.‹
›Was er befehlen gelernt hat!‹ schmälte der Meister, halb im Ernst, halb im Scherz. Valentin aber trat an Gerwig heran und sagte halblaut: ›Du bringst mir Nachricht?‹ Gerwig nickte mit dem Kopf. Dann ging Valentin zur Tür hinaus.
Gleich nach dem Mittagessen machte sich Gerwig auf nach seinem Baume. ›Ich suche euch am Riesenstein‹, sagte er. ›Seid ihr nicht mehr dort, so treffen wir uns auf dem Anger.‹
Eine Weile später kamen Valentin und Kunigunde, uns abzuholen. Der Meister schloß sich von der Gesellschaft aus; er wollte ein wenig auf die Zunftstube und dann auf dem bequemen Weg am Neckar hinab nach dem Anger. Wir viere spazierten langsam nach dem Klingenteiche zu.
Valentin und seine Braut waren ein wunderschönes Paar. Alle Köpfe wandten sich nach ihnen um, und die Leute, die an den offenen Fenstern saßen, standen auf und schauten ihnen nach. Margarete, die hinter Kunigunde und neben mir ging, wurde nicht müde, das stattliche Brautpaar leise zu bewundern. Immer wieder winkte sie mit den Augen nach ihnen hin und schaute mich darauf glückstrahlend an. ›Meine selige Mutter und mein Vater waren auch ein stolzes Paar‹, sagte sie mir, als wir beide noch unter der Wölbung des Klingentores gingen, während die zwei anderen stolz und schön im Sonnenschein vor uns den Berg hinanstiegen.
Mancher Seufzer quoll mir in der Brust, aber er kam nicht ans Licht. Auch wollte es mir nicht gelingen, recht von Kerzen traurig zu sein. Margarete an meiner Seite war ein gar zu sanfter Trost.
Wir gingen unter den grünen Bäumen die Schlucht hinauf. Die Vögel sangen nicht, aber sie flatterten im Gebüsch umher, und auf den Blumen und reifen Gräsern wiegten sich bunte Falter. So kamen wir an den Riesenstein. Hier war es schattig und still wie in der Kirche.
Noch heute stehen auf dem einsamen Platz die zwei Bänke, auf die wir uns paarweise setzten. Von der einen Bank kann man nicht zur anderen sehen, denn dazwischen liegen die großen Steine, die vor alters von den Riesen auf dem Michelsberg herübergeworfen worden sind. Von den beiden da drüben hinter den Felsen hörte man keinen Laut, und auch wir zwei waren an dem stillen Ort und auf dem trauten Sitz wie von selber ins Flüstern gekommen. Ich hatte meinen Arm um Margarete gelegt, und sie erzählte mir von ihrer seligen Mutter.
Eine gute Weile mochten wir so gesessen sein. Da hörte ich von oben her aus dem Walde, der unsichtbar über uns den Berg hinanstieg, einen heiseren Schrei, wie von einem Raubvogel. Er wiederholte sich zwei- und dreimal. Das zweitemal schien er mir von einem Menschen zu sein, und das drittemal erkannte ich Gerwigs Stimme. Ich stand auf, eilte hinter den Steinen vorbei und einen steilen Pfad hinauf, und bald rauschte es mir entgegen. Eine Weile war es still, aber dann rauschte es wieder und viel näher, und ich hörte die Schritte von einem, der den Berg heruntersprang. ›Valentin!‹ rief es ganz nah mit heiserer Stimme, und jetzt prallten wir aufeinander.
›Was für ein Unglück ist geschehen?‹ rief ich. Es war ein Anblick zum Erschrecken. Aus Gerwigs Augen schaute die Angst, sein Gesicht glühte, von seiner Stirn troff der Schweiß. Er winkte mir ab mit dem Hut, den er in der Hand zerdrückte. ›Valentin!‹ keuchte er und sprang an mir vorüber noch zwanzig, dreißig Schritte, bis an einen Vorsprung, der dem Gipfel des Riesensteines gegenüberhing. Hier blieb er plötzlich stehen, wie wenn er vor einem Abgrund zurückschrecke. Er griff mit beiden Händen nach den Seiten, hielt sich fest am Gezweig und beugte sich zurück. Dann duckte er sich zusammen wie einer, der mordlustig im Hinterhalte liegt. Ich hatte ihn rasch eingeholt und schaute hinab.
Was ich da unten sah, erklärte mir Gerwigs fürchterliche Erregung nur allzuwohl. Voller Angst und Sorge legte ich meinen Arm um seinen Nacken. ›Armer Gerwig!‹ sagte ich und schaute ihm ins Gesicht. Das wilde Zucken seines Mundes und der Ausdruck seiner Augen entsetzten mich.
›Er ist dein Herzbruder! Vergiß es nichts!‹ raunte ich ihm zu. Dann rief ich, um ein Ende zu machen: ›Valentin! Valentin!‹
Da tat er die Arme von ihr und schaute her. Als er uns erblickte, richtete er sich langsam auf. Kunigunde aber hielt seinen Nacken umschlungen und blieb auf seinem Schoße sitzen.
Valentin strich sich die Haare aus dem erhitzten Gesicht und schaute aus den Augen, als ob er im Traume wäre. Kunigunde wandte langsam den Kopf und schaute uns mit funkelnden Augen an, und dann maß sie die arme Margarete, die ahnungslos herbeigekommen war, mit einem hochmütigen und herausfordernden Blick, wie wenn sie sagen wollte: Was geht das dich an? Mach es auch so wie ich, wenn du das Herz hast!
Der Groll stieg in mir auf; aber Kunigunde war noch nie so schön gewesen als jetzt in ihrer hochfahrenden Glut.
›Valentin!‹ rief ich. ›Es ist Ernst! Komm herauf! Gerwig hat dir etwas zu sagen.‹
Valentin stand nun langsam auf. Kunigunde richtete sich mit ihm in die Höhe, dann glitt sie auf die Bank nieder, aber sie faßte jetzt seine Hand und hielt sie fest, und Valentin riß sich nicht los.
Er stand da und schaute uns an mit verständnislosen Augen, die wie im Rausch blickten. ›Es ist ja noch Zeit‹, sagte er.
›Wir wollen hinunter‹, flüsterte ich Gerwig zu, und wir stiegen den Abhang hinab. Als wir nebeneinander hinter dem Steine gingen, fühlte ich, wie Gerwig meine herabhängende Hand drückte. Ich schaute ihn an. Er war blaß geworden, und der Schweiß perlte auf seiner Stirn. Das unheimliche Feuer in seinen Augen war erloschen.
Als wir hinter den Steinen vortraten, sahen wir die beiden wieder auf ihrem Bänkchen sitzen, Hand in Hand, wie ertrunken im Verlangen.
Wir blieben stehen, und ich sagte: ›Valentin, komm auf einen Augenblick daher! Gerwig will dir den Tag sagen‹
›Ach, es ist ja noch Zeit genug!‹ sagte Valentin dumpf und stand auf. Kunigunde haschte nach seiner Hand, die glitt durch die ihre, aber die kleinen Finger hielten sich und hingen aneinander, wie wenn sie zusammengeschmiedet wären. Valentin kam auf uns zu. Die beiden Arme streckten sich, aber sie kamen nicht voneinander los.
›Was geht dich der Tag an, den dir Gerwig sagen will?‹ raunte sie halblaut; ›für uns beide gibt es ja doch nur einen einzigen Tag.‹
›Er ist auf dem Kohlhof gewesen‹, log ich – ich hatte mir das Märchen für den Notfall ausgedacht und brachte es jetzt zur Unzeit vor –, ›auf dem Kohlhof ist ein Pferd feil. Er hat nachgefragt, wann Valentin es zur Probe aus. reiten kann.‹
Während ich das sagte, schaute ich nach den verschlungenen Fingern. Es juckte mich, dazwischen durchzuschlagen. Ich hörte, wie Gerwig neben mir tief Atem holte; ich schaute ihn an. Sein Gesicht rötete sich. Ich sah, daß sich der niedergekämpfte Grimm wieder aufrichtete. Auch sein Blick ruhte auf den verschlungenen Fingern, und als er sich hob und erst Kunigunde und dann Valentin ins Angesicht traf, da war's, als ob er flehte: Laßt euch doch los!
Aber die beiden fühlten nichts als ihre Liebesglut. Kunigunde wiederholte mit verschleierter Stimme: ›Für uns gibt es nur einen einzigen Tag.‹ Und Valentin, wie wenn er die klafterweite Entfernung von ihr nicht ertragen könnte, zog sie, ohne nach ihr zu sehen, an dem Finger zu sich heran, schlang den Arm um sie und hielt sie fest an die Brust gepreßt.
›Nun? Wie lange noch?‹ fragte er und schaute Gerwig an, aber mit Augen, die nichts sahen.
Gerwigs Gesicht verzog sich; es wurde erdfahl und finster. Er öffnete die Lippen, aber er brachte keinen Ton heraus. Dann kam ein gurgelnder Laut, wie wenn er sich verschluckt hätte. Endlich stieß er heraus: ›Heute – über zwei Wochen.‹
›Nun also!‹ sagte Valentin und wandte sich lächelnd seiner Geliebten zu. Mich aber erschütterte ein furchtbarer Verdacht. ›Gerwig!‹ raunte ich. Der aber drehte sich um und schaute mich an mit düsteren Augen.
›Was willst du?‹
Ich schwieg.
In diesem Augenblick trat Margarete zu uns. Sie hatte meinen Hut mit Blumen geschmückt und schaute uns fröhlich an mit ihren ahnungslosen Augen. Es war, wie wenn ein frischer Wind den schwülen Brodem verjage, den wir vier atmeten, und als ob wir wieder reinere Luft schöpften, seitdem sie bei uns war.
›Nun ist es aber Zeit‹, sagte sie, ›daß wir aufbrechen. Der Vater kommt sonst vor uns an und wird uns schelten.‹
›Nach dem Anger wollt ihr gehen?‹ fragte Gerwig zögernd.
Wir waren aufgebrochen und verließen langsam den Ort.
›Freilich‹, sagte Margarete. ›So ist es ja mit dem Vater ausgemacht!‹
Das Brautpaar ging voran. Margarete ging zwischen mir und Gerwig.
›Johannes«, sagte Gerwig und sah mich bedeutsam an, ›wir sollten lieber nach Hause gehen.‹
›Aber warum denn?‹ fragte Margarete.
›Es sind so viele Leute auf dem Anger.‹
›Seit wann seid Ihr denn leutescheu geworden?‹ fragte Margarete spöttisch.
Ich aber zog Gerwig am Ärmel zurück und flüsterte ihm zu: ›Gerwig, du hast gelogen!‹ Er schaute mit unsicheren Augen an mir vorbei. ›Gesteh's‹, sagte ich dringend, ›sonst ruf' ich laut: Gerwig will seinen Herzbruder verraten!‹
›Gut!‹ flüsterte er heftig zurück; ›dann sag' ich alles, brech' meinen Eid und verspiel' meine Seele!‹
›Wir gehen auf den Anger‹ rief jetzt Kunigunde und wandte das schöne Haupt zurück. ›Je mehr Leute dort sind, desto besser! Ich will meinen Schatz allen Jungfrauen zeigen, und Valentin will seinen Schatz allen Junggesellen zeigen. Derweilen wir vor den Tischen spazieren, könnt ihr andern nach der Scheibe schießen. Wir kommen dann auch an den Stand; aber schießen darf Valentin nur, wenn er den Meisterschuß tun will.‹
Ich konnte meine Aufregung nimmer bemeistern.
›Valentin!‹ rief ich. ›Wir haben mit dir zu reden! Es gilt wahrhaftigen Ernst! Gerwig hat dir noch etwas Wichtiges zu sagen.‹
›Er soll's doch sagen!‹ antwortete Kunigunde.
›Dir allein, Valentin!‹ Valentin war stehengeblieben und schaute zurück.
›Das soll er in der Nacht tun, wenn wir in der Kammer liegen. Aber heute bringt keine Macht der Welt mich und meinen Schatz auseinander. Kommt!‹
›Es hat gedonnert‹, log ich in meiner Angst, ›es kommt ein Wetter. Wir wollen zurück nach Hause.‹
›Du bist ein Narr!‹ antwortete Valentin, und Kunigunde rief: ›Heute kommt nimmermehr ein Wetter! Dazu hat uns der Himmel viel, viel zu lieb!‹
Wir gingen am Trutzbayer vorbei und dann die steile Schlucht hinab der Vorstadt zu. Der Weg war durch die Stücke, die man auf die Schanzen geführt hatte, aufgerissen und reich an Furchen und Löchern, so daß wir drei mühsam gingen. Aber Valentin und Kunigunde schritten so leicht und sicher dahin, wie wenn sich der böseste Pfad unter ihren Füßen glätten müsse. Dabei jubelten sie und sangen, und zwischen hinein plauderten und scherzten sie miteinander. Sie redeten von Rosenberg im Schlesierland, von ihrem künftigen Haus und ihren Knechten und Mägden. Sie nannte ihn ›Herr Zunftmeister‹ und er erzählte ihr, daß dort die Polacken den Meisterfrauen das Kleid küssen.
So kamen wir an das Wolfschluchtpförtlein. Wir gingen durch und die Annagasse hinab auf die Hauptstraße.
Hier war ein Menschengedränge. Alles strömte dem Speyerer Tor zu. Dadurch kam ich von Margarete ab, und wir hielten uns nur noch mit den Blicken. Da trat Gerwig an mich heran und sagte rasch: ›Ich besorge, was ich kann, und suche euch wieder. Bring sie davon ab! Ist dies nicht möglich, so schaffe sie bald wieder fort! Fahrt auf dem Neckar zurück, oder wenn sie das nicht wollen, so geht auf der Neuenheimer Seite, daß wir uns nicht verfehlen. Ich such' euch zuletzt auf dem Anger; finden wir uns dort auch nicht, dann treffen wir uns zu Hause.‹
Ich faßte ihn am Ärmel und flüsterte: ›Gerwig, wann ist seine Zeit um?‹ Aber er hörte mich nicht mehr und war in der Menge verschwunden.
Ich eilte den dreien nach und holte sie unter dem Tor ein. Vor der Stadt zerteilte sich die Menge auf dem weiten Uferplan.
›Wir wollen nicht auf der Fähre überfahren,‹ sagte ich. ›Wir wollen einen Nachen nehmen; da sind wir allein.‹
Margarete und Kunigunde stimmten zu. Ich hoffte immer noch, den Besuch des Angers hintertreiben zu können.
Wir gingen an den Platz, wo die Boote zu warten pflegen. Kunigunde winkte einem vorüberfahrenden zu. Der Fährmann lenkte nach dem Lande, der Nachen fuhr auf, und die beiden Mädchen sprangen hinein. Diesen Augenblick benutzte ich. Valentin, der Kunigundens Hand nicht losgelassen hatte, war gerade im Begriff, in den Nachen zu steigen. Ich hielt ihn am Arme fest und flüsterte ihm ins Ohr: ›Es sind Fremde hier wegen des Straßburger Markts; da könnten Leute aus Mainz darunter sein.‹
›Wenn auch!‹ erwiderte er leise. ›Nur keine Angst! Ich leugne alles weg.‹
›Aber ...‹
›Ich habe ja noch vierzehn Tage Zeit!‹
›Wenn es nur wahr ist! Vielleicht hat Gerwig ...‹ Ich vollendete den Satz nicht. Er wandte sich um und schaute mich zuerst erstaunt und dann voll Verachtung an. ›Schäme dich! Wer seinem Herzbruder ein Schelmenstück zutraut, ist selber ein Schelm!‹
Er kehrte sich zornig ab. Ich aber faßte ihn fest mit beiden Händen, hielt meinen Mund an sein Ohr und flüsterte: ›Gerwig hat deine Kunigunde lieb, und da – –‹
Er wandte sich langsam um. Ein Schatten war über sein helles Antlitz geflogen, aber nur für einen Augenblick. Er schüttelte sich und sah mich mit einem großen Blicke an. ›O Johannes‹, sagte er. ›Es reut mich, daß wir beide dich zu unserem Herzbruder gemacht haben. Du weißt nicht, was Herzbrudertreue ist.‹
Er sprang in das Boot. Ich folgte ihm mit schwerem Herzen nach.
›Was hattet ihr denn für Heimlichkeiten miteinander?‹ fragte Kunigunde. ›Hätte ich dich nicht festgehalten, so hätte dich Johannes mir entführt.‹
›Ach!‹ antwortete Valentin unmutig. ›Wenn ich nicht wüßte, daß er der alte dumme Johannes ist, so‹ – er schüttelte grimmig beide Arme – ›so nähme ich ihn jetzt und würfe ihn in den Neckar.‹
›Oho!‹ sagte Margarete und legte wie schützend ihre Hand auf meinen Arm. Ich aber war willens, das Äußerste zu tun, um den Besuch des Angers zu verhindern. Valentin und Kunigunde saßen beieinander wie zwei Turteltäubchen. Sie waren so einsam in ihrer Welt, daß sie Gerwig nicht vermißten, nach dem Margarete alsbald gefragt hatte. Da hoffte ich, daß sie es nicht bemerken würden, wenn wir woanders hinführen, und befahl dem Fährmann, nach der Brücke zu rudern. Margarete wollte Einsprache tun, da legte ich ihr die Hand auf den Mund, was sie sich schweigend gefallen ließ, so verwundert auch ihre guten Augen blickten.
Wir fuhren schon den düstern Mauern des Marstalls entlang, als Kunigunde verwundert rief: ›Wo fahren wir denn hin?‹
›Nach der Brücke, und dann gehen wir heim‹, sagte ich ruhig.
Da stand Valentin auf, daß das Schifflein schwankte, und herrschte den Fährmann an: ›Umwenden! Nach dem Anger!‹
Der Bursche hob das rechte Ruder aus dem Wasser und sah mich verlegen an.
›Nach der Brücke‹, befahl ich.
›Die Ruder her!‹ rief Valentin und setzte sich auf das zweite Ruderbänkchen. Der Fährmann wollte ihm die Ruder reichen, aber ich griff nach dem einen und hielt es fest. Derweilen wurde der Nachen langsam talab getrieben.
›Nun ist es aber genug!‹ rief Valentin zornig. ›Wenn du nicht Frieden hältst, werf' ich dich in den Neckar!‹
Da kam ich auf einen verzweifelten Einfall. Wenn die Mädchen aus dem Wasser gezogen sind, dann haben sie keine Lust mehr, auf den Anger zu gehen. Ich suchte deshalb durch heftige Bewegung das Boot zum Umschlagen zu bringen. Die Mädchen lachten zuerst, bald aber fing Margarete an zu schreien, während Kunigunde mich mit großen Augen ansah. Ich hätte fast meinen Zweck erreicht, aber Valentin packte mich am rechten Bein, riß es in die Höhe und stürzte mich kopfüber in den Fluß.
Als ich wieder auftauchte und das Wasser aus den Augen geschüttelt hatte, sah ich das Boot vor mir. Der Fährmann ruderte dem Anger zu, Margarete streckte mir voller Angst die Arme entgegen, meinen Hut hielt sie im Schoße. Valentin stand und lachte aus voller Brust.
›Bist du jetzt vernünftig geworden, alter Johannes? Schwimm nur noch ein wenig nebenher!‹
Ich suchte das Boot zu ergreifen, um es umzuwerfen, aber der Fährmann, der alles für einen übermütigen Scherz hielt, entzog mir immer wieder durch einen kräftigen Ruderschlag das Boot. Endlich fühlte ich, daß meine Kraft zu Ende ging; ich mußte das Spiel aufgeben. ›Nehmt mich hinein!‹ rief ich. Der Nachen hielt, und ich schwang mich ins Boot.
Meine Kleider trieften, aber das Wasser war lau, und die Sonne schien noch heiß, und die Luft war warm; so beruhigte sich Margarete, die in tausend Ängsten gewesen war. Kunigunde aber sagte: ›Es ist Zeit, daß ihr beide unter die Haube kommt, ihr wilden Gesellen.‹
Valentin hatte die Ruder ergriffen. Wir flogen dem Anger zu. Wir sahen die Zelte, die tanzenden Paare und hörten die Musik.
Noch ein paar Ruderschläge, und der Nachen stieß ans Land. Hand in Hand sprangen Valentin und Kunigunde ans Ufer.
›Darf ich neben dir gehen?‹ fragte ich Margarete. ›Fürchtest du dich nicht vor meiner lächerlichen Gestalt?‹
Sie faßte mich zutraulich an der Hand und sagte: ›So mußt du nimmer sein! Das paßt gar nicht zu dir. – Was hast du?‹
Sie hatte meinen traurigen Blick gesehen.
›Du wirst alles erfahren‹, sagte ich und drückte ihre Hand. ›Komm! Laß uns eilen! Es droht ihnen Gefahr.‹
Wir erreichten die beiden noch vor den Zelten. Sie wandelten langsam an den Tischen vorbei und zeigten sich den Leuten in stolzer Glückseligkeit. Margarete schaute nach ihrem Vater aus, und ich spähte nach Gerwig.
Wie ich so vorwärts schaute, sah ich in einer Bude, an der unser Weg vorbeiführte, vorn am Tisch, halb auf der Gasse, den Büttel sitzen. Er sah uns entgegen, und ich bemerkte, wie sein Blick auf Valentin ruhte und nicht von ihm wich, so viele Leute auch neben uns und hinter uns kamen und gingen. Das war nicht auffallend, denn Valentin ragte über alle hervor. Aber es lag etwas in des Büttels Augen, das mir nicht gefallen wollte.
Das Brautpaar drängte sich an dem Büttel vorüber, und dieser rückte, um Platz zu machen, weiter hinein und aus der Gasse heraus. Valentin schaute von ungefähr an ihm vorbei in die Bude hinein, wandte aber alsbald den Kopf und zog Kunigunde vorwärts.
In diesem Augenblick stand einer auf, der an des Büttels Tisch gesessen hatte. Er beugte sich über eine Weinlache und einen umgestürzten Becher herüber und sagte:
›Ei, Valentin Herbert, seit wann bist du denn so stolz, daß du deinen Landsmann nimmer kennst?‹
Er streckte ihm die Hand entgegen.
Valentin verfärbte sich und wandte sich um.
›Wir haben keine Zeit, guter Freund« rief ich; »wir suchen jemand.‹
›Glaub's wohl, daß 'er Eile hat‹, sagte der andere. ›Aber er wird doch seinem Landsmann noch die Hand geben können?‹
Valentin reichte ihm die Hand und sagte: ›Marx! Seit wann bist du hier?‹
»Seit vierzehn Tagen. Ich habe Felle gebracht von der Frankfurter Messe für die Kürschner. Aber ich war seit der Zeit schon wieder einmal in Mainz.‹
›Wir haben uns lange nicht mehr gesehen, Marx!‹
›Aber ich habe dich schon gesehen, am ersten Tag, wo ich hier war.‹
Valentin erschrak sichtbar und sah den Büttel an. Der nickte ihm zu und hob ihm sein Glas entgegen.
›Ich danke‹ sagte Valentin abwehrend. Dann reichte er seinem Landsmann die Hand.
›Ein andermal, Marx! Lebe wohl derweilen!‹
Wir gingen weiter.
›Du bist verraten‹, flüsterte ich Valentin zu.
›Ja‹, gab der zurück. ›Es schadet nichts. In vierzehn Tagen ist der letzte pfälzische Vogt hinter mir.‹
›So sehen deine Landsleute aus?‹ sagte Kunigunde und ergriff wieder den Arm ihres Liebsten. ›Der will mir gar nicht gefallen. Woher kennt ihr euch denn so genau?‹
›Wir haben als Kinder miteinander an der Stadtmauer gespielt.‹
›An der Stadtmauer?‹ fragte Kunigunde verwundert.
›Ja. Was ist denn dabei? Wir wohnten in der Nähe.‹
Dann schaute Valentin zu uns zurück und sagte: ›Wir finden Euern Vater nicht, Margarete. Du hast recht gehabt, Johannes, das Gedräng ist häßlich. Wir wollen umkehren und nach Hause.‹
›Aber nicht auf demselben Wege‹, gab ich zurück. Ich konnte durch die Zeltstangen über eine Reihe von leeren Tischen hinweg nach dem Platze schauen, wo der Büttel gesessen hatte: der Stuhl war leer.
›Wir wollen hier gleich die Gasse hinaus nach der Ladenburger Straße zu.‹
›Dort wollen wir noch vorbei gehen!‹ sagte Kunigunde und wies nach einem seitwärts stehenden Tisch, um den Studenten saßen. Valentin zögerte, aber Kunigunde sah ihn lächelnd an und zog ihn mit sich.
Es ist ja nur ein kurzer Umweg, dachte ich, und vielleicht finden wir Gerwig, der allein weiß, was jetzt nottut.
Kunigunde und Valentin gingen langsam auf den Tisch zu. Die Augen der Studenten waren auf das herrliche Paar gerichtet. Der vorderste stand auf, brachte einen Pokal, verneigte sich vor Kunigunde und sagte: ›Dürfen wir die schöne Jungfrau und ihren Liebsten bitten, uns Bescheid zu tun? Es kommt von Herzen und soll viel Glück bringen.‹
›Ich danke den Herren!‹ sagte Kunigunde und hob den Pokal mit anmutigem Gruße.
In diesem Augenblick war es mir, als ob ich Gerwig sähe, wie er am Eingange der Zeltgasse stand und herschaute; aber ehe ich ihm winken konnte, war er hinter einer Bude verschwunden.
›Seht die Pfalzgräfin!‹ ließ sich' eine Stimme hinter uns hören. Eine Gesellschaft von Bürgersleuten drängte sich vorbei. Andere blieben stehen, und es bildete sich allmählich ein Kreis um uns.
Kunigunde schaute spöttisch nach der Sprecherin. Dann nippte sie von dem Wein und reichte den Becher ihrem Bräutigam.
Valentin tat einen herzhaften Schluck und setzte den Pokal auf den Tisch nieder. Das freundliche Erlebnis hatte jede Spur von Besorgnis aus seinem Antlitz verscheucht.
›Wir danken den Herren‹, sagte er, ›und wir wünschen einem jeden viel Fortun in der Welt und deutsches Glück in der Liebe!‹
›Wir danken euch!‹ riefen die Studenten zurück.
›Ihr habt eine schöne Klinge‹, sagte Valentin zu dem Sprecher. ›Erlaubt, daß ich sie beschaue. Ich bin Schwertfeger und habe Freude an solchen Dingen.‹
›Wir wollen gehen!‹ drängte ich, aber die beiden waren ganz im Augenblick verloren.
Während Valentin die Waffe betrachtete, sagte Kunigunde:
›Ist einer von den Herren aus Schlesierland?‹
›Ich!‹ rief einer, und ein feiner Geselle stand auf. ›Martin Opitz heiße ich und bin aus Bunzlau in Schlesien.‹
›Dann werden wir bald Landsleute sein‹, sagte Kunigunde und streckte dem Studenten ihre Hand hin, die dieser ehrerbietig ergriff. ›Wir ziehen nächster Zeit nach Rosenberg in Schlesien.‹
›Dort sind wackere Bürger‹, sagte der Student. ›Schlesien heißt euch willkommen. Führet mich einmal mein Weg nach Rosenberg, so kehre ich bei euch ein. Dann wollen wir miteinander fröhlich sein und uns erzählen vom Wolfsbrunnen und vom Neckar und von dieser wunderschönen Stun...‹
›Weg mit der Hand!‹ schrie in diesem Augenblick Valentin. Er hatte sich umgedreht und schaute mit entsetzten Augen dem Büttel ins Angesicht. Der hob die hinuntergeschleuderte Hand empor wie ein Raubtier seine Tatze und legte sie schwer auf Valentins Schulter. Der stand zitternd und mit gesenktem Haupt.
Und der Büttel sagte langsam und feierlich, wie wenn es ein Gesangbuchvers wäre:
›Im Namen meines gnädigen Kurfürsten ergreife ich Euch als Wildfang und begehre meinen Fahegulden.‹
Er zog die Hand von der Schulter und streckte sie hin, seine Gebühr zu empfangen.
›Büttel‹, rief ich, ›das ist ein grausamer Irrtum. Valentin Herbert ist ein Mainzer Bürgerkind, so ehrlich wie Ihr und ich.‹
›Er soll die Hand aufheben, wenn er ehrlich ist!‹ erwiderte der Büttel. Aller Augen wandten sich auf Valentin. Der bewegte die Hand, aber sie fiel ihm schlaff herab, und der Kopf sank ihm auf die Brust.
Der Büttel aber zog eine Schrift aus seinem Rock und entfaltete sie.
›Hier steht es‹, sagte er behäbig. ›Unser Ausfauth zu Mainz hat sein Sigill darunter gesetzt. Valentin Herberts Vater ist auf dem Henkerskarren gesessen und sollte mit dem Rad gerichtet werden. Aber Valentin Herberts Mutter, damals noch Jungfrau, hat ihn vom Karren losgeschnitten und zum Gatten begehrt. Nach deutschem Recht und Brauch ist Valentin Herbert unehrlich, und nach König Wenzels Verwilligung ist er mit all dem Seinen auf Kind und Kindeskind dem Pfalzgrafen bei Rhein leibeigen.‹
Der Büttel faltete die Schrift zusammen und steckte sie umständlich in den Rock. Valentin stand da wie ein gebrochener Mann. Kunigundens Angesicht war erstarrt. Sie schaute verständnislos bald den einen, bald den anderen an, wie wenn das alles in fremder Sprache geredet wäre.
Valentin hob langsam den Kopf und sagte leise: ›Ihr habt recht, Büttel. Und doch hat Eure Hand verdient, abgehauen zu werden, weil sie sich an einem freien Manne vergriffen hat. Erst heute über vierzehn Tage habt Ihr das Recht, mich zu fassen. Bis dahin habe ich mit dem Kurfürsten nichts zu schaffen.‹
›Da irrt Ihr Euch!‹ sagte der Büttel behaglich. ›Die Sonne ist untergegangen. Jahr und Tag ist vorbei. Als Ihr vorhin an mir vorüberginget, stand die Sonne noch am Himmel, da waret Ihr noch frei. Aber jetzt seid Ihr dem Kurfürsten eigen.‹
›Heute über vierzehn Tagen!‹ stammelte Valentin.
›Heute, heute!‹ sagte der Büttel, ›heute mit Sonnenuntergang sind zwölf Monate, sechs Wochen, drei Tage vorbei, seit Ihr in Heidelberg eingezogen seid. Glaubt Ihr mir's nicht, so schaut selber nach.‹
Er griff wieder in die Tasche, und nachdem er eine Weile darinnen herumgekramt hatte, zog er ein ander Papier heraus, den von der kurfürstlichen Kanzlei ausgestellten Befehl. Er entfaltete ihn und hielt ihn Valentin unter die Augen.
Der warf einen Blick hinein. Seine Augen wurden größer und größer. Er streckte die Arme vom Leib und ballte die Fäuste. Dann lösten sich die Finger langsam, und die Hände schlugen an den Leib. Er wandte den Kopf seiner Braut zu, sah sie traurig an und sagte: ›Kunigunde, es ist so.‹
Da kam Leben in ihr starres Gesicht. Ihre Augen sprühten Feuer. Sie richtete sich hoch auf und zischte: ›Pfui über deine Mutter! Pfui über dich!‹
Sie wandte sich um und ging hocherhobenen Hauptes aus dem Kreise. Die Umstehenden wichen rechts und links auf die Seite, so daß sie wie durch eine Gasse schritt.
Margarete ging schluchzend hinter ihr her. Aber nach einigen Schritten wandte sie sich um und kehrte zu uns zurück. Sie stellte sich still weinend neben mich und schaute mich an mit treuen Augen, wie wenn sie sagen wollte: ›Ich bleibe bei dir in dieser schweren Stunde.‹
Valentin schaute Kunigunden traurig nach. Dann wandte er sich zu mir und sagte: ›Johannes, das ist vorbei. Wir wollen heim. Aber vorher ist noch eins zu besorgen.‹
Er legte die Waffe, die er noch immer in der Hand gehalten hatte, auf den Tisch, griff in seinen Sack und holte zwei Gulden heraus. Die gab er dem Büttel.
›Da habt' Ihr Eure Fanggebühr und ein Trinkgeld.‹
Dann griff er in die Tasche und holte einen weiteren Gulden heraus. Er warf ihn seinem Landsmann, der vorn unter der gaffenden Menge stand, vor die Füße.
›Da, Markus, hast du etwas für deine Mühe! Du bist immer ein schmutziger Halunke gewesen.‹
›Aber nun suche ich noch einen. Johannes, wo ist er?‹
›Er ist nicht da‹, sagte ich und legte den Arm um seine Schulter. ›Komm, wir gehen heim!‹
Aber Valentin machte sich los und spähte im Kreis umher.
›Ist er ein Schelm, so ist er auch da; das ist Schelmenrecht. Verbirg dich nicht, Gerwig! Komm vor! Ich habe dich gesehen! Wenn noch ein Tropfen Mannesblut in dir ist, dann komm her!‹
Die Menge wich auseinander, und bleich, wie einer, der zum Hochgericht steigt, trat Gerwig heran.
Valentin streifte den linken Ärmel zurück.
›Sieh, Gerwig‹, sagte er, ›da ist dein Zeichen. Trägst du das meine auch noch? Oder hast du auch ein falsches Fell? Wenn mich ein Engel gewarnt hätte: Nimm dich vor dem Gerwig in acht, so hätte ich ihm gesagt: Du bist ein Teufel. Sag mir, Gerwig, hat dir der Baum gelogen, oder bist du zum Schelmen an mir geworden?‹
Gerwig hob das Haupt und warf dem Fragenden einen langen Blick zu; dann ließ er den Kopf wieder sinken.
Valentin maß ihn langsam mit den Augen und sagte: ›Also ja! Mein Herzbruder ist ein Schelm. Und hast du mich gar verraten? Habe ich meinem Landsmann unrecht getan? Sieh, Gerwig, dort liegt noch der Gulden, Marx hat ihn nicht angerührt. Geh hin und heb ihn auf!‹
Gerwig schüttelte den Kopf und schaute Valentin traurig an. Dann sagte er leise:
›Valentin, ich habe meinen Eid nicht gebrochen. Aber belogen habe ich dich, das ist wahr. Die ganze Nacht lang habe ich mit dem Teufel gerungen und hatte ihm obgelegen. Ehrlichen Herzens sprang ich herunter durch den Wald, dich zu retten. Aber warum habt ihr in eurer Tollheit vergessen, daß andere Leute auch ein Herz im Leibe haben? Warum habt ihr uns mit eurer Liebe gehöhnt? Wärst du herauf zu mir gekommen, als ich dich rief, so hätte ich den Teufel noch einmal gezwungen. Aber als ihr nicht voneinander kamet, und ich deinen Arm zittern sah von ihrem kleinen Finger her, und denken mußte, wie du zittern würdest, wenn sie dich ganz umschlinge, da wünschte ich, der Büttel stünde hinter dir und risse dich von ihr hinweg. So habe ich dir gelogen, Valentin.‹
Valentin sah ihn mit durchbohrenden Blicken an. Seine Brust atmete schwer, und in sein bleiches Gesicht schlug eine Blutwelle um die andere.
›Du hast mir nicht alles gesagt, Gerwig!‹
›Doch, bei Gott, ich habe dir alles gesagt.‹
›Du hast mir nicht alles gesagt‹, wiederholte er, und seine Stimme bebte.
›Was soll ich dir noch sagen?‹
›Du hast mich von Kunigunde weggeteufelt, damit du selbst in ihren Armen lägest. Das sollst du nicht! Das sollst du nicht!‹
Seine Stimme erstickte vor Wut. Einen Augenblick stand er regungslos, dann hielt er das Schwert, das noch auf dem Tisch gelegen hatte, in der Hand. Ich sah etwas durch die Luft blitzen, und wie vom Wetter gefällt brach Gerwig zusammen.
Während die Männer den Mörder überwältigten, sank ich an dem Sterbenden nieder. Margarete hob ihm sanft das Haupt und bettete es in ihren Schoß. Das Schwert stak ihm in der Brust. Langsam sickerte das Blut neben dem Eisen heraus aus den vollgesogenen Kleidern.
In diesem Augenblick rief es: ›Feuer! – Feurio!‹ – ›Es brennt!‹ – ›Wo?‹ – ›Hinter den Lebzeltern!‹ – Ich schaute nach der Seite, wohin das Gerenne lief; aus einer dicken, gelben Rauchwolke schlug die Flamme. Es war nahe bei der Stelle, wo ich vorhin Gerwig bemerkt hatte! Auch die Umstehenden liefen alle dorthin. Mir war es recht so.
Bis der Wundarzt kam, waren Margarete und ich bei dem Sterbenden allein.
Gerwig hatte die Augen geschlossen und lag wie tot. Auf einmal schlug er langsam die Lider auf. Er erkannte mich und flüsterte: ›Herzbruder, ich habe ihm ein Pferd verschafft. Es steht zu Handschuhsheim im Ochsen. Sein Geld ist in den Mantelsack gepackt und meines dazu ... Das Feuer ... ich ...‹ Die Augen wurden irre. ›Schnell!‹ stammelte er. ›Nimm sie vor dich aufs Roß! In Worms ist kein Ausvogt. Schnell! Immer geradeaus! Um die Dörfer herum! Bis Heppenheim ... Dann links! Glück zu! Glück zu!‹
Er seufzte tief auf und röchelte noch eine Weile. Langsam wurde es leiser und stiller in seiner Brust, und als endlich der Wundarzt herbeikam, hatte er ausgeatmet.
Der Wundarzt zog das Schwert aus der Brust. Dickes schwarzes Blut troff daran nieder. Dann legten wir den Toten auf einen Tisch. Ein paar Kameraden, die von dem rasch gelöschten Feuer zurückkehrten, boten ihre Hilfe. Margarete bedeckte die Leiche mit grünen Zweigen, und so trugen wir ihn in die dämmerige Stadt.
Viele Leute begegneten uns, die hinauseilten, die Brandstätte zu sehen. Sie blieben stehen, wenn wir den Toten vorübertrugen, und die Männer entblößten ihr Haupt. Eine Schar schweigender Kinder schritt neben und hinter uns her, und die Frauen, die beieinander unter den Haustüren standen, schauten uns entgegen und flüsterten uns nach.
Margarete ging neben der Bahre und verscheuchte mit einem Kastanienzweig die Fliegen, die der Blutdunst herbeizog. An der Heiliggeistkirche legte sie den Zweig auf des Toten Brust, deutete nach dem Turm und sagte: ›Behüt dich Gott, Johannes, ich muß jetzt da hinauf.‹
Als wir auf dem Marktplatze anlangten, wurde Valentin vom Rathause her, wo er verhört worden war, zwischen zwei Stadtknechten durch die murmelnde Menge geführt. Am Eingang zum Burgweg trafen wir zusammen.
Wir Träger setzten die Bahre nieder, und lautlos sah die Menge zu, wie der Mörder an dem Ermordeten vorüberging. Er war barhäuptig. Die Arme waren auf dem Rücken zusammengeschnürt. Vor dem Toten blieb er stehen. Er sah ihn an. Dann trat er herzu, beugte sich nieder und sah ihm ins Gesicht. Langsam richtete er sich wieder auf und schüttelte den Kopf. Da sah er mich. Schwere Tränen tropften ihm aus den Augen. Er rüttelte sich, wie wenn er mir die Hand hätte reichen wollen.
›Herzbruder!‹ rief er.
›Herzbruder!‹ erwiderte ich.
Dann ging er weiter, den Burgweg hinauf, an der Schmiede vorbei. Sie führten ihn aufs Schloß in den Gefängnisturm.
Wir aber trugen den Toten hinter dem Totschläger her die Gasse hinauf und in die Schmiede hinein. Als wir den Tisch in der Werkstatt auf den Boden setzten, klirrte das Eisen an den Wänden. Wir ließen den Tisch unten stehen und trugen die Leiche die Stiege hinauf an dem Meister vorbei, der zitternd und bebend in seiner Stubentür stand, nach unserer Kammer. Dort betteten wir den stillen Schläfer auf dasselbe Lager, worinnen er die letzte Nacht schlaflos zugebracht hatte. Dann gingen die Gesellen leise hinaus, und ich war mit meinem Herzbruder allein.
Ich zündete die Ampel an und stellte sie auf den Simsen. Dann setzte ich mich neben das Bett auf den Stuhl und sah auf den Toten, Stunde um Stunde.
Etwa um Mitternacht klopfte es leise an die Tür. Ich öffnete. Margarete trat herein. Sie schloß die Tür sorgfältig hinter sich. Dann führte ich sie vor das stille Lager des Toten. Ich deckte das Tuch von seinem Gesicht, nahm die Ampel vom Sims und hielt sie hoch. So standen wir eine Weile Hand in Hand. Margarete weinte zuerst still vor sich hin. Als ich aber hörte, wie sie heftiger atmete und wie ihre Brust wogte, stellte ich die Ampel auf den Simsen und deckte den Toten wieder zu.
Sie faßte sich aufs tapferste, und als sie wieder sprechen konnte, sagte sie: ›Ich komme von Kunigunde.‹
›Was ist mit ihr?‹ fragte ich.
Margarete schaute nach der Tür und flüsterte:
›Wie ich ihr von dem Mord erzählte, saß sie hoch aufgerichtet, und ohne den Kopf zu regen, hat sie nur zugehört. Ihre Augen haben zuerst geleuchtet, aber mit einem Male war ihr unheimliches Licht ausgelöscht, und Kunigunde hat geweint und geweint, wie ich noch keinen Menschen habe weinen sehen, stundenlang, in einem fort. Ich habe mir nimmer zu helfen gewußt.‹
›Und jetzt?‹ fragte ich.
›Ebenso plötzlich, wie sie zu weinen angefangen hatte, ist sie still geworden, von innen heraus, aus dem Herzen, wie eine, die weiß, was sie will.‹
›Was hat sie über Valentin gesagt?‹
›Wie sie stille geworden war, saß sie mit gefalteten Händen auf ihrem Bänklein auf dem Altan, hat nach dem Schloß hinübergeschaut und hat ein Mal über das andere den Kopf geschüttelt. Mir ist es ganz unheimlich geworden. ›Was hast du? So rede doch!‹ habe ich zu ihr gesagt. Sie gab mir keine Antwort, aber zu sich selber sagte sie: ›Für uns gibt's keinen Anfang mehr, nur noch ein Ende‹; und sie saß eine gute Weile regungslos da. Mit einem Male hat sie den Kopf aufgerichtet, wie sie tut, wenn sie die Stolze ist, und hat vor sich hingeflüstert: ›Danken wird er mir's nicht, aber gleichviel!‹ Dann stand sie auf und sagte: ›Ich will Gerwig sehen, und ... und Johannes‹; sie steht draußen vor der Tür.‹
›Sie soll nicht herein‹, rief ich, und der bittere Grimm stieg in mir auf. ›Sie soll nicht seinen Frieden stören. Seine Wunde fängt wieder an zu bluten, wenn sie hereinkommt.‹
Aber schon hatte Margarete die Tür geöffnet, und Kunigunde war eingetreten. Sie schaute sich im Gemach um, ging an mir vorüber auf Gerwigs Bett zu und kniete vor der Leiche nieder.
Hätte sie geweint oder geschluchzt, so wäre ich weich geworden. Aber ihrer Stummheit gegenüber fühlte sich mein Grimm im Recht.
›Du bist schuld an beider Blut‹, sagte ich. ›Wärst du bei ihm geblieben in seiner höchsten Not, so wäre solches nicht geschehen. Aber du weißt nicht, was Treue heißt.‹
Da fühlte ich eine Hand auf meinen Lippen. Margarete verschloß mir den Mund, und als ich sie anschaute, sah ich in große vorwurfsvolle Augen.
Kunigunde aber, die regungslos vor dem Lager gekniet hatte, die Hände vor dem Gesicht, stand auf und sagte: ›Ich will die Wunde sehen.‹
Margarete ergriff zögernd die Ampel und bat mich, das Tuch vom Gesicht zu ziehen. Kunigunde aber wehrte heftig ab und sagte: ›Nicht das Gesicht, die Wunde will ich sehen.‹
›Tu's!‹ sagte Margarete zu mir. Sie hielt die Ampel hoch und wandte ihr Antlitz zur Seite. Ich hob das Tuch und zog das Hemd auseinander. Kunigunde beugte sich über das Lager und schaute auf die blutige Brust und den schwarzen Riß auf der Seite. Ihr Körper fing an zu zittern, zuerst leise, dann heftig. Aber es war, wie wenn sie sich von diesem Anblick nicht losreißen könnte. Ein leises Stöhnen erstarb zwischen ihren knirschenden Zähnen. Margarete umfaßte ihren Leib mit dem linken Arm, da wurde sie ruhig. Und nun fielen schwere Tropfen zuerst einzeln, dann häufig auf die Wunde. Margarete gab mir die Lampe und umfaßte die Wankende mit beiden Armen. Ich stellte das Licht an seinen Platz und deckte die Leiche zu. Kunigunde kniete nochmals nieder und legte die gefalteten Hände auf das Tuch über die Wunde, dann stand sie auf, still und gefaßt. Sie drückte mir die Hand und sah mich durch Tränen an. In ihrem Gesicht lag friedevolle Ruhe. Dann verließ sie, von Margarete begleitet, das Zimmer.
Nach einer Weile kam Margarete wieder zur Tür herein.
›Sie ist gegangen wie eine, die getröstet ist‹, sagte sie; dann nickte sie dem Toten zu, reichte mir die Hand und sagte: ›Gute Nacht, ihr lieben zwei, ich will mich jetzt schlafen legen.‹ Da zog ich die Gute, Treue an mich. Sie legte ihr Köpfchen an meine Brust. So gingen wir bis zur Tür. Dann drückten wir uns die Hände und schauten einander tief in die Augen. Sie verstand mich, und ich verstand sie. Noch einen Händedruck, und sie schlüpfte aus dem Gemach.
So haben wir uns ohne ein Wort und ohne Kuß miteinander versprochen.
Ich hielt meinem Gesellen die Totenwacht.
Am anderen Morgen legten wir ihn in den Sarg. ›Siehst du nicht, er lächelt im Schlaf‹, sagte ich zu Margarete. ›So war er gestern nicht.‹
›Das haben Kunigundens Tränen gemacht‹, erwiderte sie.
Das Begräbnis wurde aufs stattlichste ausgerichtet. Hinter dem Sarge ging ich, denn er hatte keinen Blutsfreund. Dann kamen alle Zünfte. Auf dem Barfüßerkirchhof gleich rechts neben dem Tor unter dem breiten Rosmarinbaum liegt mein lieber Geselle begraben.
Als das Grab zugeschüttet war und sich die Leute verlaufen hatten, ging ich den Schloßberg hinauf. Ein Schwestersohn von mir diente unter den kurfürstlichen Küchenjungen. Ich fand ihn im Schloßhof am Brunnen, wo er Krebse wusch, und bat ihn, mir Einlaß in den neuen Garten der Frau Kurfürstin zu verschaffen; der war da vorn, wo jetzt die Stücke stehen. Mein Neffe trug das Gericht in die Küche und kam bald mit einem anderen Jungen zurück, der das Getier im Vogelhaus der Frau Kurfürstin zu warten hatte. Der schloß mir das Pförtlein im Elisabethentor auf, zeigte mir, wo ich den Schlüssel hinlegen sollte, und ließ mich in den Garten.
Ich trat an den Burggraben und schaute hinüber. Da stand der Turm vor mir, in dessen Tiefen mein lieber Geselle lag. Des Turmes Zinne ragte noch in das Abendlicht, und dort oben leuchteten die roten Steine; aber dann stieg das Gemäuer dunkel und schwarz in die Tiefe hinab. Und dort unten, wo nichts mehr zu erkennen war in der Finsternis, lag mein Herzbruder.
›Valentin!‹ rief ich hinunter, zuerst leise, dann lauter. ›Valentin! Deine zwei Herzbrüder grüßen dich!‹
Ich lauschte. Das Wasser murmelte in der schwarzen Tiefe, sonst war alles still.
Da fing die Abendglocke auf der Heiliggeistkirche zu läuten an. So voller Jammer und voll inbrünstigen Flehens hat noch nie eine Glocke geklungen. Ich fiel nieder auf die Knie und blieb so liegen, bis der Klang verhallt war. Dann ging ich am Vogelhause vorbei an die Rampe, über die man hinunterschaut auf den Schloßberg und in die Stadt und hinaus in die Welt.
Gerade vor mir stieg die Heiliggeistkirche empor. Der Turm glühte vom Widerschein des Abendrots, und während über den Häusern der Nebel dampfte, war oben in der Höhe die Luft so klar, daß ich jeden Schieferstein zählen konnte. Da sah ich, wie sich die Türe zum Altan auftat und Kunigunde heraustrat. Hier, wo wir jetzt sitzen, ist sie gestanden. Sie schaute herüber nach dem Schloß. Ihre Haare waren aufgelöst und wehten im Winde. Da der Wind von der Michelskirche herüberkam, flogen die Haare dem Schlosse zu; das sah aus wie ein Grüßen.
Ich trat auf die Seite, denn der Gruß galt ja nicht mir, und ich wollte dem Blicke nicht im Wege sein; und doch konnte der Blick den ›Seltenleer‹ nicht treffen, denn der Turm liegt viel zu tief im Graben drinnen.
Ein Nachtfalter surrte an mir vorbei dem Schloßgraben zu. Ich sah ihm nach und dachte: Du findest vielleicht den Schlitz in der Mauer, der zu ihm führt. Bring du ihm ihren Gruß hinunter.
Da drängte es mich mit innerlicher Gewalt zu Kunigunde hin. Kein Mensch ist ihm so nahe gewesen als ich, dachte ich. Kann ich ihr keinen Gruß von ihm bringen, so bringe ich ihr doch einen Hauch aus seiner Nacht.
Ich schlüpfte durch das Pförtlein, schloß es zu, legte den Schlüssel in das bezeichnete Mauerloch und eilte den kurzen Buckel hinab, an der Schmiede vorbei, zur Heiliggeistkirche. Die Tür zum Turme war verschlossen. Ich zog an der Glocke, und bald öffnete sich die Falle. Ich stieg rasch die Treppe hinauf; es war zwar stichdunkel, aber ich kannte den Weg. Kunigunde stand auf dem Vorplatz vor ihrer Wohnung. Aus einer halbgeöffneten Tür kam ein schwacher Lichtschein und zeigte die Umrisse ihrer Gestalt. Der schwarze Schatten, der an ihrem Haupte niederflutete, mußte ihr Haar sein.
Sie hatte mich am Tritt erkannt, denn sie sagte freundlich: ›Ich wußte, daß Ihr kommen würdet. Wartet hier eine Weile. Der Vater liegt schon zu Bett; er weiß noch nichts.‹
Nach einigen Augenblicken kam sie aus dem Zimmer zurück. Sie hatte ihr Haar hinaufgenommen und mit einem Tuche zusammengebunden.
›Wir wollen auf den Altan‹, sagte sie, ›es spricht sich dort leichter.‹
Wir gingen hinaus. Die Dämmerung hob uns hoch über die Stadt und schob den Schloßberg in die Ferne, dagegen war die schwarze Finsternis des Klingenteichs zum Greifen nahe.
Kunigunde stemmte die Arme auf die Brüstung und schaute nach dem Schlosse hinüber.
›Wie geht es der armen Margarete?‹ fragte sie, ohne sich zu rühren.
›Ihre Augen trocknen nicht‹, antwortete ich.
›Ihr müßt sie trösten‹, sagte sie in derselben Haltung. ›Wißt Ihr, wie man dies macht? Wenn alles vorüber ist, dann nehmt sie auf den Schoß und küßt ihr die garstigen Tränen weg.‹
Wir schwiegen beide. Es wurde dunkel. Ein Nachtvogel huschte an uns vorbei. So standen wir lange und schauten hinaus in die wachsende Finsternis.
Endlich sagte ich:
›Ich bin droben gewesen und habe über den Graben geschaut.‹
Sie nickte stumm.
Dann wandte sie sich plötzlich um und schaute mich an.
›Wie dick sind die Mauern?‹
Ich breitete meine Arme aus und sagte: ›So dick.‹
›Aber die Glocke hört man doch?‹
›Gewiß. Er hat die Glocke gehört.‹
Sie nickte still. Nach einer Weile sagte sie: ›Ich habe ihm alles gesagt.‹
›Was habt Ihr ihm gesagt?‹ fragte ich.
Da drehte sie sich scharf nach mir um und schaute mich an mit ihrem alten stolzen Blick.
›Gott und die Glocke wissen's‹, sagte sie.
In diesem Augenblick läutete es von der Pforte her.
Sie ging an den Aufzug. Aber ehe sie den Handgriff umfaßte, wandte sie sich zu mir und flüsterte hastig und angstvoll:
›Ich weiß, wer kommt ... Morgen wird er gerichtet.‹
›So schnell? Das ist nicht möglich!‹ sagte ich, um sie zu beruhigen, aber das Herz klopfte mir.
Es läutete zum zweitenmal, heftig, ungeduldig. Ich griff an ihrer Hand vorbei und zog auf. Man hörte, wie unten die Tür zugeschlagen wurde. ›Ich gehe hinunter‹, sagte ich. ›Wartet hier! Setzt Euch! Aber wo finde ich ein Licht?‹
Sie hatte sich wie unwillkürlich auf das Kästchen neben der Tür niedergelassen. Aber als ich an ihr vorüber wollte, sprang sie auf. Da sah ich sie schwanken und hielt sie fest. Aber nur einen Augenblick dauerte ihre Schwäche. Sie raffte sich auf und eilte voraus auf den Vorplatz, holte Licht aus der Kammer und entzündete die kleine Laterne, die neben der Tür hing. Von unten klang ein unverständliches Rufen.
Ich eilte vorsichtig die Treppe hinunter und verstand nun, daß der Mensch da unten nach Licht brüllte. Als das Geräusch meiner Tritte und der Schein meiner Laterne hinunterdrang, wurde es unten still.
Ich war schon zur Hälfte die Holzstiege hinab, da rief es ängstlich herauf:
›Wer kommt denn da? Das ist kein Frauentritt!‹
›Wer seid denn Ihr?‹ gab ich zurück.
›Ein Bote vom Gericht‹, rief es. ›Wo ist Jungfer Kunigunde? Warum kommt sie nicht? Sie soll kommen.‹
Ich gab keine Antwort und eilte durch den Läuteraum der steinernen Wendeltreppe zu.
›Seid Ihr vom Rat mit dem Läuten betraut?‹ rief es herauf.
›Nein!‹
›So soll Jungfer Kunigunde kommen!‹ schrie es zornig. ›Wer seid denn Ihr?‹
Da stellte ich die Laterne auf den Boden und rief:
›So kommt herauf und bestellt Eure Botschaft selber.‹
Fluchend und schimpfend begann der Mensch die Treppe heraufzutappen. Ich eilte voraus, Kunigunde die Nachricht zu bringen. Sie stand hochaufgerichtet auf dem Vorplatz. ›Geht auf den Altan und wartet meiner!‹ sagte sie. Ich ließ das Pförtlein hinter mir offenstehen.
Der Büttel kam polternd die Stiege herauf, und als er oben war, dauerte es eine Weile, bis er zu reden anfing.
›Wer ist mir denn halbwegs entgegengekommen?‹ fragte er grimmig.
›Meldet Eure Botschaft!‹ erwiderte Kunigunde.
›Das herrschaftliche Gericht bestellt auf morgen früh das Armesündergeläut. Valentin Herbert wird um zehn Uhr auf dem Galgenbühl gerichtet.‹
Kunigunde mußte etwas gesagt haben, denn nach einer Pause fuhr der Büttel fort: ›Was seine Strafe ist? Sein Recht wäre das Schwert. Aber da er die löbliche Absicht des Rates, das Volk in diesen betrübten Zeitläuften zu vermuntern, freventlicherweise vereitelt hat, haben die Herren die Strafe geschärft: er soll mit dem Rad vom Leben zum Tod gebracht werden. Von neun bis zehn Uhr ist zu läuten, mit den drei Pausen, nach Vorschrift. – Wer war denn der Mann, der mir entgegengekommen ist?‹
›Geht Eures Weges!‹ sagte Kunigunde tonlos.
Fluchend kehrte der Büttel um und tappte an mir vorbei die Treppe hinunter. Mit großem Gekrach wurde nach einer Weile unten die Tür zugeworfen.
Kunigunde kam hinter ihm her zu mir auf den Altan und fragte mich: ›Habt Ihr's gehört?‹
Ich nickte mit dem Kopfe und sank, von Jammer überwältigt, vor der Brüstung nieder. Kunigunde stand neben mir und schaute nach dem Schlosse hinüber. Es war völlig Nacht geworden.
Endlich faßte ich mich; ich dachte an ihren Jammer. Ich stand auf und sagte: ›Ich will morgen für Euch läuten.‹
Sie schüttelte den Kopf: ›Niemand läutet ihm als ich allein. Aber eine andere Bitte habe ich an Euch, Johannes. Ich möchte ihn noch einmal sehen. Wenn der Zug an der Heiliggeistkirche angelangt ist, fängt die erste Pause an, und sie dauert, bis der Henker ans innere Tor gelangt. Bis ich hierherauf geeilt bin, ist der Wagen schon in der Hauptstraße, wo ich ihn nicht mehr sehen kann. Drum will ich hinaus auf die Straße. Stellt Euch in die Nähe vom Turm und erwartet mich und schafft mir Raum, daß ich ihn sehen kann, wenn er vorüberfährt.‹
Ich versprach ihr, was sie begehrte, und drückte ihr zum Abschied die Hand. Ich wollte ihr ein tröstlich Wort sagen, aber ich vermochte es nicht, und als ich ihr ins Gesicht schaute, da sah sie mich so ruhig und groß an, daß ich es nicht gewagt hätte, sie zu trösten, auch wenn ich die besten Worte gewußt hätte.
Der folgende Tag war trüb und windig. Vom frühen Morgen an war es in der Stadt lebendig, und als es neun Uhr schlug, waren die Gassen und Straßen, durch die Valentin geführt werden sollte, auf beiden Seiten an den Häusern hin durch dicke Streifen harrender Menschen eingefaßt. Die Leute warteten still, ohne zu sprechen, wie man in der Kirche wartet. Wenn zwei zusammen redeten, dann taten sie's flüsternd; von den schlimmen Zeiten erzählten sie sich, daß das Wasser im Schloßgraben am Geburtstag der Kurfürstin blutrot ausgesehen habe, und daß der schauerliche Ausgang der Lustbarkeit in Mord und Brand nichts Gutes bedeute für die Pfalz und für Heidelberg. Die Gemüter waren gedrückt und die Angesichter voll Traurigkeit, und wenn zwei miteinander von Valentin und Gerwig redeten, traten ihnen Tränen in die Augen.
Ich hatte meinen Platz da, wo die Haspelgasse in die Hauptstraße mündet, und konnte von meinem Standort sowohl die Straße gegen das Rathaus zu als auch das Turmpförtlein im Auge behalten.
Am neun Uhr fing die Armesünderglocke zu läuten an. Die zusammen geredet hatten, brachen das Gespräch ab. Die Glocke klang fest und sicher wie sonst. Aller Augen waren nach der Richtung gewandt, von wo der Zug erwartet wurde.
Etwa eine Viertelstunde mochte es geläutet haben. Da hörte man ein Geflüster Heranrauschen: ›Er kommt!‹ Ich beugte mich vor und sah den Meister Hans, der langsam dem Zuge voranschritt. Er war im scharlachroten Wams und hatte das Rad, mit dem meinem armen Gesellen die Glieder gebrochen werden sollten, über die Schulter gelegt. Hinter ihm fuhr der Karren, von zwei schwarzen Rossen gezogen. Zwei Knechte, von denen einer das Gespann lenkte, saßen nach vorn. Sonst konnte ich nichts sehen. Langsam kam der Zug näher. Der Henker hatte die Kirche erreicht. Jetzt hörte es zu läuten auf. Gleich darauf faßte jemand von hinten meine Hand. Es war Kunigunde. Sie hatte ein Tuch um den Kopf geworfen, so daß ihr Gesicht fast verhüllt war, und ihre Hände waren im Kleid verborgen.
›Weiter vor!‹ flüsterte sie.
Wir drängten uns leise durch. Niemand wehrte uns. Wir standen in der vordersten Reihe.
Und jetzt fuhr der Karren langsam heran und an uns vorbei. Valentin saß auf dem zweiten Brett, nach hinten gewandt. Der Oberkörper war nackt, die Augen waren verbunden, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Arme und Beine mit Seilen an den Karren geschnürt.
Es wurde mir schwarz vor den Augen.
Da spürte ich einen Stoß. Kunigunde war hinausgesprungen auf die Straße. Sie stand hinter dem Karren, sie schlang die Arme um Valentin, sie schrie mit überschwenglicher Stimme: ›Ich begehre dich zum Ehegemahl!‹ Ich sah etwas in ihrer Hand blitzen. Sie hatte die Seile durchschnitten an Füßen und Armen, auf der rechten, auf der linken Seite, und jetzt zwischen den Händen, sie riß die Binde von seinen Augen ... Valentin fiel vom Karren, sie fing ihn in ihrem Schoße auf, sie half ihm in die Höhe, sie hob ihr Tuch, das von ihrer Schulter auf den Boden gefallen war, und hüllte es um seine Blöße; dann schlang sie wiederum die Arme um ihn und rief schluchzend: ›Vergib mir!‹
Ihre Haare hatten sich aufgerollt und wogten wie ein Schleier um sie und ihren Liebsten hinab. Die Pferde waren scheu geworden und bäumten sich in den Zügeln; der Henker hatte sein Rad hingeworfen und suchte mit den abgesprungenen Knechten die Rosse zu bändigen. Die Volksmenge aber, die in atemloser Spannung dem Vorgang zugeschaut hatte, erhob ein Toben und Jauchzen, ein Freudengeschrei sondergleichen.
›In die Kirche! In die Kirche! Dort steht ja der Pfarrer; der soll sie trauen!‹ So riefen zwei, ein Dutzend, fünfzig Stimmen. Das Volk drängte auf die Kirchtüren zu. Ich weiß nicht, wer sie öffnete: sie stunden auf, und die Menge flutete hinein.
Margarete hatte sich durch den Strom gedrängt, sie war vor ihrer Gespielin zu Boden gesunken und küßte ihr ohne Aufhören die Hände. Einer aus der Menge hatte sein Wams ausgezogen, und sechs, acht Hände wetteiferten, es dem Befreiten anzuziehen. Valentin selbst stand und schaute um sich, wie wenn er von all dem nichts verstünde. Er ließ sich hierhin, dorthin ziehen, sich die Hände schütteln und schaute mit großen Augen, ohne ein Wort zu sagen, einen jeden an, der mit ihm redete. Aber als der Henkerkarren an ihm vorbeigeführt wurde unter den Hohnrufen und Spottreden des Volkes, da atmete er tief auf und wandte sich zu Kunigunde, faßte sie bei der Hand und sagte: ›Nun weiß ich, daß alles Wahrheit ist!‹
Unterdessen waren viele von den Zuschauern in die Kirche geströmt, wo sie ungeduldig das Paar erwarteten. Andere waren außen geblieben und bildeten einen Kreis um uns. Auch die Studenten, denen Kunigunde und Valentin auf dem Anger Bescheid getan hatten, standen in der Nähe und schauten mit Teilnahme auf das Paar.
Aller Augen wandten sich jetzt gegen den Marktplatz hin. ›Macht Platz!‹ mahnten sich die Leute und traten auseinander, um dem kurfürstlichen Amtmann, seinen Schöffen und dem Geistlichen, der Valentin hatte zum Tod geleiten sollen, Raum zu schaffen. Diese waren durch den Tumult und das Gedränge der von allen Seiten herzueilenden freudebewegten Menschen auf die Seite geschoben worden und konnten jetzt erst herzutreten, nachdem der größere Teil der Leute, um von dem bevorstehenden rührenden Schauspiel nichts zu versäumen, voraus in die Kirche geströmt war.
Der Amtmann schaute die Jungfrau von Kopf zu Füßen an und fragte:
›Ist es Euer fester Wille, daß Ihr den Valentin Herbert, der dem Nachrichter übergeben war, zu Euerm Ehegemahl begehrt?‹
Kunigunde hatte Valentins Hand ergriffen. Sie schaute den Amtmann mit vollem Blick an und sagte: ›Ja.‹
›Die Hand des Henkers hat auf ihm geruht; wißt Ihr, daß sein Weib und seine Nachkommen auf Kind und Kindeskind unehrlich sind?‹
›Ich weiß es‹, sagte sie mit fester Stimme.
Da wandte sich der Amtmann an Valentin:
›Herbert, Ihr könnt gehen, wohin Ihr wollt. Ihr seid frei.‹ Dann sagte er zu dem Pfarrer, der an seiner Seite stand:
›Das Gericht hat nichts dawider, daß Ihr sie sofort zusammengebt.‹
›Folgt mir in die Kirche!‹ sagte der Pfarrer, ging einige Schritte voran und schaute wartend zurück. Eine Mädchenhand legte Kunigunde einen Kranz auf das Haupt; eine andere steckte einen Strauß in Valentins Wams. Gott weiß, wo die Blumen herkamen. Dann setzte sich der Zug in Bewegung. Ich ging als Ehrengesell an Valentins Seite. Unter der Kirchtür erhielt ich einen Strauß in die Hand gedrückt. Margarete war Kunigundens Ehrenjungfer. Auch sie trug ein Kränzlein, bevor sie noch zwischen die Säulen trat. Nach uns kamen die Studenten, je zwei und zwei, und dann die übrigen Leute, so viele ihrer noch auf der Straße waren. Den Schluß bildeten der Amtmann und die Schöffen, und als letzter trat der Büttel in die Kirche.
Die Leute, die auf den Bänken zur Rechten vom Hauptgang und zur Linken Platz genommen hatten, standen von ihren Sitzen auf, während das Paar an ihnen vorüberschritt. Als die beiden, vor dem Altar stehend, durch ihr Ja einander eheliche Liebe und Treue zugelobten, wurden mehr Augen feucht, als wohl je bei einer Hochzeit in dieser Kirche geschehen war; als der Pfarrer den Segen über die Knienden sprach, war eine solche Stille, daß jeder sein Herz klopfen hörte, und als die Feier vollendet war, ging ein Rauschen der Freude durch die Kirche.
Kunigunde blieb auf ihren Knien, ihr Haupt sank auf die Brust, ihre gefalteten Hände zitterten, und ihre Lippen bewegten sich im Gebet. Valentin aber stand hastig auf, wie wenn er auf diesen Augenblick in qualvoller Spannung gewartet hätte, wandte sich nach mir um und fragte schier heftig:
›Sag mir die Wahrheit, bei der Treue, die wir uns geschworen haben: War Gerwig schuldig?‹
Ich trat einen Schritt zurück und zog meine Hand aus der seinen.
›Valentin‹, sagte ich, ›du solltest ihn nicht nennen in dieser Stunde.‹
Er schaute auf meine Hand, die ich von der seinen entfernt hatte, dann sah er mir spähend ins Gesicht und sagte: ›Ich war sinnlos gewesen; vor dem Altar bin ich erwacht. Da sah ich ihn, wie er mich anschaute mit seinem letzten traurigen Blick. Ich hab' an ihn gedacht, und nur an ihn, während ich kniete; bei Gott, nicht an mein Weib. Und jetzt will ich nur eines wissen: Ist er zum Judas an mir geworden?‹
›Ach, Valentin‹ sagte ich, und das Herz wurde mir grimmig und weich, ›du hast vorschnell gerichtet. Die Lüge, die er dir sagte, war seine einzige Sünde gegen dich; denn daß er toll wurde vor Ingrimm, das habt ihr gemacht, ihr habt wie törichte Kinder das Feuer entzündet. Aber er hat sogleich bereut, was er getan hat, und sein letztes Tun und sein letztes Denken war, euch zu retten. Er hat ein Pferd für euch verschafft und bereit gehalten, hat dein Geld geholt und das seine dazugepackt und hat alles zu eurer Flucht gerichtet, Und als er sterbend in meinen Armen lag, da war euer Glück sein letztes Gebet.‹
Während ich redete, wurden Valentins Augen größer und größer, und soviel Entsetzen starrte daraus, daß es mir zu grauen anfing. Ich bereute meine Worte, während ich sie sprach, aber ich konnte nicht anders, ich mußte alles sagen.
Er sah mich noch immer an mit den weitgeöffneten Augen, als ich schon schwieg.
›Valentin!‹ sagte ich und ergriff ihn am Arm. Da kam aus seiner Brust ein Schmerzenslaut wie der Klang eines brechenden Herzens.
Jetzt stand auch Kunigunde auf. Sie hatte den Seufzer vernommen, und als sie uns beisammen sah, da mochte sie erraten, wovon wir redeten. Sie trat herzu und schaute ihrem Gatten in schmerzlicher Spannung ins Angesicht. Er schaute sie an voll unsäglicher Traurigkeit. So war der erste Blick, den die Gatten miteinander tauschten.
Es wurde laut in der Kirche. Die Leute erwarteten das Paar. ›Geht! Geht!‹ drängte Margarete. Die in den Bänken schoben sich dem Gange zu, um uns vorübergehen zu sehen.
Valentin nahm sein Weib und ging mit ihr langsam dem Ausgang zu. Sein Arm zitterte wieder wie damals im Walde, und seine Augen ruhten auf ihr mit einem unbeschreiblichen Ausdruck von Wehmut und Zärtlichkeit. Kunigundens Antlitz war starr geworden, aber ihre Augen spähten nach jeder Fiber in des Gatten Angesicht.
Hinter dem Ehepaare gingen Margarete und ich. Dann kamen die Studenten, als erster hinter uns Herr Martin Opitz aus Schlesien.
Wir waren unter die Orgelempore getreten. An der Turmpforte standen der Amtmann und die Schöffen. Die Herren traten zur Seite, um den Zug vorüberzulassen.
Unter der Tür blieb Valentin stehen und wandte sich zu dem Amtmann. Kunigunde zuckte zusammen. Valentin sah dem Amtmann ins Gesicht, wie wenn er etwas sagen wollte. Dann kehrte er sich rasch seiner Gattin zu, faßte sie an den Händen, schaute ihr in die Augen und sagte: ›Du hast getan, was du tun mußtest; laß mich tun, was ich tun muß.‹
Ein triumphierendes Licht strahlte aus ihren Augen, dann füllten sich diese Augen langsam mit schweren Tränen. Ein trunkenes Entzücken kam und schwand in Valentins Angesicht. ›Du Hohe! Starke! Tapfere!‹ sagte er leise. Er legte seine Hände auf ihre Achseln und schaute sie lange innig an. Dann schloß er sie in die Arme, küßte sie auf den Mund und schluchzte: ›Lebewohl, herzliebes Gemahl!‹
Im nächsten Augenblick kniete er auf der Schwelle vor dem Amtmann, zog den Hochzeitsstrauß aus der Brust, legte ihn neben sich nieder auf den Boden und sagte mit leiser, aber fester Stimme:
›Ich bitte um mein Recht. Ich habe meinen Herzbruder erschlagen, der es treu mit mir gemeint hat. Ich will gerichtet sein.‹
Es war totenstill geworden.
Der Amtmann sah Kunigunde an. Mit einem Blick voll schmerzensreichen Stolzes schaute sie auf den Knienden. Dann lief ein Zittern über ihren Leib. Sie öffnete den Mund wie zu einem Schrei, aber sie blieb stumm und senkte das Haupt. Mit bebenden Fingern löste sie den Hochzeitskranz aus ihrem Haar und ließ ihn zur Erde gleiten. Dann trat sie von ihrem Gatten zurück und legte sich still weinend an Margaretens Brust.
›Steht auf!‹ sagte der Amtmann, und seine Stimme zitterte. ›Euer Recht soll Euch sein. Ihr sollt gerichtet werden.‹
Da drängte sich der Student an mir vorbei, der auf dem Anger die Brautleute als künftige Schlesier willkommen geheißen hatte, Martin Opitz aus Bunzlau. Er verneigte sich vor dem Amtmann und sagte: ›Gnädiger Herr, gewährt mir und meinen Kommilitonen eine Bitte. Verschont ihn mit dem Rade! Schenkt ihm die Gnade des Schwerts!‹
›Nicht das Rad! Das Schwert!‹ murmelte es vielstimmig hinter ihm.
Der Amtmann schaute seine Schöffen an und nickte. ›Die Bitte sei gewährt!‹ sagte er. Dann wandte er sich an den Büttel, der hinter ihm stand: ›Geht und holt den Meister Henker!‹
Da löste sich Kunigunde aus den Armen der Gespielin. Sie kniete neben ihren Gatten, hob ihr tränenüberströmtes Antlitz zu dem Amtmann empor und sagte:
›Auch ich habe eine Bitte, gnädiger Herr. Erspart meinem Gatten den Karren! Laßt ihn als einen freien Mann auf seinen eigenen Füßen gehen! Blößt seinen Leib nicht! Laßt ihn aus seinen Augen schauen! Und noch eins, das letzte: Laßt mich, sein ehelich Weib, an seiner Seite gehen!‹
Der Amtmann murmelte: ›Gewährt! Gewährt!‹ beugte sich nieder und hob die Weinende auf.
Auch Valentin erhob sich jetzt.
Die Umstehenden waren erschüttert. Die weiter hinten warteten und nichts gehört hatten, fragten ungeduldig, was sei, und als sie es vernommen hatten, drängten sie dem Ausgange zu. Die einzelnen gingen still an uns vorbei. Die meisten taten Valentin ein Liebes an; sie drückten seine Hand, sie berührten seine Schulter, aber keiner sagte ein Wort.
Auf die Straße gelangt, stellten sich die Leute wieder in langer Reihe an den Häusern hin, von der Kirche an die Vorstadt hinaus. Der Meister zeigte sich; er trug das entblößte Schwert auf der Schulter und sah mit einem auffordernden Blicke zur Tür herein. Der Amtmann machte eine Gebärde, die zum Aufbruch mahnte.
Da trat Kunigunde noch einmal vor ihn hin und sagte: ›Gnädiger Herr, Ihr habt mir erlaubt, mein Gemahl zur Richtstatt zu geleiten; so habt Ihr mich meines Amts entbunden. Wer soll nun meinem Eheherrn die Glocke läuten?‹
›Das soll der Büttel tun‹, sagte der Amtmann und schaute hinter sich. Dienstbeflissen kam der Büttel herbei.
›Der nicht!‹ rief Valentin, und Kunigunde winkte ein helläugiges Büblein heran, das draußen vor der Tür stand und den Henker betrachtete.
›Erlaubt!‹ sagte sie zum Amtmann, und dann fragte sie das Büblein: ›Nicht wahr, du läutest gern?‹
Der Knabe sagte: ›Ja.‹
›Wenn du die Treppe hinaufkommst, findest du ein helles, weites Gemach, gleich über der Orgel. Viele Seile hangen herunter. Darunter ist ein dünnes schwarzes. An dem darfst du läuten. Ziehe von hoch oben bis tief hinunter, und tu's so ruhig und ebenmäßig, als du nur immer kannst, damit es schön klinge, und mein Vater droben meine, ich sei es selbst. Es ist ein heiliges Werk, einem armen Menschen den Gottesgruß zum Geleit zu geben. Das bedenke! Sobald du droben bist, läute!
Der Knabe sah sie ernsthaft an mit großen Augen.
›Wie lange soll ich läuten?‹ fragte er.
›Du hast in der Schule den einundneunzigsten Psalm gelernt, der da anhebt: Wer unter dem Schirme des Höchsten sitzet ...‹
›Den sage langsam und andächtig, während du läutest. Laut wirst du's nicht tun können; tu's in Gedanken!‹
Das Büblein nickte.
›Wenn du fertig bist, sage ihn zum andernmal und zum drittenmal. Dann sind wir am Speyerer Tor angelangt, die Glocke ist heiß geworden, und du wirst müde sein. Eine ganze Viertelstunde darfst du jetzt ausruhen, aber nicht länger. Dann sind wir am Hochgericht angelangt. Ist die Viertelstunde vorbei, so fängst du wieder an zu läuten.‹
›Wie lange soll ich dann läuten?‹ fragte der Knabe.
Kunigunde schluckte und sagte mit erstickter Stimme: ›Bis du müde bist.‹
Sie senkte einen Augenblick das Haupt, aber als das Bübchen forteilen wollte, rief sie es zurück und fragte ihren Gatten: ›Hast du seinen Lohn bei dir?‹
Valentin schüttelte das Haupt und sagte: ›Ich habe nichts.‹
Ich griff nach meinem Beutel, aber der Amtmann hatte Valentin schon einen Gulden gereicht. Den erhielt der Knabe aus meines Herzbruders Hand.
›Nun verzeiht noch einen Augenblick, daß ich mich ordentlich mache zu meinem Ehrengange‹, sagte Kunigunde. Sie trat auf die Seite in einen dunkeln Winkel der Kirche und kam alsbald wieder zurück. Sie hatte ihr Haar aufgesteckt, wie sie es sonst zu tragen pflegte.
Sie schaute sich im Kreise um und sagte: ›Es ist das einzige Mal, daß ich mit meinem Gatten durch die Straße gehe: da sollte ich eine Haube haben, wie sie die Ehefrauen tragen, wenn sie mit ihrem Manne ausgehen. Will eine von den Frauen so gut sein und mir ihre Haube leihen?‹
Fünf, sechs Hauben wurden ihr entgegengestreckt.
Kunigunde zögerte und sagte: »Aber ihr werdet sie nicht mehr tragen wollen, wenn sie auf dem Haupte eines unehrlichen Weibes gesessen hat?«
›Nimm! Nimm!‹ riefen die Frauen, und die zugestreckten Hauben schüttelten sich.
Da nahm Kunigunde die nächste und sagte: ›Nun denn, in Gottes Namen!‹
Jetzt fing die Glocke an zu läuten. Kunigunde horchte und nickte befriedigt.
Der Zug setzte sich in Bewegung.
Der Wind jagte zerrissene Wolken über den Himmel hin. Bald war es düster auf den Straßen, bald glitzerte alles im Sonnenschein.
Der Meister Henker ging voraus, hinter ihm seine Knechte. Dann kamen Valentin und Kunigunde. Ihnen auf dem Fuße folgten Margarete und ich, denn es war uns beiden eine selbstverständliche Sache, daß wir mit hinausgingen. Dann folgten der Geistliche und die Herren des Gerichts.
Valentin ging zuerst gesenkten Hauptes, aber bald richtete er sich auf und blickte frei. Kunigunde ging mit gehobener Stirn. Die Frauenhaube, das Zeichen ihrer eheweiblichen Würde, trug sie in der Linken. Wenn das Richtschwert auf der Schulter des Meisters blitzte, dann leuchtete zugleich die goldene Flechtenkrone auf Kunigundens Haupt.
Zuerst schauten die Leute von rechts und links schweigend her. Dann und wann hörte man unterdrücktes Weinen. Als aber ein alter Mann gerufen hatte: ›Gott zum Geleit!‹ wurden die Reihen laut und lebendig. Die Leute winkten mit Tüchern, sie drückten ihm und ihr die Hand, sie riefen Valentin Abschiedsworte zu und gute Sterbesprüchlein aus der Schrift; und je weiter wir kamen, desto lauter wurde das Weinen und Wehklagen. Zwischenhinein hörte man den Ruf: ›Die Pfalzgräfin!‹ Aber nicht im Spott wurde es gerufen, sondern in zärtlicher Liebe und Bewunderung.
Valentin und Kunigunde hatten sich an den Händen gefaßt: sie grüßten nach rechts und links und schauten sich liebevoll an und redeten freundlich miteinander.
Als wir zum Speyerer Tor hinausgetreten waren, hörte das Getümmel auf. Auch die Glocke war verstummt. Hinter uns lag die Stadt im Schatten einer düsteren Wolke, aber auf uns brannte die Sonne. Es war ein langer heißer Weg durch die Weingärten. Ich sah, wie Valentin unsicher wurde; er stolperte und wankte und ließ den Kopf sinken. Da redete Kunigunde still auf ihn ein. Ich trat näher, um zu hören, was sie sagte: es waren die Worte des einundneunzigsten Psalms.
Als wir an dem Galgenstein angelangt waren, hatte die Glocke wieder zu läuten begonnen. Sie fielen einander um den Hals und hielten sich lange umschlungen. Endlich rissen sie sich voneinander los.
›Schau nicht zurück!‹ bat er sie.
›Oh, ewig, ewig!‹ erwiderte Kunigunde.
Noch einmal Aug' in Auge. Dann wandten sie sich zu gleicher Zeit um. Er stieg die Treppe hinauf, und sie ging, von Margarete begleitet, nach der Stadt zurück.
Er stand auf dem Hochgericht, hielt die Hand über die Augen und schaute ihr nach. Als sie hinter einer Hecke verschwunden war und er' sie nicht mehr sehen konnte, zog er den Wams aus, hob ihn in die Höhe und rief: ›Ist der Mann da, der mir seinen Wams geliehen hat?‹ Er wartete eine Weile. Als keine Antwort kam, warf er den Wams in die Menge hinunter und rief: ›Gebt ihn dem Mann und sagt ihm meinen Dank!‹
Dann suchten seine Augen mich.
Als sie mich gefunden hatten, rief er: ›Herzbruder! Grüße den Meister und deine Margarete! Grüße mein Weib! Grüße sein Grab!‹
›Herzbruder!‹ rief ich hinauf.
Valentin kniete jetzt nieder neben dem Pfarrer und hörte auf dessen Gebet. Dann stand er auf und reichte dem Geistlichen und dem Henker die Hand. Seine Augen grüßten mich noch einmal. Darauf kniete er nieder und legte den Kopf auf den Block.
Der Henker ließ sein Schwert im Sonnenschein funkeln. Das Eisen war so lauter und blank wie damals, als Kunigunde und Valentin es miteinander geputzt hatten. Der Henker besah die Bilder auf der Breite des Schwertes, und mit lauter Stimme las er die Geschrift:
›Wenn ich das Schwert tu aufheben.
Dann schenke dir Gott das ewige Leben!‹
›Amen!‹ rief eine Stimme aus der Menge.
Der Meister hob das Schwert hoch in beiden Händen – ein Blitz zuckte herunter – ich schloß die Augen ...«
So erzählte der Ratsherr und Schwertfegermeister aus dem Burgweg zu Heidelberg seinem Stubenherrn hoch oben auf dem Turmaltan der Heiliggeistkirche. Sie saßen nebeneinander auf dem Bänklein, dem herunterrauschenden Neckar zugekehrt. Das weiße Haar des alten Mannes und die dunkelblonden Locken des Jünglings leuchteten im Sonnenschein. Die Schwalben flogen über ihnen hin und her, und von Viertelstunde zu Viertelstunde rasselte es im Uhrwerk und dröhnte der Glockenschlag.
Johannes hatte seine Erzählung beendet. Jodokus schaute ihn an mit feuchten Augen und griff nach seiner Hand. Da aber der Alte seine Augen geschlossen hatte, saß Jodokus stille wartend da, derweilen eine Träne über seine Wange schlich. Als der Meister die Augen aufschlug, drückte ihm der Studiosus die Hand und sagte leise: »Ich danke Euch.«
Der Meister stand auf, sah nach der Sonne und dann über die Stadt hin und sagte:
»Es ist spät geworden. Meine Hausfrau weiß, daß ich mich da oben immer versinne; aber diesmal hat es gar lange gedauert; ich schätze, daß sie schon eine ganze Weile unten auf mich wartet.«
Er trat an das Geländer und schaute hinab. Als er sein Antlitz wieder hob, leuchteten seine Augen auf, und er rief: »Nein, sie kommt eben erst.«
Er beugte sich über die Schutzmauer und grüßte mit der Hand einem alten Frauchen hinunter, das vom Barfüßerkloster her zur Kirche eilte. Sie hatte ihren Blick heraufgerichtet und dankte nickend und winkend dem Gruße. An der Hand sprang eins ihrer Enkelkinder.
»Margarete!« sagte der Alte innig vor sich hin. Dann wandte er sich dem Turm zu: »Wir wollen ihr entgegen.«
Er ging voran. Als sie unter der Glockenstube hinschritten, hielt der Alte den Fuß an und lauschte. Jodokus warf einen scheuen Blick hinauf nach dem Armensünderglöcklein. Dann eilten sie hastig weiter; der Student war erbleicht, als ob ihm ein Schauder über den Rücken liefe.
Sie stiegen nun langsam die Treppe hinab.
Der Meister war auf der zweitobersten Stufe stehengeblieben und hatte seinem jungen Hausgenossen freundlich zugenickt. Das sah dieser für ein Zeichen an, daß er wieder reden dürfe.
»Was ist aus Kunigunde geworden?« fragte er.
»Sie hat den Turm nicht verlassen«, antwortete Johannes, sich an dem Seile haltend und dann und wann stehenbleibend. »Die Witwentrauer hat sie nicht abgelegt. In die Schmiede ist sie niemals mehr gekommen, und ihre Ausgänge hat sie in der Dämmerung gemacht. ›Ich bin ein unehrliches Weib‹, hat sie gesagt, ›und wenn mich die Herrschaft nimmer auf dem Turme duldet, so ist mein Platz da, wo Margarete niemals hingeht: im Winkel zwischen Mantel und Mauer.‹
Als der Tilly ins Land kam, schafften wir Margareten, ihren Vater und Kunigundens Vater auf den Dilsberg. Dort haben sie die böse Zeit sicher überstanden. Kunigunde blieb während der Belagerung auf ihrem Posten. Durch verabredete Zeichen hat sie dem Kommandanten auf dem Schlosse mitgeteilt, was sie vom Turme aus über den Feind erspähte. Bei der Erstürmung der Stadt ist sie getötet worden.«
»Wie fand sie den Tod?« fragte Jodokus.
»Wie ein Soldat, im ehrlichen Streit, durch eine Kugel in die Brust.
Wie wir oben auf dem Turme den letzten Kampf hatten, nachdem die Tore gefallen und die Häuser ringsum erstürmt waren – wie ich dann mit ihrer Leiche in einem Versteck des Kirchenspeichers die Nacht zubrachte, und wie am anderen Morgen die Jesuiten bei ihrem Einzug in die Kirche uns in ihren Schutz nahmen, das erzähle ich Euch ein andermal.«
Er stieß das Pförtlein auf und hielt die Hand über die Augen, geblendet vom hereinflutenden Sonnenschein. »Wo sind sie?« fragte er, auf das lichte Pflaster tretend, und spähte rechts und links.
Jodokus, der hinter ihm aus der Finsternis gekommen war, sah lächelnd zur Seite und legte zum Zeichen des Einverständnisses den Finger auf die Lippen.
»Großvater! Großvater!« rief es, und des Meisters Enkelkind sprang aus der Bude des Geschirrhändlers, worinnen es sich versteckt hatte, und es breitete sein Ärmlein um die Knie des alten Mannes. Und jetzt stand auch Frau Margarete auf, die, um plaudernd zu warten, sich auf den Schemel des Geschirrhändlers gesetzt hatte.