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»Sie haben ihn! Sie haben ihn!«
Die halbwüchsigen Buben waren allen anderen voraus. Sie rasten die steile Gasse hinab dem vorderen Tore zu. Dann kamen die Gesellen aus den Werkstätten, die Hufschmiede voran. Die Dirnen ließen ihre Kübel am Brunnen stehen. Aus den Häusern quollen die Bürger und die Frauen, und des kurfürstlichen Amtmanns schöne Töchter traten auf den Erker und beugten sich zu den Fenstern hinaus.
Man brachte ihn die Marktstraße herauf. Ein Landsknecht ging voran und machte Platz mit der Hellebarde. Dann kamen ein Zinkenist und ein Trommler. Der Zinkenist blies dasselbe Stück, das er und seine Gesellen geblasen hatten, als man vorgestern den Kurfürsten in die Stadt einholte. Das Gedränge auf dem Marktplatz und der Lebtag in allen Gassen war damals nicht größer gewesen als heute, auch war kein geringeres Traktament zu erwarten, als der Rat es vorgestern bewilligt hatte; warum sollte da der Zinkenist nicht dasselbe Stück blasen, das der Stadtorganist zum Einzug Seiner Kurfürstlichen Gnaden aufgesetzt hatte? Der Trommler seinerseits verfuhr nach einem anderen Grundsatz: jedesmal, wenn er an einem Dirnlein vorüberstrich, schlug er mit Leibeskräften auf das Kalbfell; das gab dann Auseinanderstieben, Gekreisch und Gelächter.
Hinter dem Trommler ging der Gefangene. Sie hatten ihm die Arme auf dem Rücken zusammengeschnürt. Sein Wams war zerfetzt, die schwarzen Haare hingen ihm verzaust in das wildschöne Gesicht. Über die linke Schläfe hatte er eine breite Wunde, aus der das Blut rieselte.
Der hat sich gewehrt!
Und wie! Sie waren zu fünft gegen ihn. Zwei hat er niedergeschlagen, ehe sie ihn warfen, und als sie ihn zu Boden kriegten, hat er noch einen mit sich gerissen, der auch das Aufstehen vergaß.
So sagten die Gesellen zueinander; die Mädchen aber, die zum Erkerfenster herausschauten, die schwarzlockige Judith und ihre Gespielin, die blonde Agathe, raunten sich zu, leise, damit es die dritte nicht höre: »Das schöne junge Blut! Schau, wie seine Augen blitzen! Und wie er einherschreitet, so stolz, als ob er ein Ritter wäre! Bei Gott, ich weiß unter unseren Gesellen keinen, mit dem ich so gern zum Tanze ginge!«
Ähnlich dachten und sagten auch die Mägde unten auf der Straße. Und doch war kein eigentliches Mitleiden, weder bei den Alten noch bei den Jungen, weder bei den Frauen noch bei den Männern. Denn es war ein wildfremder Mensch, den noch niemand gesehen hatte bis auf den vorgestrigen Tag, wo er zum Tanze erschien unter der Linde vor dem oberen Tor, und wo er nach kurzem Streit des Kurfürsten Armbrustspanner erschlug. Wie es zugegangen war, wußte niemand zu sagen, denn kaum hatte sich der Wortwechsel entsponnen, so waren die beiden aufeinander losgefahren – so lag der eine von ihnen in seinem Blut, und der andere war durch die Menge gebrochen und im nahen Gehölz verschwunden. Die kurfürstlichen Reiter waren alsbald die Straßen hinausgesprengt und hatten in den umliegenden Dörfern Lärm geschlagen. Allerlei müßiges Volk aus der Stadt hatte sich aufgemacht in der Hoffnung auf ein gutes Fanggeld und hatte die Wälder abgesucht. Einigen von diesen Leuten war denn auch der Flüchtling in die Hände gefallen, freilich nicht, ohne daß sie es mit Beulen, Wunden und gebrochenen Gliedern büßen mußten.
Das war's, was sich die Männer zu erzählen wußten. Die Weiber aber hatten nachgespürt, was es denn für eine Schürze sei, um derentwillen die beiden Fremdlinge aneinandergeraten waren; und als man erfuhr, daß es des Waagmeisters Veronika gewesen sei, war des Verwunderns nicht wenig; denn sie war fast noch ein Kind und war zum erstenmal zum Tanze gegangen. Die Burschen hatten noch nie von ihr geredet, und daß sie schön sei, hatte noch keine der Frauen bemerkt. Dagegen wußte man, daß sie arm sei und weder Verwandtschaft noch Anhang habe. Und da nun auch der Erschlagene niemand etwas anging, so brachte man dem ganzen Vorgang nur Neugier entgegen.
Bei den Stadtvätern mischte sich mit der Neugier ein schmunzelndes Behagen. Seit die alte Pfalzgräfin droben im Schlosse, ihrem Witwensitz, gestorben war, hatten sie kein Glied der Landesherrschaft in ihren Mauern gehabt. Darum gedachten sie aus der kurzen Anwesenheit des Kurfürsten einige Gerechtsame für ihr Gemeinwesen herauszuschlagen. Als sie ihm aber – es war am Tage nach dem Unglück – ihre Aufwartung machten, hatte sie Ottheinrich zornig angefahren, als ob sie schuld wären, daß ihm sein Diener erschlagen worden, worauf sie beteuerten, daß sie in betreff dieser Missetat schuldlos seien wie die bethlehemitischen Kindlein und um den Ermordeten Leid trügen als um einen Bruder. Ottheinrich aber hatte ihnen ungnädig den Rücken gekehrt, und sie waren niedergeschlagen nach Hause getrollt. Um so vergnügter waren sie jetzt darüber, daß es nicht den kurfürstlichen Reitern, sondern Bürgern aus der Stadt gelungen war, den Missetäter einzubringen, und wo sich ein paar Ratsherren im Getümmel trafen, beglückwünschten sie sich und machten miteinander aus, daß den Fängern zu der Belohnung des Kurfürsten eine Verehrung aus dem gemeinen Säckel bewilligt werden müsse, den drei Verwundeten noch obendrein ein Schmerzensgeld.
Ottheinrich war gerade vom Mahle aufgestanden, als sich der Lärm dem Schlosse näherte.
Er trat ans Fenster und schaute die Gasse hinunter, dem Schwarme entgegen.
»Wen führen sie denn da herein? Bei Gott, mit derselben Musika, mit der sie mich empfangen haben!«
Da stürmte der alte Schloßvogt zur Türe herein.
»Sie haben ihn, Kurfürstliche Gnaden, sie haben ihn!«
»Wen?«
»Den Mann, der Eueren Fritz erschlagen hat.«
»Remblem!« sagte der Kurfürst und ging eilends hinaus, so wie er ging und stand, barhäuptig und im bequemen Hauswams.
Als der Trommler des hohen Herrn ansichtig wurde, faßte er seine Kunst von der ernsten Seite auf und schlug machtvoll den Takt. Der Zinkenist setzte mit doppeltem Eifer ein und blies die letzten Kadenzen des Marsches Fortissimo. Die beiden Musikanten stellten sich zur linken Hand des Kurfürsten auf. Der Zinkenist drehte sein Instrument um, und der Trommler schloß mit einem gewaltigen Wirbel.
Ottheinrich warf den beiden einen unmutigen Blick zu und fragte sie über die Schulter weg:
»Habt ihr mich vorgestern zum Schelmen gemacht, oder macht ihr jetzt den Schelmen zum Pfalzgrafen?«
Der Zinkenist, der gerade Luft schöpfte, vergaß den Mund zu schließen, der Trommler aber sperrte den seinigen machtvoll auf; so schauten sich die beiden fragend an, denn sie verstanden nicht, ob hinter den Worten des Kurfürsten ein Trinkgeld lauere oder eine Tracht Prügel.
Unterdessen war Ottheinrich die Rampe hinuntergestiegen und betrachtete den Missetäter.
»Schade um den Kerl!« murmelte er in den Bart. Dann sagte er in die Volksmenge hinein: »Der Mann blutet. Man soll ihm die Wunde waschen und ihn verbinden!«
»Man soll ihm die Wunde waschen! Man soll ihn verbinden! Wasser und Leinwand her! Wo ist der Bader? Ist der Bader noch nicht da? Der Teufel hol den Bader!«
So liefen die halblauten Rufe durch die stockende Menge. Niemand wußte, ob der Bader geholt werde, und keiner regte sich vom Platz.
Da trat mit züchtigem Schritt ein Dirnlein aus der Menge. Es war ein blutjunges Ding, zart und fein, mit blondem Haar und schüchternen blauen Augen. Sie trug ein irdenes Kübelchen in der Hand, und über ihrem Arme hingen blendendweiße gefaltete Linnen. Sie ging auf den blutenden Mann zu, stellte das Kübelchen auf den Boden, und ohne rechts oder links zu blicken, fing sie an, die Wunde zu waschen.
»So ist's recht, Jungfer!« sagte der Kurfürst. »Er ist dir zu groß. Knie nieder. Mann, damit sie dir besser helfen könne!«
Nach den Worten des Kurfürsten Ottheinrich schaute der Gefangene seine Samariterin zum erstenmal an. Ein helles Licht flog über sein Angesicht. Er beugte sich tief vor ihr und kniete auf das Pflaster.
Das Kind wurde rot und rot bis in die Stirne hinauf und bis unter die Haare. Ihre schlanken Fingerlein zitterten; aber sie faßte sich tapfer, schöpfte tief Atem, daß es fast wie ein Seufzer klang, und dann führte sie sicher und überlegsam, geschickt und flink ihr Werk zu Ende.
»Wo ist der Bader? Ist der Bader noch nicht da? Soeben kommt der Bader! Platz für den Bader! Der Baderist nimmer nötig. Bader, geh heim! Leg dich ins Bett, alte Schlafhaube!«
So rief es im Hintergrunde der gestauten Menge hinauf und hinunter. Derweilen wurde das Werk vollendet.
»Ich danke Euch«, sagte der Mann und stand auf. Das Mägdlein nahm sein Kübelchen vom Boden, und ohne aufzuschauen schlüpfte es in die Volksmenge nach derselben Richtung, woher es gekommen war.
Während die Wunde gewaschen und verbunden wurde, hatte der Kurfürst die Gesichtszüge des knienden Mannes aufmerksam betrachtet und dann an ihm vorbei in den Volkshaufen geblickt, ziellos, als ob er sich auf etwas besänne, das er nicht finden könne.
Als sich der Unglückliche aufgerichtet hatte, holte der Fürst seinen Blick zurück, sah an dem Gefangenen hernieder und sagte: »Löst ihm die Hände!«
Die verdüsterten Augen des Gefesselten schauten ihn dankbar an.
»Nicht doch, gnädiger Herr!« sagte der Bürgermeister und trat aus einer Gruppe von Ratsherren. »Er kommt in den tiefsten Turm, und in den kommt kein Gefangener mit ledigen Händen. So will es die Regel.«
»Gut. Und er ist die Ausnahme von eurer Regel. Löst ihm die Hände!«
»Verzeihung! Er hat nicht nur den fluchwürdigen Mord begangen, er hat drei Leute niedergeschlagen, als man ihn gefangennahm.«
»Das war sein gutes Recht, denn da kämpfte er um sein Leben. Gehören die Leute mir?«
»Ach, leider nein! Es sind Bürger unserer Stadt, ein Schneider, ein Nagelschmied und ein Kürschner.«
»Was haben denn eure Bürger mit dem Manne da zu schaffen? Die sollen daheim bleiben und das Ihre hantieren. Oder sind sie aufgeboten worden?«
»Nein, sondern in löblichem Wetteifer sind sie freiwillig hinausgezogen, Euer Wohlgefallen zu verdienen.«
Ottheinrichs gütige Miene verfinsterte sich.
»So sollen sie's haben, wie sie's getroffen hat! Einen schlechten Dienst haben sie mir erwiesen! Er wäre früh genug gefangen worden, nachdem ich eure Stadt verlassen. Meint ihr, es sei eine Annehmlichkeit, einen Menschen um seinen Hals zu urteilen?«
»O gnädiger Herr«, sagte der Amtmann und trat zu dem Bürgermeister – »er soll Euch keine Beschwer schaffen! Überlaßt ihn uns! Wir werden ihn richten, wenn Ihr fortgezogen seid.«
»Ich bin der oberste Richter im Lande«, sagte der Kurfürst und schaute den Sprecher mit kurzem Blicke an. »Meiner Pflicht gehe ich nicht aus dem Wege. Löst ihm die Hände!«
Der Befehl war mit erhobener Stimme gesprochen. Jetzt gab es keine Widerrede mehr. Die Fesseln fielen auf den Boden, und der Mann reckte seine Arme.
»Versprich mir, daß du nicht entrinnen wirst!«
»Ich verspreche es!« sagte der Gefangene und streckte seine Rechte hin.
Ottheinrich sah die Hand, aber schaute drüber weg.
»Weißt du, wer der ist, der mit dir redet?«
»Wer sollte Eure Kurfürstliche Gnaden nicht kennen, Ottheinrich, Pfalzgrafen bei Rhein?«
»Du bist in Heidelberg Student gewesen«, fuhr der Kurfürst fort. »Ich habe dich gesehen im Mantel des Bakkalaureus.«
Der junge Mann erbleichte und preßte die schmalen Lippen aufeinander.
Ottheinrich musterte die zerschlissene Kleidung des Gesellen und fuhr fort:
»Du warst zwei Nächte im Wald; aber das Wetter ist schön, und das Moos ist trocken. Deine Kleider waren schon vorher, wie sie nicht hätten sein sollen. Du bist in den Orden der Fahrenden gegangen oder gar in schlimmere Gesellschaft. Deine Eltern hatten Kümmernis deinetwegen, und jetzt stehst du gar als Mörder vor mir.«
»Ich hatte mich meines Lebens zu wehren. Der andere hat mich angegriffen.«
»Das alte Lied!« rief der Kurfürst unmutig. »Wo ist das Dirnlein, um das sich die Männer schlugen? Man führe sie her!«
Es war dessen nicht nötig. Die Menge teilte sich, und dasselbe Mädchen, das vorhin die Wunde verbunden hatte, trat herzu, gesenkten Hauptes und schüchternen Schrittes, aber in geruhiger Sicherheit.
»Ist das nicht unsere Samariterin?« rief der Kurfürst verwundert. »Kind, Kind, du gehörst noch an der Mutter Schürze, und deinetwegen müssen zwei Männer das Leben lassen. Schau mich an!«
Veronika hob die großen Lider und schaute mit ihren veilchenblauen Augen dem Pfalzgrafen ins Gesicht.
»Kennst du den Mann da?«
»Er hat vorgestern mit mir getanzt.«
»Hast du den Mann gekannt, den er erstochen hat?«
»Auch er hat vorgestern mit mir getanzt.«
»Welchen von den beiden hast du früher gekannt?«
»Keinen. Ich habe beide vorgestern zum ersten Male gesehen.«
»Wer hat dich gehabt, als der Streit begann?«
»Keiner. Aber sie haben mich beide haben wollen zur gleichen Zeit; da hab' ich ihm die Hand gegeben.«
»Wem?«
Veronika deutete mit dem Köpfchen nach dem Gefangenen.
»Wer hat zuerst nach dem Messer gegriffen?«
»Ich habe nur das seine blitzen sehen.«
»Die Dirne lügt!« brauste der Bursche auf.
»Schweige!« gebot ihm der Kurfürst, »Und wenn der andere es war, der zuerst die Waffe zückte, so spricht dies nicht für dich. Denn wem das Messer so leicht zum Ziele springt, dem hüpft es in der Scheide. Bereite dich zum Sterben. Morgen, wenn die Frühglocke ausgeläutet hat, sühnst du deine Missetat mit dem Kopfe.«
Der Unglückliche zuckte zusammen.
Ottheinrich sah ihn teilnahmsvoll an.
»Das ist dir nicht an der Wiege gesungen worden, daß du eines solchen Todes sterben würdest. Wo wohnen deine Eltern? Wie heißest du?«
Der Jüngling schwieg.
»Gibst du mir keine Antwort?«
»Ich bin guter Leute Kind. Erlaubet mir, daß ich Herkunft und Namen verschweige. Es ist genug, daß sich meine Eltern um mich grämen. Ich will nicht zu dem Kummer auch noch Schande bringen.«
Da schlich sich einer der Gerichtsherren an den Fürsten heran und sagte: »Sollte man nicht die peinliche Frage an ihn stellen?«
Ein zorniger Blick scheuchte ihn zurück.
Des Pfalzgrafen Auge wandte sich wieder dem Antlitz des Verurteilten zu und grübelte darinnen wie in einem Rätsel.
»Du bist aus der frommen Bahn entwichen und wilde Wege gegangen. Nun gut. Wir sind allzumal Sünder. Aber warum bist du nicht Soldat geworden, einer ehrlichen Kugel entgegenzulaufen? Jetzt verfällst du dem Henker.«
»Der Kaiser hat überall Friede.«
»In Ungarn scharmützelt es«, erwiderte der Kurfürst lebhaft. »Bald wird der Türkenkrieg wieder da sein. Dort braucht man hurtiges Eisen. Warum bist du nicht dorthin gegangen?«
Der Jüngling atmete tief auf.
»O wie gern ginge ich, wenn ich könnte!«
Der Kurfürst schien mit einem Entschluß zu kämpfen. Aber nur einen Augenblick. Dann schüttelte er traurig den Kopf und sagte:
»Dazu ist es jetzt zu spät. Aber höre! Wenn du mir Herkunft und Name sagst, dann soll dich nicht das Schwert treffen, das bei Meister Hans am Nagel hängt, sondern du sollst durch die Kugel sterben. Drei kreuzbrave Musketiere, die ich aussuchen werde, sollen's besorgen. Sag mir's leise, und ich gebe dir mein Fürstenwort: was du mir sagst, bleibt mein Geheimnis.«
Der Kurfürst trat an den Mann heran und hielt das Ohr an seinen Mund. Aber dieser Mund flüsterte nichts, sondern wandte sich weg und sagte laut: »Verzeiht mir, daß ich schweige. Ihr kennt meine Mutter und Ihr kennt meinen Vater. Darum schweige ich.«
Der Kurfürst sah betroffen auf. Seine Augen bohrten sich in die Mienen des Jünglings, aber kein Erinnern leuchtete in ihm auf.
»Nun gut«, sagte er endlich, »so sollst du sterben als ein unbekannter Mann. Aber die Kugel schenke ich dir doch. Morgen, wenn die Frühglocke dort oben auf dem Kirchturm ausgeläutet hat, sollen dich die Kugeln treffen, hier auf diesem Platz, wie einen Soldaten, der sonst brav war, aber gegen das Lagergesetz gesündigt hat. Gebt ihm ein ehrlich Gewahrsam«, wandte er sich an die Ratsherren. »Führt ihn in den Bürgergehorsam. Ich will es so haben. Schickt ihm einen Pfarrer, daß er die Nacht über bei ihm bleibe. Aber er soll ihn in Ruhe lassen, wenn er Ruhe haben will. Er soll bei ihm in der Stube schlafen. Wann läutet die Frühglocke?«
»Wenn der Tag graut, um vier Uhr.«
»Um vier Uhr soll er hier sein, und sobald die Glocke ausgeläutet hat – Gott sei mit dir, mein Sohn!«
Ottheinrich sah ihm noch einmal tief in die Augen, aber ohne zu finden, was er suchte.
Der Jüngling griff nach der Hand des Fürsten; aber Ottheinrich hatte sich schon abgewendet. Er rief einen Junker herzu und nannte ihm den Korporal und die drei Musketiere; dann rief er: »Wohlauf, ihr Herren, laßt uns ein wenig hinausreiten in den grünen Wald und des Weidwerks pflegen!«
Als der Kurfürst eine Viertelstunde später die enge Wendeltreppe hinunterstieg, die von seinem Gemach in den Hof führte, hätte er, da er etwas kurzsichtig war, beinahe eine weibliche Gestalt umgerannt, die auf den Stufen kniete, da, wo der Schatten am dunkelsten war.
»Wer ist das? Wer kniet hier? Steht auf! Wer seid Ihr? Was wollt Ihr?«
Die Gestalt blieb in ihrer Lage. Aber es hoben sich zwei flehende Hände zu ihm auf und ein tränenüberströmtes Angesicht.
Ottheinrich beugte sich nieder zwischen die emporgerichteten Arme und schaute in das Antlitz.
»Tu bist es, Dirnlein? Was willst du?«
»Ich habe nicht alles gesagt«,schluchzte die Maid. »Ich habe nur sein Messer blitzen sehen, nicht, weil der andere keines gezogen hätte, sondern, weil ich nur allein ihn angeschaut habe.«
»So! Und hast du mir noch etwas zu sagen?«
»Ja. Ich bitte um sein Leben!«
»Laß dies, Kind! Hat er dir gesagt, woher er sei?«
»Nein, aber ich glaube, daß er aus Nürnberg ist!«
»Warum glaubst du dies?«
»Weil er gesagt hat, in Nürnberg tanzt man den Schleifer anders.«
Nürnberg? Nürnberg?
Der Kurfürst suchte in seiner Erinnerung. Er war oft in Nürnberg gewesen und hatte viele Nürnberger Frauen kennengelernt. Sollte es –
»Weißt du, wie er heißt?« fragte der Kurfürst.
»Sein Vorname ist Sabinus. Mehr weiß ich nicht.«
Da fiel es dem Pfalzgrafen wie Schuppen von den Augen.
»Sabine!« sagte er vor sich hin.
»Habt Erbarmen mit ihm und schenkt ihm das Leben!« flehte die Dirne.
»Geh heim, Kind«, sagte der Pfalzgraf erschüttert. »Wirf dich daheim auf die Knie und bete zu Gott, daß der ihm gnädig sei, ich darf es nicht sein. Wo soll die Gerechtigkeit bleiben, wenn die Fürsten vor allem Volk die Person ansehen? Wenn morgen die Frühglocke läutet, dann bete brünstiger, denn nach dem letzten Glockenton fallen drei Schüsse, und drei Kugeln durchbohren seine Brust. Du wirst sie hören, Kind, und ich höre sie auch; dann wirst du weinen, Kind, und ich weine auch. Geh!«
Ottheinrich schritt an ihr vorüber. Unter der Tür rief er in den Hof hinaus:
»Sattelt die Pferde ab! Ich reite nicht auf die Jagd.« Und in tiefen Gedanken ging er die Treppe hinauf in sein Gemach, ohne weiter des Dirnleins zu achten, das an ihm vorüberschlüpfte. Stunde um Stunde hörte ihn der Page, der im Vorzimmer weilte, auf und nieder gehen. Derweilen aber kniete Veronika in ihrem Kämmerlein vor ihrem Mädchenlager und betete, aber nicht, daß Gott der Seele des Geliebten gnädig sei, sondern daß er gelingen lasse, was sie im Busen bewegte. Als ihr der Vater rief, stand sie auf, strich sich das Gewand glatt und brachte ihre Haare in Ordnung. Ihre Lippen waren zusammengepreßt. Im Hinausgehen flüsterte sie: »Wenn morgen die Frühglocke läutet... Sie darf nicht läuten; sie läutet nicht!«
»Wo willst du noch hin, Veronika?«
»Ich will noch ein wenig zur Muhme hinunter.«
»Du hast ja deine Spindel vergessen.«
»Heute wird nicht gesponnen; wir wollen uns nur ein bißchen was erzählen!«
Veronika eilte rasch das Gäßchen hinab. An der Ecke schaute sie zurück und eilte dann nicht rechts über den Seilermarkt, wohin der Weg zur Muhme gegangen wäre, sondern sie verschwand hinter der Kirchhofmauer, an deren südwestlicher Ecke das Gäßchen mündete. Sie ging nun auf dem grünen Pfad, der sich zwischen dem Kirchhof und dem Stadtgraben hinzog. Auf der Kirchhofmauer saßen zwei Knaben und hielten eine lange Angelrute über den Pfad.
»Wollt ihr Grundeln fangen?« sagte Veronika und schlüpfte unter der Rute hinweg.
»Du bist an unsere Schnur gestreift, dumme Gret!« sagte der Knabe, der den Stock hielt, und zog die Angel in die Höhe. Veronika aber lief der Mauer entlang bis zur nächsten Ecke und bog hinum. So kam sie an die nördliche Schmalseite des Kirchhofs, die an den Geschützwall des Schlosses stieß. Sie sah den ganzen Pfad hinaus; kein Mensch war zu sehen. Auch jenseits des Grabens auf dem Pfade, der sich unter der Stadtmauer hinzog, war keine Seele, und ebenso menschenleer war der Wall, an dessen steiler Rampe ihr Pfad endete.
Veronika ging bis an diese Rampe und stieg dann die schmalen Staffeln hinauf, deren unterste Stufen sich an die Kirchhofmauer lehnten. Von der fünften Stufe aus war es leicht, die Mauer zu ersteigen; ehe sie dies tat, spähte sie in den Kirchhof, nach den Fenstern des Schlosses hinüber und die Mauer entlang. Die beiden Buben kehrten ihr den Rücken und schauten der Angelschnur nach in den Graben hinunter. Der Kirchhof lag still und verlassen im Abendlichte. Aber an einem Fenster des Schlosses, dem letzten des zweiten Stockes, da, wo der Mittelbau an die Schloßkirche stieß, stand eine hohe und breite Gestalt und schaute über den Schloßhof und den Kirchhofwinkel herüber nach den verglühenden Wolken des Abendhimmels. Das junge Mädchen lag gerade in der Linie dieses Blickes, aber Veronika brauchte nicht zu befürchten, gesehen zu werden, denn ihre Gestalt wurde von dem dichten Gezweig und den breiten Blütenbüscheln eines Holunderbaumes verdeckt. Sie schaute zurück. Hinter ihr und auf den beiden Pfaden herwärts vom Graben und jenseits längs der Stadtmauer war niemand zu erblicken. So wartete sie geruhig, bis sich der Mann dort oben vom Fenster verzogen habe. Sie schaute scharf hinüber. Der helle Widerschein des breiten Abendrotes fiel auf die Schloßwand und verklärte das Angesicht des Mannes am offenen Fenster. Es war der Kurfürst. Jetzt wandte er sich um und verschwand in der Tiefe der Stube. Veronika wartete eine Weile und war schon im Begriff, sich auf die Mauer zu schwingen. Da tauchte die Gestalt wieder aus der Finsternis. Der Kurfürst stemmte die Hände auf die Brüstung und schaute heraus. So stand er einige Augenblicke. Dann wandte er sich langsam und ging in das Schwarze zurück. Kein Zweifel, er wandelte im Gemache auf und nieder. Veronika wartete, bis er wieder erschienen war, und sobald er von neuem den Rücken gekehrt hatte, stieg sie durch das Geäst auf die Mauer, ergriff ein Büschel Zweige mit beiden Händen und sprang in den Kirchhof hinab. Der Baum neigte sich, und sein wirres Gelock mit den breiten Rosetten schwankte auf und nieder. Veronika huschte über den grünen Boden in den Schutz der Mauer, die von dem ersten Strebepfeiler der Kirche herlief und auf den Graben stieß. Es kam ihr vor, als sei seit ihrem Sprung von der Zinne nicht halb so viel Zeit vergangen, als der Kurfürst brauchte, um sein Gemach auf und ab zu messen. Sie lief nun, unbesorgt vor weiterer Entdeckung, an der Mauer hin, hinter alten Grabsteinen und allerlei Gesträuch, und kam in den versteckten Kirchenwinkel zwischen eben dieser Mauer und dem vorspringenden Chore. Sie setzte sich auf einen Haufen von Bruchstücken abgetaner Grabsteine und schaute über den Kirchhof hinüber nach den gleichen Abendwolken, die Ottheinrichs Augen aufsuchten, so oft, er über Veronika am Fenster stand.
Das Licht des Tages verglomm, die Schatten der Bäume wurden matt und flossen ineinander, aus dem Boden stieg die Dämmerung, und der Himmel wurde grau. Ein frischer Wind erhob sich, es flüsterte in den Trauerweiden, und die Wipfel der Ulmen rauschten feierlich. Eine Amsel fing ihr Lied an, am anderen Ende des Friedhofs, und dicht neben dem lautlos wartenden Mädchen antwortete ein Meislein mit seinem zarten, flinken Schlag. Veronika sah zu dem Baum empor, von dessen Gipfel es sein Sprüchlein sagte. Aber sie konnte den Vogel nicht sehen, es war zu düster geworden. Sie hörte, wie sich hoch oben zu ihren Häupten der Kurfürst räusperte, und wie das Fenster geschlossen wurde. Der Wind weht ihm in die Stube und bläst ihm die Kerze aus, dachte Veronika und faltete die Hände, denn die Abendglocke fing zu läuten an. Als sie ihr Gebet hergesagt hatte, läutete es noch immer.
Ob dies auch die Frühglocke ist? dachte sie und lauschte. Vielleicht! Der Abendstern ist ja auch der Morgenstern.
Der letzte Ton verklang, Amsel und Meise waren still geworden. Eine Peitsche knallte in der Ferne, aber man hörte kein Wagengerassel. Der Abendstern bekam Genossen weit über den Himmel hin, und sein silberner Glanz wurde gülden; unter die Büsche legte sich die Finsternis, und zwischen Himmel und Erde schwebte die Nacht.
»Jetzt ist es Zeit«, sagte Veronika. Sie erhob sich und ging über den Friedhof hinüber, an den Kränzen und Grabsteinen vorbei, unter den Bäumen hin bis in den entgegengesetzten Winkel. Hier erhob sich, zwischen die Mauern gebaut, das kleine steinerne Häuschen, worin die Geräte des Friedhofs aufbewahrt wurden. Veronika wußte Bescheid. Des Totengräbers verstorbenes Töchterlein, war es nicht ihre liebste Gespielin gewesen? Sie wußte, wie man das Türchen öffnete. Gleich vornen rechter Hand mußte das Leiterchen sein.
Da war es nicht. »Das ist eine Tragbahre, was da an die Mauer hinaufgestellt ist. Aber daneben, hier eine Sprosse, hier eine Sprosse, der eine Leiterbaum, der andere. Nur heraus mit dir, was auch da übereinander purzeln mag! Das bringen wir später wieder in Ordnung. Komm, Ding!«
Sie hing das Leiterchen auf die linke Schulter und ging auf demselben Weg nach ihrem Winkel zurück.
»O weh!« Ihre Leiter war in der Finsternis an ein Kreuz gestoßen. »Da drunten liegt der alte Gerichtsweibel. Sei mir nicht böse, es ist nicht gern geschehen!
Was webt hinter mir her? Sei nicht böse, guter alter Nikolaus! Ich bin die Veronika, die dir einmal deinen Weibelstock aus dem Stadtgraben geholt hat, als du betrunken warst. Du hörst es ja. Ich hab' es nicht gern getan. Gott sei Dank! Ich greife die Kirchenmauer an, mit beiden Händen. Alle guten Geister ...«
Veronika verlor für einen Augenblick beinahe alle Besinnung. Ihr war, als müßte sie sich wieder auf die Erde werfen, wie dort an der Treppe, als der Kurfürst so schweren Schrittes herunterkam. Sie fühlte sich so schwach, selbst zu handeln. Aber endlich atmete sie wieder auf. Die Leiter hatte sie neben sich an die Kirchhofsmauer gelehnt und schaute nun in die Höhe. Dort oben der schwarze Schlitz, das war das Fenster, durch das sie mit ihrer verstorbenen Gespielin mehr als ein dutzendmal in die Kirche gestiegen war, zuerst aus Neugier, um all die feierlichen Dinge zu begucken und zu betasten, und später aus lüsternem Verlangen nach einem Schläfchen auf den Kissen des herrschaftlichen Gestühles. Als sie das letztemal hier hereingestiegen waren, holte sich ihre Freundin die tödliche Krankheit. Denn sie war vorher auf dem hohen Fliederbaum gesessen und hatte die duftenden weißen Blütenbüschel heruntergeworfen; da hatte ihr die Sonne auf die Schläfe gebrannt, und drinnen in der Kirche war es dumpf und kalt wie in einem Keller. Wenn du noch lebtest, Margarete, so wären wir auch jetzt zu zweit!
Veronika stellte die Leiter an und stieg hinauf. Ein leiser Druck mit dem Daumen, und der Fensterflügel sprang aus der Spannung und glitt nach innen. Ein kühler Hauch wehte aus der schwarzen Finsternis, und ein leiser klirrender Aufschlag zeigte an, daß sich die Scheiben an die Mauer lehnten.
Ehe Veronika durch den Spalt stieg, wandte sie sich um. Der Mond mußte aufgegangen sein, denn der Kirchhof lag in weichem Dämmerlicht. Veronikas Augen suchten das Kreuz ihrer Freundin. Dort vornen leuchtete es unter dem Fliederbaum, aus dessen Krone an jenem Maientag des Totengräbers Tochter die Blumen heruntergeworfen hatte auf ihr eigenes künftiges Grab. »Hilf mir, Grete«, flüsterte Veronika. »Halte hier Wacht und wehre die anderen ab, wenn sie mir nachwollen!« Und dann stieg sie beherzt durch das Fenster in die Finsternis.
Sie kauerte eine kurze Weile auf dem Gesims der breiten Fensternische, dann drehte sie sich um, hielt sich mit der rechten Hand an dem zitternden Fensterflügel, mit der anderen Hand faßte sie das Fensterkreuz, und nun ließ sie sich langsam in die Kirche hinab. Ihre Fußspitzen kamen auf die Holzlehne des Gestühls zu stehen, mit dem die Innenseite der Chormauer bekleidet war. Von hier stieg sie auf das Bankbrett hinunter, und im nächsten Augenblick stand sie auf den steinernen Platten der Kirche. Ein matter Lichtstreifen fiel von einem Fenster des Langhauses schief durch die Kirche und streifte eine Ecke des Altars. Da vornen links über dem vorderen Schloßhof mußte der Mond stehen. Er wird mir droben leuchten, dachte Veronika und ging getrost an dem Altar vorbei, die zwei Stufen hinab in das Schiff der Kirche. An der vordersten Frauenbank vorüber trat sie in den schwarzen Schatten und erreichte die hölzerne Stiege, die hinauf auf die Empore führte. Die unterste Stufe knarrte unter ihrem Fuß, aber die folgenden verhielten sich still, und bald stand Veronika vor der Türe, die zu dem Kirchenstuhl der kurfürstlichen Herrschaft führte. Die Türe war angelehnt und öffnete sich lautlos. Veronika trat ein und ging auf den Zehen. So hatten die beiden Mädchen immer getan, wenn sie hier hereingeschlüpft waren. Im Vorübergehen streichelte sie über den Samt, auf dem Margretlein gelegen hatte, als sie mit gierigen Zügen den Tod einschlürfte. Hier hatte die Bank ein Ende. Veronika stand still. Zu ihrer linken Hand war die eichene Tür, die in die Gemächer des Schlosses führte. Hinter dieser Türe weilte der Mann, der Leben und Tod des armen Gesellen in seiner Hand hielt. Ob er wohl noch auf und ab wanderte? Veronika lauschte. Dann fiel ihr ein, daß die Türe sehr dick sei und dahinter wohl noch erst manches andere komme, und sie ging weiter. Am Ende des kurfürstlichen Stuhles kam wieder eine Türe, die war in der Falle, aber unverschlossen. Hindurch! Veronika ging zwischen der Mauer und der hintersten Reihe der Männerbänke hin. Als sie an dem Fenster vorüberkam, durch das der Lichtstreifen in die Kirche fiel, blieb sie stehen und schaute hinaus. Über dem gegenüberliegenden Schloßflügel stand der Mond. Der Kies auf dem Hofe leuchtete wie Silber. Morgen früh, wenn der Mond über den Turm gewandert ist und wenn statt seiner Scheibe der Morgenstern über den Giebel schaut, wird da drunten auf dem hellen Kies der Mann stehen, dem ihr Leben gehörte, seitdem er sie im Arme gehalten hatte, und wenn die Frühglocke ausgeläutet hat, dann werden sich drei glimmende Lunten erheben, und drei Schüsse werden krachen. Aber die Frühglocke soll nicht ausläuten! Sie soll gar nicht läuten! Sie läutet nicht!
Veronika preßte die Lippen aufeinander und ballte die kleinen Fäuste. Dann ging sie weiter. Sie kam an eine niedere eiserne Türe, die in den Turm führte. Sie wußte, daß diese durch einen Riegel verschlossen war. Sie tastete hinauf und hinunter. Da war der Riegel nicht. Aber hier zur Seite war er. Erst beim dritten Versuch lockerte er sich, und nach einem weiteren tüchtigen Druck schob er sich zurück. Die Türe ging nach innen. Ein scharfer Luftzug wehte aus dem Turm. Veronika trat in die Wendeltreppe und stand im hellen Lichte des Mondscheines, der durch die offene Luke zur linken Hand in den Turm fiel. Eilig stieg Veronika in die Höhe, jetzt in die Finsternis hinein, und dann wieder in das Licht hinaus. Der Wind war heftiger geworden, er wehte von Westen her. Wenn das Mondlicht aufhörte, dann kam der scharfe Wind und wehte an ihr hinunter. Des wurde sie getrost. »Ich bin nicht allein«, sagte sie zu sich. »Im Winde fürcht' ich mich nicht, der kommt vom Walde her, und der Mondschein ist mein Kamerad, der hilft mir.«
Jetzt stand sie droben auf dem obersten Stockwerk des Turmes. Hier war es stockfinster, denn die hölzernen Läden waren geschlossen. Sie drückte die Augen zu und legte über die Brauen die Hand. So stand sie eine Weile. Dann öffnete sie plötzlich die Augen. Aber das Feuer, das vor ihnen glühte, kam aus ihrem Blut; es war rings um sie her so schwarz wie vorhin. Nun tastete sie nach der Wand. Hier war die Wand, sie griff sich feucht und schimmlig an. Vorsichtig ging sie an der Wand hin, mit dem Fuße voraustastend. Jetzt kam sie an einen Fensterladen. Er war fest in die Nische gerammt und gab nicht nach, wie sie auch daran drückte. In Gottes Namen weiter! Grete! Grete! – Wieder an der Wand hin; puh, wie mußten die Hände aussehen! Sie rochen nach Moder und Spinnweben. Da stieß sie mit dem Fuß an einen Balken. Sie tastete mit den Händen. Hier ging die letzte Stiege, eine Leiter, hinauf zu den Glocken. Hinauf, hinauf! Im Steigen wandte sie sich um und schaute hinab, und nun sah sie doch unten einen bleichen Schimmer, der kam von der Wendeltreppe herein. Also dort war der Ausgang, wenn sie hinunter wollte; aber auf dem geraden Weg mochten Löcher sein, darum nur hübsch wieder an der Wand herum! Aber jetzt hinauf, hinauf! Holla! Sie stieß den Kopf an etwas Hartes. Was ist denn das? Ein Brett breit über ihr, das ist die Falltüre! Sie wird doch nicht geschlossen sein! Sie stemmte ihre kleinen Hände hinauf und drückte. Das Brett gab nach. Ein Lichtstreifen glänzte vor ihr. Er wurde zum wachsenden Keil, zum flutenden Strom. Immer geringer wurde der Widerstand des Brettes, und nun öffnete es sich selber und legte sich hinten hinüber. Sie trat hinaus in die lichte Höhe. Der Nachthimmel schaute hoch herein. Dort drüben blickten die Sterne, und hier stand der Mond, und in seinem lieben Lichte schimmerten die Glocken! Die Glocken! Ihr Herz frohlockte. Drei sind es. Sie hängen nebeneinander, in der Mitte die große, zu ihren Seiten die kleinen. Welches ist die Frühglocke? Ist es nicht die eine, so ist's die andere; darum darf keine von euch läuten! Zuerst mußt du stumm werden, du leuchtendes niedliches Ding!
Veronika ging auf der festen Bahn, die den Wänden entlang lief, bis sie neben dem Glöckchen stand. Sie griff hinein in das Gebälk und streichelte das Erz, dann bog sie ihr Köpfchen zwischen die Balken und drückte die Lippen auf das kalte Rund. »Sei lieb und gut und folgsam!« schmeichelte sie. »Ich will dich auch mit Blumen schmücken!« Dann bückte sie sich und kroch zwischen der Balkengabel hindurch unter die Glocke. Sie faßte festen Fuß auf dem schwanken Brett und richtete sich auf. »Hier ist der Klöppel, der muß heraus und fort. Wer hätte gedacht, daß er so schwer sei? Und doch, er läßt sich lupfen. Laß doch sehen, wie er eingehängt ist!«
Veronika spürte mit der Hand. »Hier ist er hineingekommen, und hier muß er auch wieder heraus, und nun sei vernünftig!«
Sie faßte den Schlegel mit beiden Händen und hob ihn und ließ seine Öse hin und wieder spielen, hinauf und hinab. Fast hätte sie vor Freuden aufgeschrien: sie hielt den Klöppel in ihren Armen. Sie ließ ihn hinuntergleiten bis an die Brust und drückte ihn ans Herz, wie wenn er ein Kindlein wäre und sie dessen Mutter. Dann schob sie ihn vorsichtig durch die Balken auf den festen Boden und schlüpfte nach. Als sie draußen stand im hellen Schein des Mondes, überlegte sie, wo sie die Puppe bergen solle. Einen Augenblick dachte sie daran, den Schwengel hinunterzuwerfen in den Friedhof. Aber da fiel er vielleicht auf einen Stein, und der laute Schall konnte sie verraten. Also verstecken! Aber wohin? Unter die Treppe? Aber wenn sie mit Lichtern heraufkamen und suchten, mußten sie ihn finden. Da fiel ihr der Herrschaftsstuhl des Kurfürsten ein. Darinnen stand eine lange gepolsterte Fußbank, unter die wollte sie den Klöppel legen; denn dort würde ihn niemand so bald suchen.
Sie hob ihn vom Boden auf und ging nun den Weg zurück, den sie gegangen war. Sie konnte rasch gehen, denn das Licht begleitete sie bis zur eisernen Türe, die zur Empore führte. Sie ließ diese Türe hinter sich offenstehen und eilte zwischen den Bänken hin in den kurfürstlichen Kirchenstuhl.
Hier wußte sie auch in der Finsternis Bescheid. Sie bückte sich und suchte die Fußbank. Das erste, was sie ergriff, war der wattierte Fußsack der seligen Pfalzgräfin. Hinter dem war die gepolsterte Bank. Sie ließ das lange Ding nach vornen umkippen, legte den Glockenschwengel dahinter, richtete die Fußbank wieder auf und eilte hurtig und vergnügt den Weg zurück, die Schnecke hinauf, über den Boden hin zur Leiter und empor auf den Glockenstuhl.
»Jetzt kommt der Kamerad an die Reihe«, sagte sie und ging auf die andere kleine Glocke zu. Sie schlüpfte unter die eherne Haube, hob den Schlegel versuchsweise in die Höhe und suchte dann mit dem Finger nach der Öse und dem Haken. Aber o weh! Hier war es nicht möglich, dem Munde seine Zunge zu rauben. Sie war angewachsen, das eherne Gelenk schloß sich rund und heil, und die suchenden Fingerlein des Kindes fanden nirgends einen Einlaß.
Ihre Hände fielen auf ihr Schürzlein. Bekümmert schaute sie zu dem Mond empor, wie wenn der ihr raten und helfen müßte. Was sollte sie tun? Das Glockenseil abschneiden? Im Gerätehäuschen des Totengräbers ein Grabscheit holen und die Glockenseile abschneiden, alle! Aber dann würde man denken, es habe sie einer gestohlen, der Glöckner würde ein anderes herbeibringen, und nach einer Viertelstunde Aufschub läutete die Glocke doch! »Was soll ich tun, du guter treuer Mond?«
Der leuchtete selbstzufrieden herunter, wie wenn er der Himmelsglockenschwengel wäre und bei sich dächte: Ich hänge gut; mich hebt keiner aus. Da kam eine Wolke herangezogen über das Kirchendach her und zog unter dem Monde hin, und für eine Weile war er wie eingewickelt in ein warmes wattiertes Futteral. Da rief Veronika aus: »Der kurfürstliche Fußsack!« und mit fröhlichem Lachen schaute sie zum Mond hinauf, der wieder blitzblank geworden war. »Danke dir, danke dir, lieber Freund!«
»Zuerst in die Sakristei hinunter und Schnüre gesucht und alles heraufgeschleppt, was an Teppichen vorhanden ist!«
Sie lief die Stiegen hinab, die Empore hin. Im Vorübergehen haschte sie den Fußsack auf und schloß ihn dahinlaufend an ihr Herz. Wie groß und dick und weit, ein Familienfußsack für die ganze pfalzgräfliche Sippschaft; und die bayrischen Vettern hatten auch noch Platz darinnen. Sie mußte ihn zusammendrücken, wenn sie ihre Arme schließen wollte.
Im fröhlichen Laufen stolperte sie über die Stufen, die zum Chor hinaufführten. Aber sie fiel auf den Fußsack, warm und weich. Nun stand sie hochaufatmend vor dem Altare. Wenn ich nur auch alles andere finde! Zur linken Hand war die vergitterte Sakristei. Sie klinkte auf. Die Tür tat einigen Widerstand und wich unwillig mit grämlichen Knarren. Da lief ihr ein Schauder über den Rücken. Zum ersten Male fürchtete sie sich. Es war ihr, wie wenn sich vor ihr eine dunkle Gestalt erhebe. So pflegte der Pfarrer aufzustehen von seinem Stuhl, wenn er sich anschickte, die Kanzel zu besteigen. Veronika biß die Zähne aufeinander und ging vorwärts. Es war nichts, natürlich, es war nichts! Hier steht das Schränkchen, worinnen der Küster seine Schnüre aufbewahrt.
Wie oft hatte Veronika mit ihrer verstorbenen Gespielin aus diesem Kästchen Kirchengut geraubt, wenn sie Kränze wanden und ihnen der Bindfaden ausgegangen war! Über dem Schränkchen hängt der eingerahmte Spruch Lutheri, und quer über den drei letzten Zeilen liegt unter dem Glase der tote Tausendfüßler, den sie oft mit Schauder und Abscheu betrachtet hatten. Nicht daran denken! Nicht daran denken! Er ist tot und liegt unter dem Glas. Auf mit der Tür! Hier liegen die Schnüre und Stricke, ein ganzer großer Knäuel! Der wird in den Fußsack gestopft, so trag' ich sie am ersten! Hier ist ein Tuch, das kann ich auch brauchen, und den Bodenteppich nehm' ich mit. Und was ist denn das? O herrlich, ein ledernes Futteral! Auf damit! Ein Kelch ist drinnen. Den stellen wir auf den Boden, und das Futteral nehmen wir mit. Das geht auch noch in den Fußsack hinein – und nun die Tücher – das eine, das andere. Hab' ich alles? Ja. Jetzt auf und davon.
Sie stieß mit der Stirn an das Gitter der Sakristei und konnte die Tür nicht gleich finden. Eine jähe Angst kam über sie. Hinaus und schnell auf die Empore! »In den Männerbänken bin ich sicher. Aber neben mir, draußen in der Luft, geht der Pfarrer, der will mir den Weg abschneiden, und der Tausendfüßler, riesengroß, liegt dort im finstern Gang!«
»Auf die Bank hinauf! Da scheint der Mond hin, da geh' ich sicher. Aber jetzt hat die Bank ein Ende, und ich muß hinunter. Dort ist ein Fleck Mondlicht. Da schau ich hinein und steig derweil auf den Boden. Und nun zur Tür. Gottlob! Die Treppe hinauf! Rasch, rasch! Sie huschen und streichen mir nach! Dort hockt etwas im Winkel und atmet mich an. Es atmet wie ein Mensch, und die glühenden Augen! Eine Eule ist's. Vorbei! Vorbei! Jetzt noch die letzte Stiege hinauf! Dann ist das Licht da, und die Glocken sind da! O weh, meine Tücher flattern hinter mir her! Da können sie mich greifen. Aber sie greifen mich nicht. Grete, Grete, hilf mir! Jetzt noch fünf, noch drei Stufen! Aber ich kann nimmer! Gottlob, das ist die letzte Pforte – die Falltür ist auf; ich halt mich an ihr. Was steigst du in die Höhe? Nicht weiter! Willst du mich nicht hinauflassen, du wüstes Brett? Ach, ich hab' dich ja selbst in die Höhe gezogen, und nun vollends hinauf! Gott sei Lob und Dank! – Droben!«
Veronika mußte sich in die Knie niederlassen, so war sie erschöpft. Ihr Herz stürmte. Aber sie faßte sich, denn sie hatte, was sie brauchte. Doch ward sie der Angst des Schauderns nimmer los. Die Schrecken waren aufgerührt und gingen um sie her. Der tröstliche Mondschein war nimmer da. Die goldene Scheibe stand über dem Kirchturm, und von allen Seiten drang gleichmäßig die dämmerige, webende Nacht herein, und nun erhob sich der Wind und sauste durch den Turm und fegte hinunter durch die offenen Türen in die Kirche. Veronika lauschte seinem Toben, Stöhnen und Ächzen. Sie hörte ihn durch die Tür fahren. Ein Fenster schlug auf und zu. Das war das Fenster, durch das sie eingestiegen war. Es kam ihr zum Bewußtsein, daß der Weg zu ihr offen war von all den Gräbern her. Sie hätte gern die Falltür, die sich in der Schwebe hielt, vollends zugemacht. Aber sie fürchtete sich, von dem Fleck zu gehen, auf dem sie kauerte. Der Sturm wuchs und wuchs, zerrissenes Gewölk fuhr über den Himmel hin. Der Wind fuhr herauf und hinab; es zitterte, rasselte, rüttelte über ihr. Da ein schmetterndes Krachen! Die eiserne Tür, die vom Turm auf die Empore der Kirche führt, ist zugeschlagen worden. Gleich darauf schwankte die Falltür hin und her und senkte sich langsam und schloß sich mit einem dumpfen Schlag.
»Das hast du getan, Gretlein!« sagte Veronika vor sich hin. »Du hast die Türen hinter mir zugemacht und stehst Wache. Nun kann niemand zu mir kommen.«
Sie war mit einem Male still und getrost geworden. »Jetzt kann ich an die Arbeit gehen. Leuchtet mir auch der Mond nimmer, so ist das Sternenlicht da, und die Nacht ist selber lauter Schimmer und Schein bis in den Turm herein und bis unter die Glocken.«
Und nun ging sie frisch an die Arbeit. »Zuerst kommt der Strumpf«, sagte sie und zog dem Schwengel das Lederfutteral an. »Jetzt der Strumpfbendel!« Sie schnürte das Leder fest. »Jetzt kommt der warme Unterrock!« Sie stülpte den Fußsack um den Schwengel und umwickelte ihn mit straff gespannten Stricken, »Und nun das Staatskleid!« Sie hüllte das weiße, wollene Tuch um den Fußsack, nachdem sie es dreimal zusammengelegt hatte. Sie schnürte es fest und band die Enden der Schnur oben an den Haken, worinnen der Klöppel hing. »Zum Schluß noch der Mantel!« Sie packte das unförmliche Ding, das die Glocke schier anfüllte, in den Bodenteppich, den sie mit den derbsten Stricken umwickelte und an der Öse des Schwengels befestigte. Nachdem sie ihr Werk wieder und wieder geprüft und es hier und dort verbessert hatte, trat sie unter dem Schwengel hervor, faßte den Rand des Erzes und bewegte die Glocke, zuerst nur schwach, dann immer stärker, und schließlich aus Leibeskräften. Die Glocke schwebte lautlos auf und nieder, und als sie ausgeschwungen hatte und stille stand, war keine Schnur verrückt.
Aber all dieser Arbeit war Stunde um Stunde verronnen. Der Mond war westlich vom Turmdach wieder zum Vorschein gekommen und leuchtete hell und klar durch die Luken, Fenster und Bogen herein. Der Sturm hatte sich gelegt, der Himmel war wolkenlos. Die Sterne leuchteten in tiefem Glanz, und gegen Osten über dem Fichtenwald brütete eine leise Helle. Aus der unteren Stadt klang der Wächterruf: »Wohl um die drei!«
»Jetzt kommt das Schwerste, die große Glocke!« sagte Veronika vor sich hin. Sie raffte den Rest der Stricke vom Boden auf und kletterte durch das Gebälk unter die mittlere Glocke, die die größte und die oberste war. Der Schwengel hing nicht so hoch, daß sie ihn nicht in beide Hände hätte fassen können. Aber wie sie nun versuchte, ihn zu heben und zu lüpfen, rückte er kaum ein wenig in die Höhe. Sie stellte sich auf die Zehen und stemmte sich mit aller Kraft wider das wuchtende Gehänge. Ein wenig weiter hinauf konnte sie's schieben. Aber spielen und suchen konnte sie nicht, und das schwere Gewicht glitt zwischen ihren Händen hinab und hing in seiner Ruhe. So geschah es wieder und wieder. Endlich ließ sie die vergebliche Arbeit sein.
Sie kletterte unter der Glocke hervor nach dem hohen westlichen Schalloch hinüber und schaute verzagt zum Mond hinauf.
»Es ist so licht und still dort droben, so feierlich; der liebe Gott sitzt hoch über dem Mond und schaut auf mich herunter. Du weißt alles, du weißt auch, was jetzt zu tun ist.«
Ratlos schaute sie an der Glocke in die Höhe. »Wenn ich dort oben das Seil losbinden könnte, dann bände ich's an eine von den stummen Glocken. Aber wie komme ich dort hinauf?«
Sie schüttelte verzagt den Kopf, schlüpfte wieder in die Mitte des Glockenstuhls unter den trutzigen Schwengel, kauerte sich um den Balken und schaute sinnend und grübelnd in die schwarze Höhle der Glocke hinauf.
In der Unterstadt ertönte ein Hahnenschrei. Und bald darauf kam der zweite und dritte. Von Gäßlein zu Gäßlein, hinter dem Marktplatz her, an der Bleiche hinauf – bald glockenhell, bald heiser, bald im Fistelton und dann melancholisch tief – ein Krähen ums andere. Das war unserer, dachte Veronika bei einem dieser Hahnenschreie, und sie seufzte aus der Tiefe. Wie mochte sich ihr Vater abängstigen! Ob er sie wohl suchte?
Sie schaute zu den Sternen hinauf. Sie waren blaß geworden. Über dem Fichtenwald aber quoll es hellgelb herauf, und die kleinen hohen Wölklein über dem Schlosse bekamen rosigen Schein. Jetzt hörte man Stimmen unten in der Stadt, Schritte wurden laut und verklangen. Nach Veronikas Schätzung mußte es bald vier Uhr sein. Dann kam der Küster und läutete!
Sie schaute zum Schwengel empor und dachte: Wenn ich an ihm hinaufspringe und mich festhalte und immer weiter hinaufgreife, bis ich ganz in der Glocke hänge?
Sie stand auf, stellte sich auf die Zehen und faßte den Klöppel mit beiden Händen dicht über dem Knopf und brachte sich ins Schaukeln. Aber ihre Hände rutschten hinab, und sie fühlte, daß, wenn der Schwung weiter hinaufginge, sie alsbald hinausgeschleudert würde. Was wäre damit gewonnen? Die dort unten würden's nicht einmal merken, und die drei Schüsse krachten doch.
Sie suchte mit ihren Fußspitzen nach dem Balken und ließ sich hinab. Als sie festen Boden gefaßt hatte, hielt sie noch eine Weile den Glockenschwengel, denn es schwindelte ihr, und sie fürchtete sich, auf den Füßen zu stehen. Sie mußte erst die Augen schließen, dann ließ sie los und hielt sich mit ausgebreiteten Armen mühsam im Gleichgewicht. Unter der Glocke hervor! Was sollte sie hier? Ihre Knie wankten. Sie mußte sich an den Balken und Dachsparren halten, durch die sie leicht und sicher hereingeschlüpft war. Als es galt, den letzten Schritt über die freie Luft zu tun, hielt sie sich an dem Glockenseil, das zum Bügel der großen Glocke hinaufführte. Das Seil senkte sich und die Glocke schwang sich, und schiergar hätte der Klöppel angeschlagen. Jetzt stand sie auf sicherem Boden, an dem Schalloch, das nach Süden schaute. Sie konnte hier in die Stadt hinuntersehen. Aber sie war auch in Gefahr, bemerkt zu werden. Darum ließ sie sich auf die Knie nieder, legte die Arme auf das mit Blech beschlagene Gesims und ihren Kopf auf die Arme. So war denn alles vergeblich? Was tat sie noch hier oben? »Ich will heim zu meinem Vater!«
Und doch! Es war ihr, als dürfe sie nicht von der Stelle. Hier war der Mund, der dem Tode rief; noch hatte er sich nicht aufgetan, und vielleicht gelang es ihr doch, ihn zu verschließen.
Aber schon hörte sie den Schritt der Soldaten. Sie lugte hinaus. Vier Männer marschierten die Straße herauf, am Kirchturm vorbei. Auf dem Schloßplatz machten sie halt, und jetzt brachten sie den Verurteilten. Er ging neben dem Pfarrer, hinter ihm und vor ihm je zwei Stadtknechte. Veronika ging an das nächste Fenster und spähte auf den Platz hinunter. Sabinus stand mit geöffneter Brust barhäuptig mitten auf dem Platz; die vier Soldaten hielten fünf Schritte vor ihm. Sie hatten ihre Musketen abgestellt und hielten die brennenden Lunten in der Hand.
Und jetzt hörte sie den schlurfenden Schritt des Glöckners. Der Schlüssel raschelte im Schloß, die Turmtür knarrte, und gleich darauf – Veronika sah in höchster Spannung von einer Glocke zur anderen – fing unter den dreien die an zu schwingen, deren Schlegel verhüllt war. Sie schwang sich immer höher, immer mächtiger, aber kein Ton kam aus ihrem Mund. Der Schwung ließ nach; sie kam allmählich zur Ruhe. Da fing die andere stumme Glocke an, sich auf und auf zu bäumen, die, deren Schwengel ausgehoben war; aber nur eine kleine Zeit, dann wurden die Schwingungen kürzer und matter und hörten auf. Die Kirchtür wurde auf und zu geschlagen, einzelne Rufe wurden laut; ein aufgeregtes Hinundherrennen. Eine Weile war alles still gewesen, dann aber fing die mittlere Glocke an, sich zu schwingen und alsbald zu tönen. Veronika hörte einen Kommandoruf. Sie schaute hinaus und sah die drei Gewehre im Anschlag und die drei glühenden Lunten. In Todesangst lief sie vor die Glocke und stand mit gerungenen Händen neben dem auf und nieder raffelnden Seil, und die dröhnenden Schläge rauschten um sie. Sie schaute die Glocke an, die erbarmungslose, wie sie auf und nieder, auf und nieder fuhr. Jetzt wurden die Schläge matter, die Schwingungen niedriger. Es läutete aus. Sie hörte die Tür gehen. Der Glöckner hatte das Seil gelassen, er will zuschauen, wie der arme Mann niedergeschossen wird. Jetzt noch ein Schlag und noch ein Schlag; wenn der letzte verklungen ist, krachen die Schüsse.
»Nein!« rief Veronika frohlockend, und sie hielt das Seil in den Händen und zog und zog, daß sich die Glocke wieder fröhlich schwang und der Glockenton in den Morgen hinausrauschte. »Wenn es ausgeläutet hat, wird Feuer gerufen. Aber es soll nicht ausläuten. Es läutet nicht aus!«
Und Veronika zog an dem Seil und zog – bald mit der Rechten, bald mit der Linken, dann wieder mit beiden Händen. Die Leute rannten die Gasse herauf. In der Ferne riefen sie: »Feurio! Es brennt!«
Ein Auflauf geschah auf dem Platz, Stimmengewirr und einzelne Rufe rings um den Turm. Veronika läutete und läutete.
In dem gleichen Augenblick, wo Veronika vor der eichenen Pforte gestanden war, die aus des Kurfürsten Kirchenstuhl in seine Gemächer führte, stand Ottheinrich auf der anderen Seite dieser Tür. Sein ruheloses Umherwandeln hatte ihn dorthin geführt. Er betrachtete flüchtig das Schnitzwerk und fragte seinen getreuen Helmstatt, der ihm wie sein Schatten folgte: »Phips, wo geht's da hin?«
»In deinen Kirchenstuhl, Otte.«
Wenn die Freunde allein waren, duzten sie sich.
Der Kurfürst wandte der Tür gleichgültig den Rücken und wanderte über den Gang hinüber in sein Schlafzimmer, worinnen die Wachskerzen brannten, und an dem breiten Lager vorbei in das hellerleuchtete Wohnzimmer.
Als die beiden Freunde allein waren, seufzte Ottheinrich aus tiefster Brust und warf sich auf das Polster.
»Komm, Phips, setz dich zu mir! Warum fragst du mich nicht?«
»Weil du selber anfängst, wenn dir's ums Reden ist.«
»Ach, Philipp! – Sieh, wenn ich über mein Leben nachdenke, dann spinnen sich meine Gedanken eine Kette von lauter Warum und Warum. Warum ist jenes so ergangen, und warum hat sich dies so getroffen? Hängt diese Kette an den Sternen, so beuge ich mich stumm; hält sie aber unser Herrgott in der Hand, dann klettern meine Gedanken an der Kette hinauf, und ein bitterböses letztes Warum setzt sich ihm auf die Finger und schaut ihn finster an. Sieh, Phips, vor siebenundzwanzig Jahren habe ich einer edeln Frau, die mich liebhatte, das größte Leid angetan, ohne bösen Willen, mit gutem Gewissen. Sie hatte mir vor allen anderen Nürnbergerinnen gefallen, und als ich einmal nach einer lustigen Schlittenfahrt sie aus dem Pelze hob und mir mein Schlittenrecht nahm, da küßte sie mich wieder, und ich merkte wohl, daß sie gern in meinen Armen lag. Ich aber hatte damals schon dem Bürgermeister von Nürnberg versprochen, um sie zu werben für seinen Sohn, und ich tat's am selben Tag. Den Blick, mit dem sie mich anschaute, hab' ich nie wieder vergessen. Sie wandte mir den Rücken und lachte hellauf, dann ging sie auf den Bürgermeister zu und sagte: ›Ja, ja – freilich, freilich!‹ Aber in derselben Nacht hat sie zerstoßenes Glas getrunken und wurde todkrank.«
»Ist sie gestorben?«
»Sie genas und hat des Bürgermeisters Sohn geehelicht.«
»Nun, so ist ja alles gut!«
»Nein, Phips, es ist nicht alles gut. Heute habe ich wieder in ihre Augen geschaut. Der morgen früh erschossen wird, ist ihr Sohn. So muß ich zum zweitenmal auf ihr Herz treten, ohne bösen Willen, mit gutem Gewissen.«
Der Kurfürst trat an das Fenster und schaute zu den Sternen hinauf. »Habt ihr's so gefügt, so beug' ich mich.«
»Otte«, sagte der Freund und legte ihm die Hand auf die Schulter, »du bist hierhergekommen, um ihn zu retten.«
Da wandte sich Ottheinrich langsam um und sagte ernst: »Keineswegs. Wenn morgen die Frühglocke ausgeläutet hat, erschießen ihn meine Musketiere.
Geh nun zu Bett, Phips. Ich will zu schlafen versuchen. Gute Nacht!« –
Als das Dämmerlicht des ersten Morgens durch die Scheiben fiel, erhob sich der Kurfürst von seinem Lager, hüllte sich in seine Kleider und ging in das Speisezimmer hinab. Er öffnete das Fenster und schaute hinaus.
»Wen hast du ausgesucht, Peter?«
»Den Johann Fries, den Christoph Gißler und den Fritz Klormann.«
»So ist's recht. Lauter gute Heidelberger. Macht eure Sache brav, Leute! Denkt euch, es wäre ein Soldat. Ein Tropf, wer nicht ins Herz trifft!«
Dann suchten seine Augen den Gefangenen, er nickte ihm zu und grüßte mit der Hand.
Jetzt kam der Glöckner über den Kies herbei. Sein Schlüssel rasselte im Schloß, die Kirchtür tat sich auf. Ottheinrich wandte dem Fenster den Rücken und faltete die Hände.
Eine geraume Weile verging. Kein Glockenton ließ sich hören. Der Fürst wandte sich um und schaute hinaus. Die Soldaten hatten das Gewehr an sich gezogen und hielten die Lunten bereit. Der Korporal, der Gefangene, die Neugierigen, die zufällig des Weges gekommen und stehen geblieben waren, alle schauten nach der offenen Türe des Turmes. Da sprang der Glöckner heraus mit entsetztem Angesicht und schrie: »Die Glocken sind verhext!«
Der Kurfürst rief ihn zu sich ans Fenster.
Mit schlotternden Knien stand der Mann vor ihm, und kaum brachte er die Worte heraus:
»Die Frühglocke tut nicht, und die Mittagsglocke auch nicht.«
»Warum denn nicht?«
»Das Seil ist in Ordnung, die Glocken schwingen, das spürt man, aber sie sind gebannt! Der Mann dort ist ein Hexenmeister.«
»Sind nur zwei Glocken da?«
»Nein, noch die Abendglocke.«
»So läutet mit dieser!« –
Gleich darauf fing die Glocke zu läuten an.
Der Kurfürst ging in die Stube zurück; in ihrer Mitte blieb er stehen und preßte sich die Hände auf die Augen.
Aber was ist das? Es hört ja nicht zu läuten auf! Was ist das für ein Gerenn' und Geschrei? Ist Feuer ausgebrochen?
Der Kurfürst eilte ans Fenster. Aus der Ferne tönten Feuerrufe; und doch war nirgends Rauch oder Flamme zu sehen. Aber vor dem Turm stand ein Haufen erregter, schreiender Menschen. In ihrer Mitte der Glöckner. Die Haare sträubten sich ihm auf dem Kopf und er heulte vor Entsetzen.
Der Kurfürst rief einen von diesen zu sich ans Fenster und fragte: »Was ist in dem Turme?«
»Das Glockenseil springt drinnen herum wie verrückt. Es ist kein Mensch im Turm. Die Glocke läutet von selber und hört nimmer auf.«
»So geht doch hinauf und schaut, wer droben ist!« rief der Kurfürst in die Menge und wiederholte dem Korporal seinen Befehl. Aber der alte Krieger schüttelte sich vor Grauen und sagte: »Daß mir der Teufel den Hals umdreht? Der Teufel läutet die Glocke.«
Aus der Menge aber, die mit jedem Augenblick anschwoll, trat ein Ratsherr ans Fenster, zog sein Barett und sagte flehentlich:
»Gnädiger Herr, wir bitten Euch, schicket den Mann dort aus unserer Stadt. Wir wollen ihm ein Zehrgeld geben. Er hat unsere Glocken verhext; wenn es so fortläutet, kommen unsere Weiber nieder, alle auf einmal, und wir Ratsherren verlieren den Verstand.«
Ottheinrich schaute nach dem Verurteilten hinüber. Der war allein in einem weiten Kreis. Männer, Frauen und Kinder standen um ihn herum und sahen ihn mit angstvollen Augen an. Der Kurfürst wartete, bis der Mann zu ihm herblickte, dann winkte er ihm mit den Augen und wandte sich ins Zimmer zurück. Philipp von Helmstatt war gerade eingetreten.
»Keiner hat das Herz, hinaufzugehen«, sagte er; »so will ich nachsehen.«
»Nein, Phips«, erwiderte Ottheinrich. »Du hast anderes zu tun. Laß zwei Pferde satteln, eines für dich und eines – du weißt, für wen. Pack ihm ein Bündel auf und tu so viel Geld hinein, als ein Edelmann braucht, nach Ungarn zu reisen. Laß Kleider für ihn richten. Und wenn du all dies angeordnet hast, dann schreib in meinem Namen ein Brieflein an unseren Freund, den edlen Grafen Niklas Zriny. Ich schick' ihm einen Mann, der soll bei ihm ein Held werden. Siegle mit meinem Petschaft!«
Kaum hatte Helmstatt das Zimmer verlassen, so trat Sabinus ein. Er verneigte sich tief.
»Wenn ich den Wink Eurer Kurfürstlichen Gnaden verstanden habe, habt Ihr mich gerufen. Verzeiht, daß ich unangemeldet eingetreten bin. Aber jeder weicht mit Grauen vor mir zurück.«
»Folgt mir!« sagte der Kurfürst.
Er führte den Mann in sein Gemach hinauf. Philipp saß am Tisch und schrieb.
»Hier bring' ich ihn«, sagte Ottheinrich. »Er soll hier auf mich warten.«
Dann ging er in sein Schlafzimmer und durch die entgegengesetzte Tür und über den dunkeln Gang bis zu der Pforte, die nach der Kirche führte. Er schob den Riegel zurück, öffnete und ging hindurch in den dämmerigen Fürstenstuhl der Kirche. Er warf einen Blick über die Brüstung hinunter, um sich zurechtzufinden, und ging dann auf den Turm zu. Die eiserne Tür öffnete sich leicht. Rasch stieg er die kleine Schnecke empor, und mit jedem Schritt klang das Geläute lauter. Als er in dem finsteren Raum angelangt war, rief er mit halblauter Stimme: »Ist jemand hier?«
Er lauschte. Das Seil rauschte auf und nieder, und droben klang die Glocke. Er ging dem Schalle nach und kam so geradeswegs auf die Stiege. Er kletterte hinauf und wartete eine Weile. Dann stieß er mit aller Kraft die Falltür zurück und stieg hinauf in den lichten Glockenstuhl.
»Remblem! Du bist es, Dirnlein?«
Veronika saß auf einem Balken in der Höhe. Sie hatte sich aus dem Neste ihrer Stricke eine Art von Steigbügel gemacht und hatte ihn an das Glockenseil gebunden. So viel Zeit hatte ihr zwischenhinein der eigene Schwung der Glocke gelassen, und nun konnte sie abwechselnd auch mit den Füßen läuten.
»Gnädiger Herr!« rief sie. »Gott schickt Euch mir!«
Dem Kurfürst wurde im Augenblick alles klar.
»Komm herunter, Kind!«
Veronika sprang herab und fing sofort mit den Händen zu läuten an.
Der Kurfürst ging vorsichtig auf dem Balken unter die eine der beiden Glocken und schaute hinauf.
»Wahrhaftig, du Dieb! Du hast den Schwengel ausgehängt. Wo hast du ihn hingebracht?«
»In Euerm Kirchenstuhl unter der Fußbank liegt er.«
»Du Schelm! Und wie ist es mit der anderen Glocke?«
Ottheinrich zwängte sich durch die Balken hindurch und schaute in die andere verstummte Glocke hinein. Als er den vermummten Glockenschwengel sah, brach er in ein fröhliches Lachen aus.
»Wann hast du denn das alles geschafft?«
»Heute nacht.«
Der Fürst arbeitete sich aus dem Gebälk heraus und schaute zum Schalloch hinaus.
»Um Gottes willen! Alles ist schwarz von Menschen. Die ganze Stadt ist auf den Beinen. Nun, Kleine – wie heißt du?«
»Höre, Veronika! Spring eilends hinunter und hol den Klöppel herauf. Ich löse dich derweilen ab.«
Das Mägdlein lächelte verschmitzt, und im Nu war sie verschwunden.
Und nun stellte sich Ottheinrich an das Seil. Er war ein kräftiger Mann, die Glocke klang noch mal so laut, und Wehgeschrei der Weiber erscholl von unten herauf.
Es dauerte nicht lange, da keuchte Veronika die Stiege herauf. Der Kurfürst schaute über die Schulter, ergriff das Seil mit der linken Hand und sagte:
»Flugs, hänge den Klöppel an seinen Platz.«
Veronika huschte wie ein Vögelchen durch das Gebälk, hob die eherne Keule in die Höhe, und nach kurzer Zeit sagte sie:
»So, jetzt hängt der Kerl.«
»Aber auch fest?«
»Ja, gerade wie vorher.«
»Und jetzt, geschwind, Veronika, mach hier den Strick vom Seile los. Leg ihn auf den Boden! Jetzt herunter mit dem Zeug aus der anderen Glocke! Du hast kein Messer bei dir? Hole meinen Dolch aus der Scheide!«
Veronika trat an den Fürsten heran und ergriff sein Messer. Als sie es in der Hand hielt, schaute sie den Fürsten mit sonderbaren Augen an und sagte: »Aber er bleibt am Leben?«
»Gewiß, gewiß! Nun eile dich!«
In fliegender Hast zerschnitt Veronika die Stricke und warf eines nach dem anderen dem Kurfürsten vor die Füße, den Bodenteppich, das Tuch und die anderen Dinge, zuletzt die Reste der Stricke.
»Was ist denn das für ein Untier?« fragte der Kurfürst und deutete mit der Fußspitze.
»Das ist Euer Kurfürstlichen Gnaden Fußsack. Ich hab' ihn von Eurem Kirchenstuhl heraufgeholt.«
Da wurde Ottheinrich von einem Lachkrampf befallen, so daß er das Seil loslassen mußte. Sofort sprang Veronika hinzu und läutete und läutete.
Der Kurfürst hatte sich gefaßt.
»Du sollst meine Schloßkastellanin werden. Aber laß mich an das Seil. Du hast anderes zu tun. Hast du alle diese Dinge aus der Kirche geholt?«
»Ja.«
»Tu alles wieder an seinen Platz und komm wieder her. Vergiß nichts! Hier ist noch ein Endchen Strick und dort das Lederfutteral! Hast du nun alles? Aber beeile dich, denn ich werde müde.«
Veronika sprang mit ihrem Pack die Treppe hinunter, und der Kurfürst läutete und läutete.
Der Schweiß rann ihm von der Stirn, und seine Hände brannten wie Feuer. Seufzend schaute er nach der Falltür und zählte von eins bis hundert und läutete und läutete.
»Die Hexe wird mich doch nicht im Stiche lassen?«
Da kam sie herauf mit fliegendem Atem und wogender Brust.
»Gott sei Dank! Wo hast du denn meinen Dolch? Daß wir den nicht vergessen! Steck ihn mir in die Scheide! Und jetzt wollen wir beide aus Leibeskräften der Glocke noch einen Schwung geben, daß sie von selber fortläutet, bis wir in der Kirche sind. Tu deine Händlein zwischen die meinen! Eins – und zwei – und drei! Jetzt fort!«
Die beiden ließen das Seil los und sprangen die Stiege hinab, Veronika voraus. Sie hatte den Kurfürsten an der Hand gefaßt und schaute im Springen, ob er sicher trete. Als sie beinahe unten waren, glitt er aus und polterte die letzten Stufen hinunter. »Es tut nichts! Weiter! Dorthin, wo das Helle ist! Aber leise, leise!«
Sie eilten, so schnell und so leis sie konnten, die Wendeltreppe hinab.
»Läutet es noch?«
»Noch ein paar Schläge!«
»So, jetzt zur Tür hinein! Die Tür verriegelt! Horch! Kommen sie schon?«
»Ja, gnädiger Herr! Sie kommen.«
Sie lauschten noch eine Weile. Fußgetrapp und Stimmengewirr kam von unten herauf.
»Jetzt gehen sie vorüber!« sagte Veronika.
»Komm, Kind!«
Sie eilten leis und vorsichtig zwischen den Männerbänken hin und in den fürstlichen Stuhl.
»Hier hinein«, sagte Ottheinrich und wies auf die eichene Tür.
Er ließ die Dirne durch die Pforte schlüpfen, folgte nach und verschloß die Türe hinter sich.
»Warte hier im Gange, bis ich dich rufe! Wenn alles gelingt und wenn du schweigst, dann versprech' ich dir etwas!«
»Was denn, gnädiger Herr?«
»Wenn er glücklich aus dem Krieg zurückkommt, und wenn er sich gehalten hat wie ein braver Soldat, dann will ich für ihn bei dir werben.«
Veronika wurde blutrot. Sie schlug die Augen nieder und flüsterte: »Warum denn nicht gleich?«
»Weil er deiner würdig werden soll, Jungfer Kastellanin.«
»Ja, in den Türkenkrieg. Er reitet jetzt gleich in das Ungarland nach der Festung Szigeth. Dort weilt ein berühmter Held, Niklas Zriny. Das ist ein Freund von mir. Der wird jetzt sein Herr und Meister sein. Aber Abschied nehmen sollt ihr! Warte hier; ich rufe dich gleich!«
Ottheinrich ging in sein Schlafgemach und rief in das Nebenzimmer hinein: »Philipp!«
Der Getreue kam alsbald auf den Ruf.
»Gnädiger Herr, wie seht Ihr aus!«
»O Phips, ich bin müde, wie wenn ich ein Klafter Holz gehackt hätte. Aber ich bin überaus fröhlich! Heute mittag wollen wir miteinander in den Wald reiten. Da will ich dir etwas erzählen! Ist alles bereit?«
»Die Pferde sind gesattelt. Ich habe ihm die braune Stute gegeben. Die hält aus. Ein gehöriger Sack ist hinten aufgepackt. Hundert Dukaten sind hineingelegt. Und hier ist der Brief an Niklas Zriny.«
Ottheinrich überflog die Zeilen.
»So ist alles recht. Und er selber?«
Ein junger Landedelmann trat ein und küßte dem Kurfürsten die Hand.
Ottheinrich schaute ihm ernst in die Augen und sagte:
»Der Ritter von Helmstatt wird dich begleiten bis zur Grenze. Die ist zwei Stunden von hier. Und dann reite gegen den Feind des Reiches und der Christenheit. Du hast vieles gutzumachen! Werde ein wackerer Kriegsmann! – Noch eins!«
Ottheinrich ging in das Schlafzimmer und kam gleich darauf mit einem Kästchen zurück. Er öffnete es und holte einen Ring heraus.
»Nimm ihn mit und halt ihn hoch!
Und jetzt noch ein letztes! Veronika!«
Die Tür tat sich auf, und das Dirnlein trat herein, über und über errötend.
»Bedanke dich bei ihr! Sie ist's gewesen! Sie hat dir das Leben gerettet.«
»Die?« rief Philipp verwundert.
»Erlaubt!« sagte Sabinus, zum Kurfürsten gewendet, und steckte dem Mägdlein den soeben empfangenen Ring an den Finger. Dann nahm er die süße Maid in seine Arme und küßte sie auf den Mund.
»Sie ist eine Heldin«, sagte der Kurfürst, und Tränen liefen ihm über die Wangen. »Werde du ein Held, und dann – wie Gott will.«
»Und nun fort, Kinder! Du hier hinaus, Jungfer Kastellanin! Und Ihr dort hinaus! Gott sei mit dir! Und mit dir!«
Drei Wochen nach diesen Begebenheiten saßen die schönen Töchter des kurfürstlichen Amtmanns mit ihrer Freundin im Erker des Hauses am Marktplatz und redeten von diesen Dingen.
»Nun weiß ich auch, wer's gewesen ist«, sagte Judith. »Der hochberühmte Doktor Faustus ist's gewesen.«
»Den hat ja der Teufel in Wittenberg geholt«, meinte die Schwester.
Die Freundin aber rief:
»Nein, zu Staufen im Breisgau hat ihm der Teufel den Hals umgedreht.«
»Weder das eine noch das andere ist wahr«, sagte Judith, »sondern hier ist er gewesen und hat unsere Glocken gebannt und ist dann durch die Lüfte davongeritten mit dem höllischen Begleiter. Im Rennertwald ist er verschwunden. Dort soll es nimmer geheuer sein!«
»Und wißt ihr auch, daß des Waagmeisters Tochter Veronika Kastellanin im Schloß geworden ist? Das blutjunge Ding!«
Die Mädchen schauten sich gedankenvoll an und schwiegen.
Fünfzig Jahre später schrieb der grundgelehrte Hildebrand Holzbockius ein Buch, das folgenden Titel hatte: »Des hochberühmten Doctoris Johannes Fausti Glockenzwang, oder wie Doctor Faustus in einem guten pfälzischen Städtlein einen erschröcklichen Mord begangen, item wie er die Glocken gebannet, so daß ihrer etliche nicht zu klingen vermögend gewesen, etliche von ihnen selbst läuteten, will sagen, vom Teufel geläutet wurden; mit nützlichen und ergötzlichen Anmerkungen versehen von Hildebrando Holzbockio. Verlegt's David Knortz. Frankfurt am Mayn. Anno 1610.«
Merkwürdigerweise haben alle unsere hochgelehrten Faustforscher von diesem Buch noch keine Notiz genommen. Ich besitze es, und wenn mir der Leser dieser Geschichte einmal die Freude bereiten sollte, mich in der schönen Neckarstadt zu besuchen, werde ich's ihm zeigen.