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Erstes Kapitel.
Träume

. »Dolly! Dolly! ... Mademoiselle d'Outremer! Dolly! Wo in aller Welt steckt denn das Fräulein Globetrotter?«

So riefen mehrere junge Mädchen aufgeregt durcheinander und rannten hastig über die breiten Kieswege des Gartens dem Tennis-Platze zu, der ganz am Ende zwischen blühendem Syringengebüsch und frisch grünen Buchen- und Weißdornhecken dalag. Aber der weite Platz war verlassen. Ueber den feinen gelben Sand, der goldig im Sonnenlicht flimmerte, flatterten ein paar weiße Falter, und zum tödlichen Stoß bereit schwebten metallisch glänzende Raubfliegen über irgend einem unsichtbaren Sandgeschöpf unbeweglich in der warmen Luft. Aus dem Flieder aber durchbrach schmetternder Finkenschlag wie eine Heroldsfanfare die feierliche Stille.

»Dolly! Dolly! Ein überseeisches Sendschreiben! A foreign-looking letter! Willst du's oder willst du's nicht?«

Da nahten leichte Schritte aus einem Seitenwege, der die Seufzerallee hieß, weil er von hohen, schwermütig rauschenden Tannen umsäumt war. Er lief in eine weite, erhöht liegende Taxus-Laube an der äußersten Ecke der Gartenmauer aus, von der man einen Blick über die hügelige Landschaft und weit über Wald und Fluß hatte. Hier in » Finis terrae«, wie sie die alte Schattenspenderin mit grimmigem Humor nannte, hatte Dolly nach der Natur zeichnen sollen, aber ihre Träume hatten sie wieder einmal, wie so oft, hinweggetragen aus den stillen Klostermauern in die weite Welt, die so gleißend und glückverheißend im Sonnenschein vor ihr lag. Die kaum begonnene Skizze lässig in der Hand, näherte sie sich jetzt mißmutig den Gefährtinnen.

»Bei allen Grazien und Musen, schreit doch nicht so wie die Waldesel! Man sollte wirklich meinen, ich sei von Hause aus mindestens auf zwei Ohren taub, oder eure hochseligen Vorväter hätten bei Jericho mitgewirkt! Was wollt ihr denn? Ich komme immer noch zu früh zu den langweiligen Fingerübungen, und die hohe »Schule der Geläufigkeit« wird nicht davonlaufen, und der alte, wimmernde, wackelige Flügel Waggalaweia wird nicht davonfliegen.«

»Das gnädige Fräulein Uebermeer geruhen in ungnädiger Laune zu sein,« antwortete das größte der Mädchen mit tiefer Verbeugung und preßte die Hand fest auf die Kleidertasche, »so werden wir es nicht wagen, ihr die frohe Botschaft aus dem Sonnenlande des Rio grande do Sul zu verkünden!!«

»Ein Brief aus der Heimat! Madre de Dios! Was zögerst du, Ada? Heraus damit! ...«

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Dollys dunkle Augen blitzten, und das rote Blut schoß ihr heiß in die bräunlichen Wangen.

»Zuerst bittest du uns die Waldesel- und Juden-Verwandtschaft ab!« rief Ada lachend und flog pfeilschnell davon, dem Hause zu, und die anderen folgten ihr wie ein Wirbelwind unter übermütigem Gelächter. Wohl oder übel mußte Dolly so schnell hinterherlaufen, als die Würde ihrer achtzehn Jahre es erlaubte. Hinter der munteren Schar aber schlug der Fink noch einmal so frisch und mutig, gaukelten doppelt neckisch die weißen Falter, ... und schwermütig rauschten die hohen dunkelen Tannen.

An der Klosterpforte erwischte Dolly die Briefträgerin. Hastig riß sie das Schreiben aus dem Umschlag und überflog die erste Seite. Dann brach sie plötzlich in laute Ausrufe des Entzückens aus und umfaßte in ihrer maßlosen Freude die ahnungslose Ada zu einer Art indianischen Jubeltanzes.

»Heim! Heim! Ich gehe heim! Die babylonische Gefangenschaft ist zu Ende! Jetzt geht's ins gelobte Land Brasilien! In das Licht! In die Freiheit! ...«

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»Laß mich los, Dolly! ums Himmels willen! Du erstickst mich noch vor lauter Freude!« rief die arme Ada zwischen Lachen und Weinen. Dolly hörte auf zu tanzen und fing an, mit fliegendem Atem zum hundertstenmale von den Herrlichkeiten zu erzählen, die ihrer im Vaterlande warteten, von den Gesellschaften, Bällen, Theatern und Picknicks, von den märchenhaften Toiletten, den herrlichen Equipagen. Als sie aber im besten Zuge war, stand plötzlich die Ehrwürdige Mutter Seraphika, die Oberin des Klosters, vor ihr. Die anderen Mädchen verbeugten sich scheu und tief und entfernten sich mit raschen Schritten; Dolly aber rief leuchtenden Auges: »Sie wissen es doch schon, würdige Mutter, ich solle heimkehren, schreibt Papa!«

Die Oberin blickte das Mädchen mit ihren guten, mütterlichen Augen wehmütig an, daß es beschämt vor sich schaute, und sagte langsam:

»Armes Kind, bewegt wirklich nach einem dreijährigen Verweilen im Frieden der Klosterschule kein anderes Gefühl deine Seele, als die ungestüme Erwartung rein weltlicher Freuden?«

»Aber, ich wollte ja nie ins Kloster gehen!« entgegnete Dolly in kläglichem Ton.

»Daran wird auch wohl kein vernünftiger Mensch gedacht haben, liebes Kind! Aber niemand ist auf der Welt lediglich des Vergnügens wegen. Gott gab jedem, auch dem Reichsten und Unabhängigsten, seinen Pflichtenkreis, und die rechte Erfüllung dieser Pflichten verleiht allein die wahre Herzensfreude ...«

»Aber Papa erlaubt schon, daß ich das Theater und die Bälle besuche.«

»Das mag sein,« erwiderte die Nonne traurig. »Du wirst nur einsehen, daß erlaubte Vergnügen uns nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck sein sollen, insofern als sie uns ausspannen und erfrischen und zu erneuter Pflichterfüllung tüchtig machen sollen. Das Gemüt der Frau aber, die ihre Befriedigung in weltlichen Freuden und Zerstreuungen sucht, wird schal und kalt und tot, und sie wird in keiner Lebenslage ihren Platz ausfüllen.«

»Ich werde gesellschaftliche Pflichten haben,« versicherte Dolly mit wichtiger, selbstzufriedener Miene.

Die Oberin seufzte, aber sie erwiderte nur: »Möchtest du das wahre Glück finden, liebes Kind, und den rechten Weg dazu! So unglaublich es dir scheint: er heißt Selbstverleugnung und Selbstbeherrschung! Wie immer es dir aber im Leben ergehen mag, du weißt, daß das alte Kloster dir stets eine Heim- und Ruhestatt sein wird, und daß wir alle mit liebevollster Teilnahme deinen Geschicken folgen werden.«

Dollys Herz wurde bewegt, und mit feuchten Augen dankte sie der edlen Frau für ihre Liebe. Am Abend in der Erholung aber wunderten sich die anderen Zöglinge, daß die Hochflut überfroher Empfindungen bei Fräulein Uebermeer schon anfing der Ebbe einer träumerischen Niedergeschlagenheit zu weichen. Es war auch zu seltsam! Jetzt, da sie das »Gefängnis« verlassen sollte, erschien es ihr wie ein trautes Heim, die Schwestern alle so mütterlich gut, die Gefährtinnen so lieb und lustig! Und der weite, schöne Garten mit seinen hohen Bäumen, stillen Laubgängen, leuchtenden Blumen, mit Amselsang und Finkenschlag, wie würde sie ihn entbehren!

In der ersten Woche des Mai kam Nina, die braune brasilianische Dienerin, die während Dollys Pensionszeit bei deren Tante Bertha in Hamburg gewohnt hatte, um das Fräulein abzuholen und auf der langen Reise zu begleiten. In das Abschiedsweh fiel ein Freudenstrahl: Dolly mußte an der Station Neuburg ihre Reise unterbrechen, um einen anderen Zug abzuwarten, und Hilde Walter, ihre liebste Freundin, die dort wohnte, wurde sie am Bahnhofe für ein halbes Stündchen besuchen.

Noch waren Dollys Thränen nicht getrocknet und die Tröstungsversuche der treuen alten Nina nicht beendet, da flog der Zug in den Bahnhof von Neuburg ein, und lachend und weinend in einem Atem lagen sich die beiden jungen Mädchen in den Armen.

»Also nun fliegt unser Paradiesvogel wirklich in das Wunderland der Sonne und der Blumen und läßt uns arme deutsche Spatzen und Finklein betrübt zurück im nebeligen Norden?« fragte Hilde, eifrig bemüht, ihre eigene Wehmut zu verbergen um der lieben Freundin willen.

»Ach, könnte ich dich nur mitnehmen, mein lieber, schöner Edelfink!« seufzte diese. »Wie groß und damenhaft du seit dem letzten Herbst geworden bist, als ich meine glücklichen Ferien in deinem gastlichen Vaterhause verleben durfte! Gestehe es nur, Hilda mia, du hast gewiß schon großartige Eroberungen gemacht, und die junge Männerwelt wird dich sicher zur Ballkönigin erwählt haben!«

»O du kleine Schmeichlerin und unverbesserliches Weltkind! Ich habe überhaupt noch keinen Ball besucht, und die junge Männerwelt unserer Stadt steht mir so fern, als wohnte sie auf den Marianen oder Karolinen und ich in der äußersten Thule. Aber das darf ich dir verraten,« fuhr sie mit einem schelmischen Seitenblick auf die gespannt horchende Dolly fort, »bei älteren Herren stehe ich in gutem Ansehen. Da ist z. B. Doktor Forster, Papas ältester und bester Freund ...«

»Pah! Dieser polternde Menschenfreund, das wandelnde Tönnlein in antediluvianischer Gewandung, dieser Zeitgenosse der Patriarchen und Propheten, der zu alt ist, dein Urahn zu sein!«

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»Werde ums Himmels willen nicht biblisch, Fräulein Uebermeer! Deine exotische Phantasie ist wieder an der Arbeit! Uebrigens kann ich auch mit einem Verehrer aus einer Generation aufwarten, die dir zeitlich näher steht.«

»Aus gutem Hause?«

»Aus altem Geschlecht.«

»Hübsch?«

»Hm! Hübsch eigentlich nicht, aber kräftig und gewandt, mit scharfen Augen und martialischem Schnurrbart. Leider neigt er in der letzten Zeit etwas zur Beleibtheit.«

»Also Offizier?«

»Gott sei Dank, leider nein!«

»Ist er liebenswürdig?«

»Man ist geteilter Meinung über seinen Charakter: mir ist er sehr zugethan.«

»Natürlich, wer könnte auch anders! Darf man den Namen wissen?«

»Gewiß: Felix von Schnurrbelinsky.«

»Also adelig! Du bist ein Glückspilz, Hilde!«

»Ei, sieh da! Jung-Amerika schätzt den Adel! Ich fürchte, Dolly, deine Freiheitsanschauungen haben in dem alten Europa bedenkliche Stöße bekommen.«

»Ach was, ich sprach ja nur von dir. Aber berichte weiter. Lebt er auf großem Fuße?«

»Das kann ich nicht gerade behaupten. Ein eigentliches Haus macht er nicht. Er hat ein pied à terre hier im Orte, sogar in unserer allernächsten Nähe, aber gewöhnlich schweift er in der Nachbarschaft umher ...«

»Sonderbar!«

»In der Kleidung ist er für seine Person sehr anspruchslos; er trägt Winters und Sommers immer denselben Rock ...«

»Hu! Hilde, wie gräßlich! Der alte Filz! Da bedenke dich doch hundertmal ...«

»Es ist sogar ein Pelzrock ...«

»Du hältst mich zum besten, Hilde!«

»Leider hat er sich im Laufe der Zeit, wie so mancher Junggeselle, zum eingefleischten Gourmet ausgebildet. Das Geflügel kann ihm z. B. nicht zart, der Braten nicht knusperig genug sein.«

»Merkwürdig! Kennst du ihn schon lange, und sind wir ihm im vorigen Herbste nirgendwo begegnet?«

»Gewiß! Du hast ihn häufig gesehen und, nimm es mir nicht übel, wenn ich dich daran erinnere, du bist ihm sogar, als er dir mit einer gewissen Zurückhaltung begegnete, mit verdoppelter Artigkeit entgegengekommen. Unsere alte Marianne, deren ausgesprochener Liebling er ist, will sogar mit von Eifersucht geschärften Blicken beobachtet haben, daß du einmal verstohlen über sein glänzend schwarzes Haar ...«

»Halt ein, Hilde! Das ist zu stark! Diese infame Verleumdung! Madre de Dios! Ich kenne diesen russischen oder sibirischen Halbbarbaren nicht! Ich sah ihn niemals in meinem Leben! O, Hilde, wie konntest du auch nur einen Augenblick so etwas von mir denken!«

Dolly war aufgesprungen und tanzte in ihrer Entrüstung in dem Wartezimmer des Bahnhofs hin und her.

»Und doch thatest du es, liebes Uebermeerchen. Du hast ihn sogar mit einem zarten Taubenbeinchen an dich zu locken versucht.«

»Ach, Hilde! Nun verstehe ich! ... Nein, wie konntest du mich so zum Narren halten!« rief Dolly halb lachend, halb ärgerlich, daß der Held dieser romantischen Geschichte sich schließlich als der alte, dicke Hauskater Schnurr in Hildes väterlichem Hause entpuppte.

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»Du bist noch gerade so voller Streiche wie früher, Hilde! Aber freilich, du hast auch den lieben langen Tag nichts zu thun, als dich zu amüsieren, und kannst unter Scherzen und Lachen durchs Leben Hüpfen.«

»Manchmal muß ich auch recht jämmerlich umherschleichen: wenn Großmama ihrer schlimmen Gichtschmerzen wegen zu Bette liegen und ich sie pflegen muß und ihr doch nicht helfen kann. ... Wenn die Last des Haushalts meine schmalen Schultern drückt ...«

»Last des Haushalts! Was haben wir damit zu thun?«

»Vieles, ja alles. Wer überwacht die Wäsche, wer stopft die Strümpfe, wer ordnet die Schränke, wer macht den Küchenzettel und verwertet die Reste, wer kocht das Obst ein und besorgt die Einkäufe und Anschaffungen?«

»Ach geh, Hilde, du gefällst mir nicht, wenn du so ernsthaft sprichst wie ein ägyptischer Oberpriester. Warum thust du all diese Dinge, wenn sie dich drücken?«

»Weil es meine Pflicht ist, liebe Dolly!«

»Pflicht! Pflicht! Kommst auch du schon mit dem häßlichen Wort, das extra für die steifleinenen und ledernen deutschen Philister erfunden zu sein scheint? Wir sind doch jung und aus gutem Hause, ich meine, wir sollten unsere Jugend in Heiterkeit und eitel Freude genießen und das Arbeiten den Dienstboten überlassen!«

»Aber, Dolly, wie könnte man sich freuen, wenn man in den Tag hinein lebte und die schönste Zeit des Lebens in eitel Nichtsthun verträumte! Ich muß gestehen, ich würde sterben vor Langeweile, und wenn ich meinen kleinen Pflichtenkreis im väterlichen Hause nicht hätte, würde ich in die erste beste arme Hütte laufen, die schmutzigen Kinder waschen, die fleckigen Böden scheuern ...«

»Hör auf, Hilde, du machst mich gruseln! Da weiß ich Besseres mit meiner Zeit anzufangen.«

»Du wirst mir gewiß manchmal schreiben über alles, was dir in deinem bunten Leben zustößt, liebste Dolly,« sagte Hilde innig und umarmte die Freundin; denn schon lief der Zug ein, der die Reisenden weiterführen sollte.

»Selbstverständlich, mein sorgsames Hausschwälbchen.

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Ich werde dir das Lustspiel meines Lebens in mustergültiger Form schreiben,« jedenfalls sollst du schon gleich Nachrichten aus Hamburg haben,« scherzte Dolly.

Hilde aber sagte ruhig: »Lustspiel oder Trauerspiel, Gott der Herr hat unsere Lebensfäden in der Hand, er wird uns gut und sicher führen!«

»Wie sonderbar sie doch sein kann!« dachte Dolly mit einem gewissen Unbehagen, während sie, um den besorgten Fragen der alten Nina zu entgehen, anscheinend schlummernd in der weichen Wagenecke lag. »Ob das Leben einen so ernst macht oder nur die strenge Lebensauffassung? Pah, daran sind diese lästigen Pflichten schuld! Ich werde sie mir vom Halse schaffen! Ein Leben voll Heiterkeit, voll Schönheit und Glück liegt vor mir, so klar und glänzend wie der schöne Maientag heut. Jage dahin, mein wackerer Zug, jage dahin! Trage mich in die schöne Welt hinaus zu Freude und Glück!«

Und der Eilzug flog dahin. Die Räder rasselten, die Maschine stampfte: Freude und Glück! Freude und Glück! Und in Dollys Hirn und Herzen hallte es unaufhaltsam wieder: Freude und Glück! Freude und Glück! dann lag sie lange da und träumte, träumte.

»Die Morgenröte einer neuen Zeit ist angebrochen, liebste Hilde,« schrieb sie ein paar Tage später, »und wenn sie nicht so strahlend ist, wie ich gehofft, wird der Tag desto glänzender werden. Bei Tante Bertha erwarteten mich mehrere Ueberraschungen. Erstens ruhen Rollo und Pollo, ihre Lieblingshündchen, im Garten unter der großen Platane bei meinem unvergeßlichen Lori (der euch vor drei Jahren im Kloster solche Höllenangst einjagte), und die Tante hat sich seitdem aufs Vereinswesen geworfen. Morgens besucht sie die Hausarmen als Mitglied des Elisabethen-Vereins, nachmittags die kleinen Findel- und Pflegekinder im Auftrage des Frauenvereins. Dann präsidiert sie einer Handarbeitsschule für Fabrikarbeiterinnen, und ihr Zimmer liegt voll angefangener Arbeiten vom gröbsten Kaliber, die sie nachsieht und verbessert. Das wird dir gewiß große Hochachtung einflößen, aber mich schaudert, wenn ich daran denke, eine Woche so leben zu müssen! Und doch ist die Tante glücklich in ihrem selbstgewählten – verzeihe das harte Wort – Pflichtenkreis! Unbegreiflich! ... Für mich aber sind die schönen Zeiten von Rollo und Pollo dahin. Ich marschiere fein sittiglich neben der Tante einher, statt wie sonst mit Nina und dem lustigen Hündlein halbe Tage durch die Straßen und an der Alster umherzuschweifen oder heimlicherweise kleine Bootsfahrten zu unternehmen, und abends sitzen wir gar erbaulich zusammen in der Tante stillem Jungfernheim, lesen rührsame Dinge aus zahmen Goldschnittbänden und musizieren, oder haben Gäste zum Thee, Herren und Damen von unbestimmtem Alter, die alle mit dem Heiligenschein auf die Welt gekommen sind.

»Ueberraschung Numero 2 war die, daß uns bei unserer Ankunft ein blauäugiges Mädchen mit langen blonden Zöpfen willkommen hieß. Die Kleine kam mir so bekannt vor, und als sie mich mit »Fräulein Dolly« anredete, erkannte ich das nun zehnjährige Erlenmüllers Trinchen wieder, das ich seit dem Tode seiner Großmutter vor fast zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte. Du wirst dich erinnern, daß des Kindes Großmutter eine Base meines Vaters und der Tante Bertha war. Letztere will die Kleine erziehen. Sie läßt sie im Hause unterrichten, weil ihr der »Geist in den hiesigen höheren Schulen nicht zusagt«, und die kleine Hexe lernt mit einer Lust, als gäbe es nichts Schöneres in der Welt. Sie singt übrigens so hell und fein wie ein Waldvöglein, und das söhnt mich mit ihrem langweiligen Lerneifer wieder aus.

»Die dritte und beste Ueberraschung aber hatte ich, als die Tante mir einen Check meines guten Vaters überreichte und mich in seinem Namen ermächtigte, meine Toilette-Bedürfnisse damit zu bestreiten. Du kannst dir meine Freude denken! Die unerbetenen Ratschläge der Tante hörte ich nur halb, und als sie mir darauf vorschlug, mich auf meinen Shopping-Fahrten zu begleiten, habe ich dies höflich, aber entschieden abgelehnt. Das sollte mir noch fehlen! Damit ich als Quäkerin in grauem Gingham-Kleide mit weißem Linnenkrägelchen und dem ländlichen bonnet à la Jettchen Sauer klösterlichen Andenkens in unser prächtiges Rio einrückte! Gleich nach Tisch begann ich meine Rundreise. Am Abend kam ich todmüde, aber überglücklich mit meinen Schätzen angefahren.

O, sie sind zu herrlich, liebe Hilde! Da ist zuerst ein weißes Morgenkleid aus feinstem indischen Kaschmir, über und über mit krausem Atlasbändchen und Valenciennes-Spitzen garniert, dann zwei Seiden-Blousen, die eine türkisblau mit Silberstickerei auf weißem Sammt, die andere nilgrün mit kirschrotem Sammtkragen und Gürtel, mit feinem Perlengeriesel in Gold und Silber über und über bedeckt, dazu zwei Spitzenkleider, das eine weiß, das andere schwarz, – ich muß ja Rücksicht auf unser Klima nehmen. Einen schneeweißen Hut à la bergère mit Straußfedern und mattroten Rosen kaufte ich zu dem einfachen Sporthütchen und der winzigen Besuchs-Capote (ich werde in Rio schon als eine sehr erwachsene Dame betrachtet werden), und als ich das Magazin verlassen wollte, liebe Hilde, da sah ich erst das Entzückendste von allem! Ein Diner-Kleid aus schwerem Seidenstoff in den herrlichsten Farben schillernd! Ich kann es dir gar nicht beschreiben, es sah aus, als flute das Abendrot aus lichtblauem Himmel über einen grünen See und über die zitternden Blüten der mattlila Iris.

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Ich konnte nicht widerstehen, ich mußte die köstliche Robe haben. Die bevormundende Bemerkung der Verkäuferin, die Robe stehe so jungen Damen weniger gut, wies ich mit der gebührenden Schneide zurück. Leider entdeckte ich beim Bezahlen, daß meine Barschaft nicht reichte und ich um 300 Mark zu kurz kam, und noch waren keine Handschuhe, Sonnenschirm, Schuhe usw. gekauft! Ich nannte den Namen meiner Tante und ließ die Seidenrobe mit der Rechnung dorthin schicken; die anderen Sachen wurden mir in den Wagen gebracht.

»Und nun kommt das Ende der Geschichte, und es ist – empörend.

»Denke dir, meine leibliche Tante, die Unsummen für arme Kinder und Fabrikleute ausgiebt, weigerte sich, die lumpigen 300 Mark für ihres einzigen Bruders Kind vorzulegen! Als wenn Papa es ihr nicht mit Zins- und Zinseszins zurückgeschickt hätte! Ich weinte vor Aerger, aber die Tante behielt ihre unheimliche Ruhe bei, als sie dem Boten des Warenhauses mein Märchenkleid zurück gab und bemerkte, die Robe sei für die junge Dame nicht geeignet befunden worden.

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»›Wo hast du denn die Wäschesachen und die Schuhe?‹ fragte sie mich hierauf, als sei gar nichts vorgefallen. ›Das sind meine eigensten Angelegenheiten!‹ erwiderte ich, ›ich werde meinem Vater Rechenschaft ablegen.‹ Dann verließ ich das Zimmer, ohne die geizige, kaltherzige alte Jungfer eines Blickes zu würdigen.

»Ich werde mich die zwei Tage bis zur Abfahrt unseres Schiffes aus Bremen möglichst viel auf meinem Zimmer aufhalten. Die Tante hat mich zu sehr in meiner Freiheit und in meinen heiligsten Gefühlen gekränkt. ...

»Noch eins! Ich habe mir ein Skizzenbuch anfertigen und viel weißes Schreibpapier hineinheften lassen. Darin werde ich meine Reiseeindrücke mit Stift und Feder für dich niederlegen.

Dolly.

» P. S. Ich bin doch froh, daß ich außer Hörweite bin, wenn du diesen Wisch liesest, denn mir schwant, daß du Stoff und Mut zu einer gräßlichen Strafpredigt findest ...

Herzlichst
D. D.«

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