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Der kleine Paul, der die unschuldige Ursache von all der Aufregung und dem Leid des vorhergehenden Tages gewesen war, saß am anderen Morgen rosig und frisch in seinem Sesselchen am Frühstückstisch, trommelte mit den Fäustchen und rief ungeduldig ein über das andere Mal: »Dodo! Dodo!«
»Kindchen muß geduldig sein,« begütigte die Mutter, »lieb Schwesterchen kommt gleich!«
Aber Dolly kam nicht, obschon die gewöhnliche Zeit des Morgenimbisses längst vorbei war. Da wurden auch die Eltern unruhig, und die Mutter begab sich in des Mädchens Zimmer, um nach ihm auszuschauen. Die Vorhänge waren noch herabgelassen, doch sah die junge Frau sogleich, daß Dollys Gesicht im heftigsten Fieber glühte. Ihr Haar hing wirr um die Schläfen, die Augen brannten; sie saß aufrecht im Bette, fuchtelte mit den Händen in der Luft herum und redete heftig durcheinander. Mit Mühe gelang es, die Kranke wieder zur Ruhe zu bringen. Der armen Frau ging ein Stich durchs Herz, als der schnell herbeigeholte Arzt mit ernstem Gesicht sein Urteil sprach: »Das gelbe Fieber!«
Sie wußte nur zu gut, wie nah das arme Mädchen dem offenen Grabe war in der furchtbaren Krankheit. Soeben hatten sie sich erst gefunden; eine schöne, friedvolle Zeit häuslichen Glückes schien anzubrechen, und jetzt sollte vielleicht alles so jäh und traurig enden! »Aber der liebe Gott wird unser Flehen um das Leben des geliebten Kindes nicht unerhört lassen, schon um des kranken und alternden Vaters willen,« tröstete sich die junge Frau, und sie sagte dem Arzte, daß sie selbst die Pflege der Kranken übernehmen und alles thun wolle, was in ihren Kräften stehe, um mit Gottes Hülfe das teure Leben dem Tode abzuringen. Der Kleine und Nina siedelten noch in derselben Stunde in das Haus des treuen »Onkels« über, und die Mutter sah am Fenster stehend mit betrübtem Herzen dem Abschied des Kindes von seinem Vater zu.
Der Teil des Hauses, worin die Kranke lag, wurde auf Befehl des Arztes strenge von den übrigen Insassen gemieden, und die Mutter widmete sich abwechselnd mit Mademoiselle Delaporte ausschließlich der Pflege Dollys. Die gute Seele war schon in der ersten Stunde herbeigeeilt und ließ sich durch nichts in der Welt an ihrem Liebeswerke hindern.
»Das arme Kind hat sich die Krankheit in der Sorge um sein Brüderchen in jener Pesthöhle von Polizeistation geholt,« sagte sie. »Wir müssen alles aufbieten an Opfern und Gebeten, um sie wieder gesund zu machen.«
Und in der That waren auch die größten Opfer an Liebe und Geduld nötig; denn es folgte jetzt eine schwere, bange Zeit, eine Zeit, da mehr als einmal der Flügelschlag des Todesengels Dollys Schmerzenslager umrauschte, und die Wellen ihres Lebensstromes in gewaltiger Ebbe sich zurückzogen vom Gestade dieser Zeitlichkeit gegen das uferlose Meer der Ewigkeit.
Es ist viele Wochen später, an einem sonnigen Oktober-Abend.
Die Regenzeit ist vorbei, und die Hitze fängt schon an, tagsüber recht bemerklich zu werden. Jetzt aber, da die Sonne sich zum Verglühen anschickt, ist es erträglich draußen im Park, und heute zum erstenmale hat man die langsam genesende Dolly vorsichtig in die Hängematte zwischen dunkellaubigen Lorbeerbäumen und Steineichen gebettet. Der Abendwind kommt auf leisem Fittig aus dem hohen Walde dahergefahren und erzählt von Vogelsang und Blütenzauber und von allem Wunderbaren droben in der dämmerigen Waldeinsamkeit, wo um die hohen Urwaldsriesen sich schönblättrige Lianen schlingen und elfenbeinweiße und glühend rote Orchideen in ihrer seltsamen, zauberischen Pracht aus dem rissigen, bemoosten Borkenwerk hervorleuchten. Er erzählt aber auch von dem ewigen Kampf tief im Herzen des wilden Waldes, wo Unze und Puma auf nächtlichen Raub ausziehen, wo der Geier in zerklüfteten Felsen horstet und die junge Antilope von der Seite der Mutter davonträgt; wo die schöne purpurrote Teufelin, die Jararaca, unter glühendem Gestein zusammengeringelt liegt und züngelnd emporfährt zum tödlichen Biß, wenn ein harmloses Waldhäslein ihrem Versteck sich naht, und wo die schwarze grausame Vogelspinne die schönen kleinen Kolibris mit ihren häßlichen, langhaarigen Krallen umfängt und ihnen in wilder Mordgier die Kehle zerreißt. Dolly lauscht gern der Stimme des Windes, mit Wonne trinkt sie seinen kühlen, belebenden Hauch. Ein unbeschreibliches Gefühl von Behagen und Glück ob der wiedergeschenkten Gesundheit durchrieselt ihre Adern, und ein seliger Friede, wie sie nie ihn gekannt, macht ihr Herz fromm und sanft. Wie gut ist doch der Herr mit ihr gewesen! Er hat ihr das Leben erneuert, aber nicht nur das des Leibes, viel mehr noch das innere Seelenleben. Jetzt soll aber auch alles anders werden! Dankbar wird sie sich an die neue Mutter schmiegen; sie soll ihr Vorbild sein: von ihr wird sie lernen, die häuslichen Pflichten liebgewinnen, vor allem die Sorge um den geliebten Vater, dessen Kräfte leider mehr und mehr verfallen. Dolly ist noch zu schwach, um lange nachzudenken oder gar viel zu beten, sie fühlt dies alles nur in ihrem Herzen; aber sie faltet wie zur Bekräftigung fromm die Hände und schaut dankbar zum Himmel auf, an dem die Abendsonne immer herrlicher glüht. Da nahen leise Schritte von der Seite des Gartens, und sie sieht das helle Kleid der Mutter zwischen Farn und Pisang durchschimmern. Bald folgt auch der Vater, der heute ungewöhnlich lebhaft scheint. Er betrachtet sein wiedergeschenktes Kind mit stiller Rührung, und es scheint Dolly, als ständen Thränen in seinen Augen.
»Ich muß euch leider für ein paar Tage allein lassen,« sagt er, indem er leise die durchsichtigen Hände Dollys streichelt. In Santos sind Unruhen ausgebrochen, und man munkelt, daß die Bank nicht ganz sicher stehe. Da fast unser ganzes Vermögen dort untergebracht ist, versteht es sich von selbst, daß ich schleunigst zum Rechten sehe. Morgen mit dem Frühzuge werde ich abreisen.«
»Ach, daß ich dir die Sorge und Mühe abnehmen könnte!« seufzte die junge Frau, und Dolly bemerkte jetzt, daß die Mutter geweint haben mußte. Ehe sie aber eine Frage stellen konnte, trabte an Mlle. Virginies Hand der kleine Paul daher, der, glückselig, seine große Schwester wiederzusehen, auf sie zueilte und sie fast mit Liebkosungen erstickte.
»So,« sagte Mademoiselle Delaporte, die von der beabsichtigten Reise des Herrn Auweiler gehört hatte, »jetzt gehen Sie beide nur ins Haus und treffen Ihre Reisevorbereitungen, ich werde unterdessen im Verein mit Paulchen unserer lieben Dolly die Zeit vertreiben.« Und sie zog ihr feines Scherchen und ein Blatt schwarzen Glanzpapieres aus den unergründlichen Tiefen des grün- und rotgestreiften Pompadour-Beutels, den sie bei allen Ausgängen am Arme trug, und fing an, für das Kind allerlei artige Bildchen auszuschneiden: Schornsteinfeger, Reiter, Hündchen, Aeffchen und zuletzt eine ganze Baumwiese mit Kühen und Schafen. Entzückt schaute Dolly dem Spiel der geschickten Finger zu. Wie hatten diese selben guten alten Finger sie gehoben und gestreichelt, ihr das Kissen geglättet und den kühlen Trank gereicht, unermüdlich bei Tag und Nacht, wenn die Mutter erschöpft aufs Lager gesunken war, und wie spöttisch und hochmütig hatte sie nicht in ihrem Tagebuch ihr Urteil über die alte Dame mit den Mittaines und den Lasting-Schuhen abgegeben! Auch hier hatte sie Berichtigungen und Nachträge zu machen; und das sollte gleich in den nächsten Tagen geschehen, sobald sie wieder an Hilde schreiben durfte.
»Warum mag Mama wohl so traurig sein, Mlle. Virginie?« fragte sie jetzt unvermittelt. »Ich sah, daß ihre Augen rot vom Weinen waren ...«
»Ach, Herzchen, du weißt ja, daß Mamas Augen schwach sind, und in der letzten Zeit haben die Nachtwachen und das Leid sie noch mehr angegriffen,« antwortete die alte Dame ausweichend.
»Bitte, erzählen Sie mir doch etwas über die liebe Mama! Vor meiner Krankheit wollte ich nichts darüber hören, und jetzt ist's die höchste Zeit, daß ich das Versäumte nachhole und vieles gut mache ...«
Mlle. Virginie sah das Mädchen mit innigen Blicken an und sagte: »Ihre Geschichte ist einfach, wie Gott sei Dank, die der meisten Frauen. Ungewöhnlich ist nur der Opfermut, womit das siebzehnjährige Mädchen, als ihr Vater in dem schrecklichen deutsch-französischen Kriege bei Mars la Tour gefallen war, sogleich freiwillig auf alle Freuden ihres Alters verzichtete und Tag und Nacht studierte, um nach Jahr und Tag das Lehrerinnen-Examen für höhere Mädchenschulen ablegen zu können. Mathilde wußte wohl, daß die kleine Pension der Offiziers-Witwe lange nicht ausreichte, um den jüngeren Bruder standesgemäß in der Kadettenanstalt zu unterhalten und außerdem zum Lebensunterhalte für die sehr zarte und verwöhnte Mutter und sie selbst zu dienen. In jenen Tagen des angestrengtesten Studiums hat ihr Augenlicht seine Kraft verloren. Sie war glücklich, als ihr nach glänzend abgelegter Prüfung eine Erzieherinnen-Stelle im Hause des englischen Gesandten im Haag angeboten wurde, und sie nun in der Lage war, die Mutter kräftig unterstützen zu können. Daß sie in ihren kargen Mußestunden noch fleißig allerlei Werke aus fremden Sprachen ins Deutsche übersetzte, um mehr für ihre kränkliche Mutter thun zu können, hat mein Bruder neulich zufällig von einer Tochter des Gesandten gehört. Der Herr ist nämlich später aus Holland an den brasilianischen Kaiserhof versetzt worden und lebt mit seiner Familie seit der Einführung der Republik in dem ihm lieb gewordenen Lande. Hier hat dein Vater Fräulein Mathilde von Feldern kennen gelernt und zwar im Hause meines Bruders, seines alten Freundes, wohin sie mit ihren inzwischen herangewachsenen Schülerinnen kam, um Malunterricht zu nehmen. Noch jetzt herrscht ein inniges Freundschaftsverhältnis zwischen den Damen, und wenn deine Mama nicht davon gesprochen hat, so ist nur ihre große Bescheidenheit schuld daran. ...«
»Ach, ich habe mich ja auch nie um Mamas Bekannte gekümmert; sie waren mir in meiner Verblendung von vorne herein widerwärtig,« antwortete Dolly kleinlaut.
Als sie am späten Abend in ihrem Bette lag, betete sie noch inbrünstig, der liebe Gott möge die Frau segnen, der sie so bitteres Unrecht gethan, und die ihren Haß mit Liebe und Opfern belohnt hatte. ...
»Liebe Dolly,« sagte ein paar Tage später die Mutter, als beide Damen langsam unter der Palmen-Allee des Gartens auf- und abwandelten, »der Vater muß wegen der leidigen Geldangelegenheiten noch einige Zeit in Santos bleiben, aber er hat mich beauftragt, dir, sobald du mehr zu Kräften gekommen, mitzuteilen, daß er im Beginne deiner Genesung thätlich in die Gestaltung deines Lebensschicksals hat eingreifen müssen.«
Die Mutter schwieg einen Augenblick wie in Verlegenheit; Dolly aber horchte hoch auf, das Blut strömte ihr heiß zum Herzen und merkwürdig! es war ihr, als höre sie plötzlich die tiefe, ruhige Stimme Doktor Eckarts vom weiten Meer zu sich herüberdringen.
»Nun denn?« fragte sie zögernd, mit zitternder Stimme.
»Pompejo Morenas hat bei Papa um deine Hand geworben, liebe Dolly, aber der Vater wußte, daß der Abenteurer dein Vermögen suchte, um sich aus der unleidlichen Lage, worin ihn seine und seiner Familie Schuldenlast gebracht hat, zu befreien. Onkel Georges war ganz genau über Pompejos Geschichte unterrichtet und hatte Papa schon früher gewarnt ...
Als Dolly schwieg, fuhr die Mutter fort:
»Papa würde dir gleich selbst die Sache mitgeteilt haben, wenn du nicht noch zu schwach gewesen wärest. Uebrigens hast du einen besonderen Schutz Gottes gehabt, liebes Kind, daß dein Lebensglück nicht an diesen charakterlosen Menschen gebunden ist: er leitet seit kurzem mit Isabellas sogenanntem Bräutigam zusammen ein Vaudeville-Theater niedrigster Sorte, in einem Viertel, das von anständigen Leuten gemieden wird. Isabella ist die erste Liebhaberin, und wer weiß, was Pompejo von seiner Frau verlangt hätte. ...«
»Gräßlich!« rief Dolly im ersten Schrecken und schüttelte sich, als wehre sie die Berührung eines giftigen Reptils ab. Dann aber begann der Unmut in ihrem stolzen Herzen sich zu regen, daß ihr Vater, ohne sie auch nur im geringsten um ihre Meinung zu fragen, Pompejos Antrag abgewiesen, und daß man so ohne weiteres angenommen, der junge Mann liebe nur ihr Geld. Ihre Eitelkeit war empfindlich gekränkt; aber eine gewisse Scham der Mutter gegenüber hinderte sie, ihrem Unmute Luft zu machen. Es wäre ihr allerdings im Traume nicht eingefallen, Pompejos Werbung anzunehmen, – er war ihr im tiefsten Herzen zuwider; – aber sie hätte am liebsten in dem Trauerspiele des abgewiesenen Freiers ihre stolze Rolle persönlich gespielt, und die vermeintliche Beeinträchtigung der so eifersüchtig gehüteten Selbständigkeit weckte den alten Kindertrotz, der noch immer im verborgensten Winkel ihrer Seele schlummerte.
Der Eintritt des Postboten überhob sie der Antwort. Er brachte einen eingeschriebenen Brief von des Vaters unsicherer Hand an seine junge Frau, und Dolly selbst bekam ein dickes, fremdländisches Schreiben, aber nicht, wie sie erwartet hatte, von ihrer Freundin Hilde, sondern aus dem fernen Dänemark in Karens zierlicher Handschrift.
Die Mutter hatte sich, nachdem der Postbote gegangen war, auf einen Gartenstuhl gesetzt und war im Begriffe, den Brief ihres Gatten zu öffnen.
Mit schmerzlichem Befremden sah Dolly, wie bleich die junge Frau plötzlich geworden, und wie die Hände zitterten, die die entstellende Brille vor die schönen blauen Augen schoben.
»Mama!« rief sie erschreckt: »Du brauchst eine Brille? Sind denn deine Augen so gar schwach geworden?«
Die Mutter lächelte trübe. »Ach Kind,« sagte sie leichthin, »sei nicht bekümmert darum. Der Arzt sagt, es sei Blutarmut und Nervenschwäche, ich müsse mich kräftigen und die Nerven stärken durch möglichste Gemütsruhe, dann werde sich auch vielleicht das Augenleiden heben lassen. Aber das ist leicht gesagt und schwer gethan, liebe Dolly. Papas Zustand macht mir große Sorge.«
Zaghaft nahte sich das Mädchen der Mutter und küßte sie zärtlich. Bewunderung und Scham stritten in ihrem Herzen um die Herrschaft. Also das war die Fremde, der Eindringling, die, kaum zurückgekehrt von dem langen Krankenbett der Tochter, sich in Leid verzehrte um den hinsiechenden Gatten! Und sie, des Vaters ältestes Kind, die der Sonnenschein des Hauses hätte sein sollen und der Mutter des Lebens schwere Bürde hätte tragen helfen müssen, hatte sich, da Gott ihr kaum das schöne Leben wiedergeschenkt, in kindischem Mißmut gleich wieder mit dem vermeintlichen Unrecht beschäftigt, das man ihr angethan! ...
»Wir werden doch glücklich sein in gemeinsamer Liebe zum Vater, komme, was da wolle,« sagte jetzt die junge Frau und erwiderte dankbar Dollys Umarmung. Dann ging sie langsam, als fürchtete sie, es könnten dunkle Schatten auf Dollys Sonnenwege daraus fallen, mit dem ungelesenen Briefe aus Santos dem Hause zu.
Dolly aber vertiefte sich in Karens langes Schreiben.
»Liebste Dolly,« hieß es darin, »endlich habe ich soviel Material, um Dir ein ganzes Tagebuch schreiben zu können. Freilich werde ich auf Anraten meiner sehr systematischen und ganz mathematischen Schwester Astrid in chronologischer Reihenfolge erzählen müssen, weil ich sonst die Hälfte der Geschehnisse vergessen würde.
Also: Wir nahmen Quartier in der gut empfohlenen Fremdenpension einer Französin, der Witwe eines Professors aus Paris, deren zwei erwachsene Töchter jungen Damen Unterricht im Französischen, Spanischen und Portugiesischen geben. Zum Glück hatte Papa nicht den Einfall, mir diese Wohlthat zu teil werden zu lassen (ich lerne jetzt nur noch in der Schule des Lebens! Großartig, nicht wahr?), aber eine junge Schwedin, Thora Thorskill aus Upsala, ist für ein Jahr lang Pensionärin bei Mme. Guizot und Schülerin der gelehrten Damen Yvonne und Ginèvre. Thora ist ein reizendes Geschöpfchen, so fein und elfenhaft, man muß sie lieb haben! Ihre Mutter ist kürzlich gestorben, und der besorgte Vater hat das einzige Töchterchen, dessen Gesundheit sehr zart ist, aus Vorsicht in eine ganz südländische Pension gegeben. Aber zwei Brüder hat Thora, Du würdest staunen! ... Wahre Nordlandsrecken! Besonders der jüngste, ihr Liebling, der Leutnant zur See ist, und dessen Bild sie den ganzen Tag mit herumschleppt. Thora behauptet immer, wir seien für einander geschaffen, Erick und ich, – aber ich denke überhaupt nicht ans Heiraten, besonders jetzt nicht, da ich – nun, Du wirst ja hören! Die ersten Tage nach unserer Ankunft in Funchal verlebten wir noch in Gesellschaft des Doktor Eckart. Du hast Dich aber gründlich in ihm getäuscht, liebe Dolly! Er ist der liebenswürdigste Mensch unter der Sonne und hält wirklich große Stücke auf Dich. Du warst immer der ruhende Pol, um den sich unsere oft sehr flüchtige und heitere Unterhaltung drehte. Ich werde Dir gar nicht sagen, in welch schönen Ausdrücken dieser Menschenkenner von dem lieben Waldröslein Dolly sprach. Ich bin noch stolzer auf Deine Freundschaft geworden, als ich es schon war ...«
Dollys Herz klopfte so stark, daß die Hand, die den Brief trug, zitterte, und ein Schleier legte sich zwischen ihre Augen und die Buchstaben. Waren es Glücksthränen? ...
»Als Doktor Eckart mit dem »Wildschwan« nach Hamburg zurückgereist war, kam es mir anfangs sehr einsam vor, denn auf unseren gemeinsamen Waldspaziergängen in diesem Paradiesgarten Gottes, die Thora anfangs noch nicht mitmachen durfte, war ich so ziemlich das fünfte Rad am Wagen, da Astrid mit Papa und Thoras ältestem Bruder, der zum Besuche hier ist, fortwährend ungeheuer gelehrte Gespräche führte über Botanik und Zoologie, Dermatologie und Entomologie und was weiß ich! Ich liebe zwar die Blumen und Tiere sehr, aber ich hasse wie Du die »Ologies«. Oskar Thorskill und Astrid passen in dieser Beziehung wunderbar zusammen, und das haben sie auch immer mehr gefunden und sind jetzt mit mathematischer Sicherheit zu dem Ergebnis gekommen, daß sie eins ohne das andere nicht sein können: kurz sie haben eine Addition gemacht, wie sie sonst in der ganzen Arithmetik nicht vorkommt: sie sind zwei und wollen doch eins sein! Das Leben giebt doch spassige Lektionen auf, gelt Dolly!
Die Verlobung wird Weihnachten bekannt gemacht, und im nächsten April soll die Hochzeit sein. Wir, d. h. Papa, die Brüder und ich, reisen dann alle auf die liebe Insel zurück, wo Astrid mit Thora den ganzen Winter verbleibt. Dann werde ich Erick, den sagenhaften Seebären, von Angesicht zu Angesicht kennenlernen, – er wird um diese Zeit von seiner Weltumseglung zurück sein; – aber ich werde ihm so landrattenhaft vorkommen, daß er schleunigst auf sein gutes Schiff zurückflüchtet.
Du solltest unsere Astrid einmal in ihrem Glück gesehen haben, liebe Freundin! Sie strahlte wie eine Sonnenblume am Mittag. Und der große, stattliche, gelehrte Schwager – er ist Universitätsprofessor in Upsala – ist so stolz auf sein kluges Bräutchen, daß es ordentlich rührend ist. Dabei geht es ihm jedoch wie Papa: er kann die sogenannten gelehrten Frauen, die ihr in Deutschland Blaustrümpfe nennt, in der Seele nicht leiden und liebt Astrid besonders, weil sie, wie er sagt, so echt frauenhaft und bescheiden ist.
Es scheint also, daß die gelehrten Herren ihre gescheiten Frauen immer nur als »stille Teilhaberinnen« gelten lassen wollen. Nun meinetwegen, ich freue mich, daß ich weder gelehrt, noch stille Teilhaberin bin, die Stille würde mir am Ende nicht gut bekommen! Uebrigens ist Astrid auch in dem Punkte wie ausgewechselt. Sie war so heiter wie ein Vogel im Mai und plauderte den ganzen Tag – freilich am liebsten von Oskar – ihre Brust ist nämlich wieder ganz in Ordnung, so daß sie mit uns »Kleinen«, wie der große Schwager despektirlich sagt, um die Wette singen, rudern und laufen kann. Papa und ich waren so dankbar gegen Gott, als der Arzt uns die Versicherung gab, daß Astrid kerngesund sei und ihre Nerven bei Ruhe usw. auch bald wieder in der richtigen Verfassung sein würden. Dieses liebenswürdige Orakel war – eine polnische Aerztin, Fräulein Doktor Nadina Selinska, die auch bei Mme. Guizot wohnt. Papa hatte anfangs natürlich Mißtrauen gegen den weiblichen Arzt; aber Madame beruhigte ihn und erzählte, daß die Dame in ganz Funchal das größte Ansehen genieße wegen ihrer großen Tüchtigkeit, außerordentlichen Güte und nicht zuletzt wegen ihres tadellosen Lebens. Sie war es, die Astrid wieder neuen Lebensmut einsprach und sie durch zweckmäßige Behandlung in kurzer Zeit von ihrem krankhaft ängstlichen Wesen befreite. Seither sind wir große Freundinnen geworden – trotz des Altersunterschiedes – Nadine und ich, und ich kann mir nichts Schöneres denken, als später unter ihrer Leitung arme kranke Leute zu pflegen, wie Mrs. O'Donagan es auf dem Schiffe that. Verstehst Du jetzt, warum ich nicht ans Heiraten denke? Nadine kommt mir immer vor wie Eure große mittelalterliche Heilige, die barmherzige Königstochter Elisabeth. Sie ist so innig fromm und so von tiefster Menschenliebe erfüllt. Ihr Vater war Arzt in Krakau; von ihm hat sie die Liebe zu seiner Wissenschaft, den scharfen Blick, der in der Seele liest, und die geschickte Hand, und der Vater wollte dies seltene Kind zu seiner Gehülfin machen in seiner edelen Kunst. Aber er starb, ehe Nadine ihre Studien ganz vollendet hatte. Nach ihrer Promotion kam sie mit einer alten russischen Fürstin als deren Leibärztin nach Funchal und blieb nach dem Tode der Dame auf der Insel, wo sie einen so gesegneten Wirkungskreis gefunden hat. Wie oft habe ich Dich an den Abenden des verflossenen Sommers in Nadinas trauliches Gemach gewünscht, liebe Dolly, wenn wir im kurzen Dämmerlicht plaudernd beisammen saßen! Es war so anheimelnd, so poetisch bei ihr, gar nicht so, wie man es sich bei einer Frau der Wissenschaft denkt! Alles trug den Stempel eines zartsinnigen Frauengemütes von den blütenweißen duftigen Vorhängen, den wenigen, aber kostbaren Bildern, dem wohlgeordneten Bücherschrank, darin die Werke der schönen Litteratur mehrerer Zungen reich vertreten sind, bis zu dem zierlichen Nähtische unter der Palmengruppe am hohen Eckfenster. Und in ihrem Sprechzimmer sieht es auch gar nicht so schrecklich aus. Da grüßen liebe Blumenaugen von Fenstersimsen und aus Ständern, und über dem Sofa erhebt sich eine schöne Statue des Heilandes, der die Arme weit ausbreitet, um die armselige Menschheit zu umfangen. In den Sockel aber sind die Worte gemeißelt: »Kommet alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! ...« Nadinens einziger Bruder, der ein bekannter Bildhauer ist, hat dieses Kunstwerk geschaffen. Er lebt mit der Mutter in Paris. Ich glaube, in Nadinens Sprechzimmer haben die Kranken kein Herzklopfen vor Angst, wie anderswo.
Nadine hat auch der lieben Frau Malten in deren letzten Lebenstagen so treulich beigestanden wie eine leibliche Schwester. Sie nahm mich am Vorabend von deren Tod mit in die Villa Quisisana, wo Maltens wohnten. Die Kranke lag in leichten, weißen Gewändern auf einem Polsterstuhl, unter den blühenden Rosen der Veranda. Sie war unbeschreiblich schön, wie eine Blume aus anderen Welten, mit dem Ausdrucke himmlischen Friedens in den großen leuchtenden Augen und den zarten Fieberrosen in dem feinen Gesichtchen. Ihre Blicke suchten die Sterne, als wir ein Weilchen in ruhiger Haltung gesessen hatten.
»Von oben schaut mein Kindchen herab und wundert sich, daß sein Mütterchen so lange bleibt,« sagte sie lächelnd und so leise, daß der Professor es nicht verstehen konnte, der im Nebenzimmer für die Kranke eine Limonade bereitete. Dann sprach sie noch von unserer Reise, fragte nach Dir, liebe Dolly, und versicherte, sie würde Dich und uns alle droben nicht vergessen. Wie mag diese junge Frau es angefangen haben, daß sie so leicht sterben konnte?
»Nun spiele mir das Abendlied, Liebster!« bat sie ihren Galten, als wir uns zum Aufbruch anschickten.
»Auf Wiedersehen!« hauchte sie dann, freundlich mit der durchsichtigen Hand winkend, und als wir zwischen den blühenden Büschen heimschritten, verfolgten uns die wehmütig-schönen Töne, die des Professors Meisterhand seiner Geige entlockte. Am anderen Morgen, just während des Gebetläutens ist sie gestorben. Nadine war bei ihr. »Eine Heilige ist zu Gott zurückgekehrt,« sagte sie, als sie still und bleich nach Hause kam. In Funchal unter Rosen und Palmen liegt Maria Malten begraben, und der arme Gatte ist bald darauf nach Deutschland zurückgekehrt. Ein Gerücht besagte, er sei in einen geistlichen Orden eingetreten, der der Kunst pflegt. Man sprach von Monte Cassino; aber ich kann es mir nicht denken! Der wahre Künstler muß doch frei sein, wie kann er da schaffen zwischen erdrückenden Klostermauern? Freilich lehrt Eure Religion Euch Katholiken, das Leben nach allen Richtungen und in all seinen Aeußerungen vom Standpunkt des Jenseits zu betrachten, und nun hat am Ende der arme Malten Gott seine Freiheit geopfert, um desto sicherer mit Frau und Kind im Himmel vereinigt zu werden! Nadina sprach manchmal mit mir über die Schönheit des ewigen Lebens und über die hohen ewigen und göttlichen Dinge. Da kommt einem das glücklichste irdische Leben so nichtig vor, und man läßt sich gerne Kampf und Leid hienieden gefallen im Hinblick auf den dereinstigen Lohn.
Ich korrespondiere wöchentlich mit Nadina, – ich denke mir unser Freundschaftsverhältnis so, wie das Deine zu der Freundin Hilde, von der Du so gerne erzähltest – und ich muß immer wieder denken: Welch großer Schatz ist doch ein edler Freund! Nach Astrids Hochzeit soll ich bis Mai bei Nadine bleiben, dann wird diese einen Vertreter bestellen und für sechs Wochen mit mir in mein schönes, ernstes Vaterland, das Land der Seen und der Buchenwälder reisen. Welch ein Glück für mich, daß meine Mutter eine Deutsche war, und wir Kinder diese Sprache wie unsere zweite Muttersprache lernten! Da auch Nadine sehr gut Deutsch lernte, überdies auf deutschen Hochschulen war, unterhalten wir uns fließend in der uns an und für sich fremden Zunge.
Den freundlichen Kapitän Christensen haben Papa und ich auf der Rückreise in Hamburg besucht. Er fragte u. a. auch nach unserem Reisegefährten, dem Maler Lundgren, und da hörte ich denn zu meinem Erstaunen, daß dieser es gewagt habe, hinter meinem Rücken bei Papa um meine Hand anzuhalten. Natürlich hat mein gutes, besorgtes Väterchen den Burschen abgewiesen und würde mich auch mit der Mitteilung dieser unangenehmen Sache am liebsten verschont haben. Wie glücklich sind wir doch, solch treue Wächter unseres Glücks in der Person unserer Väter zu haben! – Du wirst jetzt wohl als junge Herrin in Deines Vaters Hause walten, und Deine Glücksträume werden sich hoffentlich aufs schönste erfüllt haben, liebe Dolly! Schreibe mir doch ausführlich über alles, was Dich betrifft; es interessiert mich sehr, weil ich Dich so herzlich lieb habe. Känntest Du doch meine Nadine und ich Deine Hilde, und wohnten wir zusammen! Was für ein unzertrennliches Vierblatt würden wir abgeben! Jedenfalls aber ein glückliches! Denn glücklich wollen wir sein, und wer es ernstlich will, der kann es auch auf dieser schönen Gotteswelt.
Papa bestellt mir viele Grüße für Dich; auch Astrid läßt Dir brieflich viel Liebes sagen. Ich umarme Dich herzlich, liebste Dolly.
Stets Deine Karen.
Nachschrift.
Welch seltsames Spiel des Zufalls! Wie ich den Brief schließen will, bringt die Zofe ein eben mit der Post eingelaufenes Körbchen mit Edelobst von dem Gute unserer deutschen Verwandten bei Wismar. Ich öffnete es neugierig, und während ich die schützenden Papierhüllen entferne, fällt mein Blick auf eine Anzeige in der Kreuzzeitung vom September d. J. Sie lautet:
Dr. E. Eckart
Gabriele von Lenz
Vermählte.
Wien. Graz.
Das ist Dein Prediger! Alles stimmt bis zum Anfangsbuchstaben des Vornamens zu. Wer hätte das gedacht!! Nun, hoffentlich wird er glücklich werden und glücklich machen! Das Zeug dazu hat er! ...«
Dolly ließ den Brief aus der zitternden Hand zu Boden fallen. Ihr Blick starrte ins Leere, ohne daß sie einen Gegenstand sah. Ein entsetzliches Etwas, eine dumpfe, tote Riesenlast war in ihre Seele herabgesunken. Die ganze Welt schien ihr tot, das Licht hatte keinen Glanz, die Farbe keine Schönheit, die Blume keinen Duft, die vielstimmige Sprache der Natur keinen Klang mehr für sie.
Mit plötzlich erwachter Scham ward sie sich bewußt, wie es um sie stand: sie hatte zwar kein bestimmtes Hoffen und Wünschen gehegt; aber tief in der Seele hatte sie so oft die Fata morgana eines Zauberlandes voll Sonne und Schönheit, voll Liebe und Lust geschaut, und der Herr dieses Paradieses war er, dessen Stimme so oft noch geheimnisvoll über das weite Wasser zu ihr herüberdrang, den sie einst in übermütiger Laune verspottet, den sie doch, sich selbst fast unbewußt und ganz heimlich, so hoch über alle Menschen erhoben hatte, und an den zu denken nun Sünde vor Gott sein würde! Seltsam! Mitten in ihrem eigenen qualvollen Seelenschmerz mußte sie plötzlich an den Onkel Georges und das verhüllte Bildnis ihrer Mutter denken. Armer Mann, wie mußte er gelitten haben! Da kamen ihr die Thränen heiß und mächtig, und sie flüchtete in das Dickicht des Parkes, um sich ungestört ausweinen zu können.
Als die Abendschatten sanken, kam Nina, um sie ins Haus zu holen.
»Die Senhora ist zu Mr. Delaporte gegangen,« erzählte die treue Alte mit besorgter Miene. »Auch sie hat geweint, ehe sie wegging. Madre de Dios, welch betrübter Tag ist dieser!« ...
Dolly aber verschloß sich in ihr Zimmer. Sie fürchtete selbst die zärtlich forschenden Augen der Liebe; ganz allein wollte sie sein mit ihrem Schmerze.
Schlaflos lag sie in ihrem Bette: sie vergaß ihres Gottes in ihrem großen Leid; nur ein Gedanke durchtobte ihr Hirn und durchzitterte ihr todtrauriges Herz in Qual und Scham: »Ich hatte kein Recht an ihn – und nun habe ich ihn verloren für alle Ewigkeit!«
Daß die Mutter immer noch nicht von ihrem Gange zum Onkel zurückgekehrt sei, fiel ihr nicht auf, sie hörte auch nicht das leise Klopfen an ihrer Thüre und die besorgte Stimme von Mademoiselle Delaporte, die in gedämpftem Tone auf Nina einsprach. Die halbe Nacht hindurch lag sie so in trostloses Grübeln versunken da. Auch der alte kindische Trotz erhob sein Haupt wieder: »Warum mußte Papa auch Pompejus abweisen, ohne mich zu fragen? Jetzt hätte ich ihn am Ende genommen, dem anderen zum Trotz. In allen Zeitungen deutscher Zunge hätte ich's bekannt gemacht, dann hätte er gesehen, daß ich nicht auf ihn zu warten brauchte.« Und sie weinte die brennenden Thränen ohnmächtigen Zornes, bis sie gegen Morgen erschöpft einschlief.
Für die arme Mutter aber gab es keinen Schlaf in dieser Nacht. Sie lag zu Tode elend in den Kissen im Eilzug nach Santos, der sie zu ihrem schwer erkrankten Gatten führen sollte. Aber sie war nicht allein und verlassen. An ihrer Seite saß der Onkel Georges, der, wenn sie die Augen schloß, mit bekümmerter Miene ihr bleiches Gesichtchen betrachtete, und dann wieder so mutig zu trösten und zu erzählen wußte, wie der liebe Gott in der Not am nächsten ist, und wie aus dem Dorngerank des Leids die Rosen der Glückseligkeit sprießen.
Und am Bettchen des kleinen Paul lag die alte Nina auf den Knieen und betete unter vielen Thränen zur Mutter der Schmerzen, daß sie durch ihre Fürsprache alles Unheil von den Häuptern der geliebten Herrschaft abwenden wolle.
»Und soll einer leiden,« so flehte sie, »so laß es diesmal die alte Nina sein!« ...