Paul Schreckenbach
Der getreue Kleist
Paul Schreckenbach

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IV

Einige Tage später kam eine riesige Reisekarosse auf den Schloßhof von Zeblin gefahren. Es entstiegen ihr der Herr des Hauses, dann ein kleiner alter Herr mit einem gutmütigen, roten Gesicht und einem ungeheuren schneeweißen Hängeschnurrbart und eine alte Dame, die ihn um Haupteslänge überragte und sehr vornehm und würdevoll aussah. Das waren die Schwiegereltern des Zebliners, der Gutsherr Franz Heinrich von Manteuffel auf Groß-Poplow bei Polzin und seine Gemahlin.

Herr von Kleist bot seiner Schwiegermutter den Arm und führte sie die breite Freitreppe empor. Da ein reitender Bote die Ankunft der Gäste vorher angemeldet hatte, so waren alle sechs Kinder des Hauses mit dem Informator und der Gouvernante in ihrem besten Staat auf der Diele versammelt. Wie die Orgelpfeifen standen sie da, die beiden Knaben in ihren Sonntagswämsen mit Kniehosen und Schnallenschuhen, die Mädchen mit Reifröcken und hoher Frisur. Sie hielten sich ängstlich gerade, damit der Puder nicht herabstäube, und keines wagte dem heimkehrenden Vater entgegenzulaufen. Erst mußten sie der gnädigen Frau Großmama die Hand küssen und ihr Kompliment gemacht haben, dann durfte die Begrüßung des Vaters und Großvaters stattfinden, die weniger zeremoniell ausfiel. Der alte Herr kniff sogar seine älteste Enkelin, die hübsche dreizehnjährige Elisabeth, in die runden Wangen, aber er tat es mit einem scheuen Seitenblick. Denn seiner Gemahlin waren solche Zärtlichkeiten odiös, und sie wurde dann leicht malcontent.

»Ihre Kinder sind in ihrem Exterieur ganz agréable, lieber Kleist«, sagte die alte Dame, indem sie das Haupt etwas gegen ihren Schwiegersohn neigte. »Aber was ist's mit dem kleinen Patron? Ist er malade?« setzte sie hinzu, auf Ewald deutend, der blaß und mit verträumtem Antlitz dastand.

»Er ist in den letzten Tagen nicht ganz wohl gewesen, gnädige Frau,« bemerkte Garbrecht.

Die alte Edelfrau erwiderte die tiefe Verbeugung, die der Kandidat bei diesen Worten ausführte, durch ein eigentümliches Hochziehen der Augenbrauen. Es war die Art, wodurch sie Leuten ohne Distinktion andeutete, daß sie von ihrem Kompliment Notiz genommen habe. Dann sagte sie, zu dem Knaben gewendet: »Trinke Kamillentee, mein Söhnchen. Kamille ist in allen indispositions überaus salubre. Doch adieu einstweilen, mes enfants, au revoir bei Tisch. Kommen Sie, lieber Kleist. Führen Sie mich in meine Appartements.«

Bei Tische, wo sich die ganze Familie wieder zusammenfand, herrschte eine ziemlich gedrückte Stimmung. Die Kinder, auch hier in großer Tournüre, wagten kein lautes Wort und getrauten sich kaum etwas zu essen von den guten Dingen, die zu Ehren der Großeltern aufgetragen waren. Aber auch die Erwachsenen redeten nicht viel außer der alten Dame. Sie führte ganz und gar das Wort. Mit größter Umständlichkeit erzählte sie von einem Feste in Dresden, auf dem sie einst als Hofdame mit dem Kurprinzen von Sachsen und Kronprinzen von Polen in einer Quadrille mitgetanzt hatte. Das war der Glanzpunkt ihres Lebens gewesen, und ihr Schwiegersohn hatte die Geschichte schon zehnmal, ihr Gatte weit über hundertmal vernommen. So hörten sie nur mit halben Ohren zu und hielten sich dafür an dem guten Ungarweine schadlos, dem übrigens auch Frau von Manteuffel ganz resolut zusprach. Sie war das so gewohnt von ihrer Jugend an, denn Ungarwein war in den Schlössern des pommerschen wie des polnischen Adels das beliebteste Getränk der Herren wie der Damen. Daher wurde sie auch nicht müde und schläfrig dadurch, und es fiel ihr nicht ein, nach Tisch der Ruhe zu pflegen. Sie begann vielmehr sofort, während die Herren einen Gang auf die verwüsteten Felder unternahmen, das ganze Schloß zu inspizieren, so eingehend und gründlich, als wolle sie es demnächst käuflich erwerben. Sie tauchte überall auf, in den Zimmern der Kinder und der Mägde, im Kuhstall und in der Milchkammer, stets in der Haltung einer Fürstin, die Audienz erteilt, mit hochgetragenem Haupte und so gerade, als hätte sie eine Elle verschluckt. Aber die scharfen, grauen Augen wanderten dabei ruhelos umher und bemerkten jeden Mißstand, alles, was irgend wie fehlerhaft war, auf der Stelle.

Gegen fünf Uhr ließ sie die Herren auf ihr Zimmer bitten. »Wir wollen, lieber Kleist, gleich heute noch über einiges konferieren, denn länger als bis übermorgen früh bleibe ich nicht von meinem Hause fort.«

Dabei lud sie mit einer gebietenden Handbewegung zum Sitzen ein.

»Kannst du die Chose nicht mit Kleist allein traktieren, ma chère?« fragte der alte Herr, durchdrungen von der Erkenntnis, daß er ja doch nichts dabei zu sagen haben werde. Er hatte keine Ahnung, ob seine Gattin in ein Darlehen an den Schwiegersohn willigen werde, und fürchtete eine peinliche Auseinandersetzung.

»Es ist besser, wenn du dabei bist, lieber Manteuffel,« erwiderte seine Gemahlin, und mißmutig warf sich der gehorsame Gatte in einen Sessel.

»Also, mein lieber Kleist,« begann Frau von Manteuffel mit Würde, »Sie sind zurzeit in Ihren Umständen ziemlich stark derangiert. Ist's nicht so?«

Der Schloßherr bejahte durch ein trübseliges Kopfnicken.

»Sie brauchen, um sich zu rangieren, etwa dreitausend Taler, wie mir Manteuffel gesagt hat?«

Kleist nickte wieder.

»Die ich Ihnen ohne weitere Umschweife hiermit offeriere,« schloß die alte Dame mit großer Energie.

Die beiden Herren fuhren überrascht empor, denn daß die pekuniäre Frage so rasch gelöst werden würde, hatte keiner von beiden vermutet. Herr von Manteuffel hatte noch kurz nach Tische seinem Schwiegersohn gesagt, er glaube kaum, daß seine Frau sich zu einem größeren Darlehen werde bereit finden lassen. Die Zeiten wären zu schlecht, das Geld zu knapp. Nun gab sie es auf einmal ungebeten her, noch dazu ohne die langen und eindringlichen Vermahnungen, die sie sonst bei derartigen Anlässen von sich zu geben liebte. »Unberechenbares Weib«, dachte er bei sich, wußte aber sein Erstaunen gut zu verbergen und nickte dem Schwiegersohn lächelnd und gönnerhaft zu. Der durfte doch nicht merken, wie überrascht er selber war, mußte vielmehr glauben, er habe ihm vorher nur etwas Komödie vorgespielt.

Kleist war aufgesprungen. Sein Antlitz, über dem vorher die düstersten Sorgenwolken gelegen hatten, ward mit einem Male hell. Er hatte sich darauf gefaßt gemacht, durch Bitten und Vorstellungen seine Schwiegermutter zur Hilfe zu bewegen. Das wäre ihm blutsauer angekommen, denn das Bitten ging ihm nicht leicht von den Lippen, am wenigsten einer Frau gegenüber, deren steifes, vornehmes Wesen ihm wenig Sympathie einflößte, obwohl er andererseits ihre resolute Art schätzte. Aber um seiner Kinder willen hatte er sich dazu entschlossen. Nur ward es ihm so unverhofft leicht gemacht! Er strahlte. Am liebsten hätte er seiner Schwiegermutter die Hand kräftig geschüttelt, aber er besann sich noch beizeiten, daß Frau Julianne Eleonore das wohl sehr übel vermerkt haben würde. Sie hielt streng auf die Dehors. »Immer cavalièrement,« dachte er bei sich, »sonst nimmt sie es noch übel.« Darum unterdrückte er die natürliche Regung, ergriff mit aller Feinheit, deren seine derben Fäuste fähig waren, ihre Hand und drückte einen Kuß darauf. Dann rief er mit Emphase: »Sie wollten, teuerste Schwiegermutter, Ihre gütige Hand mir öffnen? Sie machen mich zum Glücklichsten der Sterblichen, und die Dankbarkeit gegen Sie wird unauslöschlich in mein Herz eingegraben sein!«

Diese schönen Worte waren eine Reminiszenz aus einer Komödie, in der er vor zwanzig Jahren als Hofjunker mitgewirkt hatte, als es unter dem hochseligen Vorgänger des Soldatenkönigs in Berlin noch Komödien am Hofe gab. Im Verkehr mit anderen Leuten hätte sich der biedere Landedelmann solcher Floskeln geschämt, der vornehmen Schwiegermutter gegenüber war er froh, eine so feine Wendung zur Verfügung zu haben. Er traf auch damit sichtlich den Ton, der ihr eines Kavaliers würdig erschien, denn bei seinen eleganten Worten hellten sich ihre Mienen so auf, daß man beinahe von einem huldvollen Lächeln hätte reden können.

»Ich habe es nicht anders erwartet, lieber Kleist,« sagte sie gnädig. »Ich gebe Ihnen das Geld in Gedanken an unsere liebe Marie, und weil Sie der Vater meiner Enkel sind. Aber ich würde mich doch mehr reservieren, wenn ich nicht gesehen hätte, daß Sie eine gute Wirtschaft führen. Für ein Haus ohne Frau – à la bonheur. Ich sage ohne Frau, denn es ist ja leider so; doch es geziemt mir nicht, das weiter auseinanderzusetzen, Sie wissen ja selbst, was ich meine. – Sie sind nicht schuld an Ihrem Malheur, Sie sind ein Opfer der force majeure.«

Kleist verbeugte sich dankend mehrmals hintereinander. Es fiel ihm leider nichts Geistreiches mehr ein, womit er seinen Dank hätte ausdrücken können. Er empfand bei diesen treffenden und freundlichen Worten so warme Dankbarkeit seiner Schwiegermutter gegenüber, wie er nur in jener weit zurückliegenden Stunde empfunden hatte, als sie einst seiner Werbung um ihre Tochter Gehör schenkte. Aber er wagte dem, was seine Seele erfüllte, nicht mit ungeschminkten Worten Ausdruck zu geben.

»Sie werden die Summe Michaelis erhalten,« fuhr die alte Dame fort. »Bis dahin werden ja Ihre Kreditoren sich menagieren. Natürlich, lieber Kleist, unter Kautelen, unter Kautelen! Zeblin ist schon so stark belastet, daß das Geld auch auf Warnim und Ruschitz eingetragen wird.«

»Natürlich, natürlich! Meinetwegen auch noch auf Damen und Zarnekow,« beeilte sich Herr von Kleist zu sagen.

»So wären wir darin d'accord, und es braucht darüber nicht weiter geredet werden,« versetzte Frau von Manteuffel. Sie räusperte sich. »Mit Ihrem Permiß aber, mon cher beaufils, möchte ich Ihnen noch etwas zu überlegen geben.«

»Aha!« dachte ihr Gatte, »diesmal kommt die Rede also nach. Was mag sie wohl noch für Bedingungen stellen!«

Auch über Kleists Gesicht zog eine leichte Wolke, aber er verbeugte sich zustimmend und nahm auf einen Wink ihrer Hand wieder Platz.

Die alte Dame räusperte sich nochmals. »Es betrifft Ihre Kinder, lieber Kleist. Die drei ältesten zumal. Ich sagte Ihnen schon: Sie sind von recht agreablem Exterieur. Die Elisabeth verspricht eine beauté zu werden. Aber ich bitte um pardon, wenn ich's Ihnen gerade heraus sage: In der Haltung fehlt die rechte politesse und elegance. Das Kind ist dreizehn Jahre, fast kein Kind mehr, bester Kleist. Sie müßte viel mehr Schule, mehr Dressur haben. Was jetzt darin versäumt wird, holt sie nie mehr ein. Sie macht dann in einigen Jahren, wenn sie an den Hof kommt, eine malheureuse figure.«

»An den Hof?« sagte Herr von Kleist und zog ein so erstauntes Gesicht, als ob der Vorschlag gemacht worden wäre, seine Tochter auf den Mond zu schicken.

»An den Hof. Wohin sonst? Dachten Sie, das Kind hier beständig unter den Bauern zu lassen?«

»Ehrlich gesagt, ich habe noch gar nicht darüber nachgedacht.«

»So sind die Männer. Wo soll denn das Mädchen sonst ihr fortune machen?«

»Fortune?« sagte Herr von Kleist und seufzte. »Fortune ist jetzt bei Hofe schwer zu machen. In meiner Jugend war das anders. Gott, welch ein Leben gab's zur Zeit des hochseligen Königs! Jetzt soll's ein trübseliges Dasein für die Herren und Damen in Berlin geben.«

»In Berlin?« rief die alte Dame und fuhr förmlich von ihrem Sitz in die Höhe. »In Berlin? Wer spricht davon? Gott behüte uns! Sind Sie nicht ganz wohl, lieber Schwiegersohn?«

»Na, uns Preußen liegt doch eben Berlin am nächsten,« verteidigte sich Herr von Kleist. »Und ich habe immer noch so viele Konnexionen dort, Vettern in der Armee die schwere Menge.«

»Ich bin, Gott sei Dank, keine Preußin,« erwiderte Frau von Manteuffel spitz. »Unser Groß-Poplow gehört glücklicherweise zum Königreich Polen. Grâce à Dieu, sage ich, und ich weiß, was ich damit sage. Was ist denn Preußen? Eine Kaserne und ein Zuchthaus! Was ist dieser König? Ein Korporal! Und der Hof? Mon dieu, was ist das für ein Hof! Ein paar Dutzend Offiziere und ein paar Dutzend Damen! Nie, nie, lieber Kleist, werde ich permittieren, daß meine Enkelin, die Tochter meiner seligen Marie, an diesen Hof gebracht wird. Mir ist dieser Monarch odiös, sein Ton ist mir affrös. Er indigniert mich, dieser Regent ohne allen Respekt vor den Privilegien, die wir von Gottes und Rechts wegen zu maintenieren haben.«

Sie hatte sich in einen wahren Zorn hineingeredet. Herr von Kleist rutschte währenddessen unruhig auf seinem Stuhle hin und her. Er gab ja im stillen seiner Schwiegermutter in manchen Punkten recht, denn der König war außerhalb des Offizierskorps beim Adel nur sehr mäßig beliebt. Daß er die Souveränität stabilieren wollte, wie einen rocher von bronce, ward von den vielen kleinen Herren im Lande gar übel vermerkt, besonders hier, wo man die polnische Libertät des Adels ständig vor Augen hatte. Aber es verdroß ihn doch, daß in seinem Hause so über seinen König geredet wurde, und noch dazu von jemandem, der nicht Preuße war. Einem anderen hätte er das nimmermehr raten wollen – hier zog er es vor, zu schweigen.

»Nein,« fuhr Frau von Manteuffel fort, »ich dachte natürlich an Dresden. Der Hof zu Dresden ist der type eines illustren Hofes.«

»Aber leider schauderhaft liederlich!« fuhr es Herrn von Kleist unbedachterweise heraus.

Seine Schwiegermutter richtete sich noch gerader auf, als das sonst schon ihre Art war. Sie sah mit einem Male äußerst indigniert aus. »Eh, eh!« sagte sie scharf. »Sie vergessen sich, mon cher! Ich habe acht Jahre bei Hofe gelebt, somit enthalten Ihre Worte eine outrage auch gegen mich. Ich denke, äh, mein Leben braucht in keiner relation eine critique zu scheuen. Hier ist mein Gemahl, er kennt die Strenge meiner Prinzipien. Nicht wahr, Manteuffel?«

»In der Tat, in der Tat, äußerst seriöse Prinzipien,« sagte der kleine Mann hastig, indem er seinen unermeßlich langen weißen Schnurrbart zwirbelte. »Sie täten gut, Herr Schwiegersohn –«

Aber Kleist bedurfte keiner Vermahnung weiter. Er hatte schnell begriffen, daß er eine ungeheure Dummheit gemacht habe, denn wenn sich die sensible alte Dame ernstlich ärgerte, so konnte dadurch die Sanierung seiner Finanzen in unbehagliche Ferne gerückt werden. Er sprang also auf, ergriff ihre Hand, die sie ihm nur widerwillig überließ, erschöpfte sich in Entschuldigungen und beteuerte hoch und heilig, daß ihm nichts ferner gelegen habe, als seine teure Schwiegermutter irgendwie zu beleidigen. Die alte Dame spielte noch eine Zeitlang die Gekränkte, gab aber endlich nach, als Kleist versprach, seine Tochter für den Winter nach Groß-Poplow zu geben, damit sie unter den Augen der Großmutter Unterricht in den Regeln des guten Tones, im Tanzen und im Französischen erhalte.

»Dies wäre somit parfait,« sagte Frau von Manteuffel, indem sie sich in ihrem Stuhl zurücklehnte, voller Befriedigung. »Nun kommen die Knaben!«

Durch ein wunderbares Spiel des Zufalls kamen die Knaben in diesem Augenblick wirklich in leibhaftiger Person. Man hörte draußen auf dem Vorsaal polternde Tritte, die Tür ward höchst unzeremoniell aufgerissen, und auf der Schwelle erschien Ewald, gefolgt von seinem Bruder und mehreren dörflichen Spielgenossen. Er hatte eine Heldentat vollbracht, eine Kreuzotter im Sumpfe erschlagen und suchte nun den Vater, um ihm das große Ereignis zu verkünden. Er war dabei allerdings tief in den Morast geraten, und seine Schuhe strömten einen strengen, dumpfigen Geruch aus. Aber das hätte sonst den wenig empfindlichen Vater nicht sehr gestört, er wäre vielmehr stolz auf die Courage seines Jungen gewesen. Jetzt erschrak er heftig, als der Wildfang hereinstürmte, das erlegte Reptil an einem gespaltenen Stocke vor sich hertragend.

Auch Ewald erschrak und verstummte in seinem Jauchzen, als er sich den Großeltern gegenüber sah, an deren Anwesenheit er in seinem Eifer gar nicht gedacht hatte. Er starrte ängstlich die Großmutter an, deren Blicke er plötzlich auf sich gerichtet sah.

Und wie waren sie auf ihn gerichtet! Frau von Manteuffel saß da, als wäre sie vor Schreck zu einem Steinbilde geworden. Wie so viele alte Damen, hatte sie vor Lurchen und Schlangen eine geradezu abergläubische Angst. Schon eine Kröte trieb sie in eilige Flucht, und nun baumelte da vor ihr, nur zwei Schritte entfernt, eine veritable Giftschlange, eine Kreuzotter, tot zwar, aber wer mochte wissen, ob das Vieh wirklich tot war? Das war zu viel! Sie stieß, als ihre Lebensgeister einigermaßen zurückgekehrt waren, zwei, drei schrille Schreie aus und kreischte dann, aller höfischen Bildung vergessend, in unverfälschten pommerschen Naturlauten: »Rut, rut! Enfamter Jung! Fort mit det Veih! Rut, rut!«

»Mach, daß du fortkommt,« knurrte Vater Kleist sein Söhnchen an und schob ihn unsanft rückwärts. Tiefgekränkt und heulend zog der mit seiner Trophäe und den sehr betreten aussehenden Genossen seiner Heldentat ab.

Unterdessen besann sich Frau von Manteuffel auf ihre Würde und fand einen Teil ihrer Haltung wieder. Es schoß ihr durch den Sinn, daß Prinzessin Ludovika Eleonore vor ihren Augen in Ohnmacht gefallen war, als im Parke zu Augustusburg ein Frosch vor ihr aufgehüpft war. Sie schämte sich also ihrer Natürlichkeit, denn eine Ohnmacht wäre viel mehr comme il faut gewesen. Nachholen konnte sie das nun nicht, aber sie hauchte wenigstens im Gedanken an ihre Prinzessin: »Manteuffel, mein Fläschchen!«

Der gehorsame Ehemann sprang herzu, nahm aus einer kleinen Tasche, die sie am Gürtel trug, ein Fläschchen von fein geschliffenem Glase und rieb ihr Stirn und Schläfen mit der wohlriechenden Essenz, die es enthielt.

Ihr Schwiegersohn erschöpfte sich indessen in Entschuldigungen und Komplimenten, auf die sie lange gar nichts erwiderte. Plötzlich aber richtete sie sich kerzengerade auf und streckte die Hand in königlicher Haltung aus.

»Assez«, rief sie, »Sie haben ein Exempel der Manieren Ihrer Söhne gesehen. Wollen Sie mir nicht zugeben, daß für Knaben adeliger Extraktion eine andere Edukation wohl zu wünschen wäre?«

»Mein Gott, ja!« erwiderte Kleist, die Achseln zuckend. »Natürlich. Die Mutter fehlt.«

»Das ist es,« sagte die alte Dame. »Die Knaben haben keine genügende Aufsicht. Ihre Frau, lieber Kleist – doch pardon, wir wollen darüber nichts reden. Sie müssen fort auf eine Schule. Sie müssen, sie verwildern sonst. Ich bin bereit, auch dafür die Kosten zu tragen. Nur versprechen Sie mir, daß meine Wünsche dabei respektiert werden. Ich will die Schule mit aussuchen für meine Enkel.«

Das verspreche ich Ihnen, teure Frau Schwiegermutter,« sagte Kleist zerknirscht.

»So will ich den affrösen Auftritt vergessen,« erwiderte sie majestätisch. »Gehen Sie jetzt, mon cher. Auch du, Manteuffel, kannst mich allein lassen. Ich bedarf der Ruhe.«


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