Paul Schreckenbach
Der getreue Kleist
Paul Schreckenbach

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X

Noch mehrere Tage mußte Ewald in der Klause des alten Franzosen zubringen, wohin man ihn geschafft hatte, weil das Haus der Unfallstelle am nächsten lag. Erst gegen Ende der Woche konnte er wieder in die Pfarrei übersiedeln und die Schule besuchen. Denn da die väterliche Entscheidung noch nicht eingetroffen war, so bestand der Pfarrer darauf, daß er wieder bis auf weiteres am Unterricht der Paters teilnehme.

Niedergedrückten Gemütes betrat Ewald den altvertrauten Klassenraum und setzte sich an seinen Platz. Er fühlte ganz deutlich, daß er nicht mehr hierher gehöre, daß sich zwischen ihm und seinen bisherigen Lehrern eine Kluft aufgetan habe, die nicht mehr zu überbrücken war. Bald aber merkte er mit immer wachsendem Befremden, daß auch die anderen ihn vollkommen kühl und achtlos behandelten. Zwar von seinen Mitschülern traten einige an ihn heran und drückten ihm die Hand und erkundigten sich nach seinem Befinden. Unter ihnen war auch Grabowski; doch fiel ihm das scheue, verlegene Wesen des Freundes auf. Andere aber schnitten ihn ganz und gar, und die Lehrer schienen gar nicht wahrzunehmen, daß er wieder da sei, und nahmen nicht die geringste Notiz von ihm. Das wurmte ihn doch, und er begann über diese sonderbare Nichtachtung nachzugrübeln. War man ungehalten über sein Abenteuer, weil ein Mädchen mit darin verwickelt war? Oder hatte sein Feind Lubowiecki etwas Ungünstiges über ihn verbreitet? Oder endlich – aber das war ja gar nicht möglich – sollte Grabowski über seinen Plan, die Schule zu verlassen und die Gründe dazu geplaudert haben? Das war ihm doch nicht zuzutrauen; denn ein junger Edelmann mußte wissen, was das Ehrenwort bedeute.

So ging er denn noch niedergedrückter, als er gekommen war, nach dem Vormittagsunterricht aus der Schule nach Hause. Dort empfing ihn der Pfarrer schon auf dem Vorsaale mit finster umwölkter Miene und befahl ihm, sogleich mit in sein Studierzimmer zu kommen.

»Mein Sohn,« begann er dort und sah den Knaben streng und durchdringend an, »es ist eine Büberei gegen mich verübt worden. Man hat mich zum Landrichter zitiert, und es ist mir aufgegeben, die Bücher verbotenen und in Sachen der Religion aufreizenden Inhalts sofort abzuliefern. Ich wußte gleich, auf welches Buch das zielte und lieferte es ab. Dafür soll ich zehn Gulden an Pöngeldern erlegen und habe es nur dem persönlichen Wohlwollen des Landrichters zu danken, daß man von einer Haussuchung Abstand genommen hat. Was hast du dazu zu sagen?«

»Ich?« stammelte Ewald, der während dieser Worte totenblaß geworden war. »Ich?«

»Ja, du. Denn nur durch dich kann es herausgekommen sein, daß ich die ›Drei Aktus der Thorner Tragödie‹ besitze. So wenig ähnlich dir's sieht – ich muß fast glauben, du hast mich verraten.«

»Herr Pfarrer!« schrie Ewald. »Wie können Sie das glauben! Ich habe das Buch niemandem gezeigt als Stephan Grabowski, und der hat mir sein Ehrenwort gegeben, daß er keinem etwas sagen wolle.«

Er zitterte dabei so heftig, daß die Schulbücher, die er noch unter dem Arm trug, polternd zu Boden fielen.

»Und warum hast du es ihm gezeigt?«

»Ich wollte ihm doch erklären, warum ich fort will und von den Jesuiten nichts mehr wissen mag.«

Der Pfarrer blickte ihn noch einmal scharf an, und sein Gesicht wurde dabei immer freundlicher. So sah kein Lügner aus, das erkannte er wohl. Dem großen Jungen war nichts passiert als eine Unvorsichtigkeit, er hatte zuviel vertraut und war in seinem Vertrauen getäuscht worden. Darum sagte er in weitaus milderem Tone: »Das kommt davon, wenn man sich mit dem polnischen Gelichter einläßt. Denn natürlich hat der edle Schuftislauski sein Wort gebrochen.«

»Das kann doch nicht sein!« rief Ewald so entsetzt und sah dabei so jammervoll aus, daß den alten Herrn mit einem Male ein großes Mitleid ergriff und er ihm herzlich die Hände auf die Schultern legte.

»Mein Sohn,« sagte er in gütigem Tone, »du hältst deinen Freunden die Treue, wie du das erst kürzlich gezeigt hast. Deshalb meinst du, andere müßten auch die Treue halten. Ach, gutes Kind, da bist du leider Gottes in einem schweren Irrtum! Ich, ein alter Mann, sage dies aus der Erfahrung eines langen Lebens heraus: Treue und Glauben halten ist eine Ausnahme unter den Menschenkindern, besonders aber unter den Kindern dieser Sarmatenrasse, die durch unsere Uneinigkeit dieses Landes Herren geworden sind. Sie sind nicht ohne Gaben und auch nicht ohne Tugenden, zwei Dinge aber mangeln ihnen ganz und gar: Ehrliche Geradheit und schlichte Treue. Darum wird jeder eine schwere Enttäuschung erleben, der einem Polen seine Freundschaft schenkt. Er wird früher oder später Untreue und Falschheit erfahren, wie du sie also jetzt erfahren hast, mein Sohn. Nun ziehe daraus die Konsequenz. Es steht in der Schrift: Wenn dich dein Auge ärgert, so reiße es aus und wirf es von dir. Tue danach. Reiße die Freundschaft zu diesem edlen Polen aus deinem Herzen, wenn dir's vielleicht auch bitter weh tut.«

»Erst will ich ihn selber fragen,« murmelte Ewald mit erstickter Stimme. Er wandte sich, und ehe der Pfarrer noch etwas sagen konnte, war er zur Tür und zum Hause hinaus.

Er rannte wie gehetzt die lange Straße hin, aber je näher er der Wohnung Grabowskis kam, um so mehr verlangsamte er seine Schritte. Es ward ihm elend und immer elender zumute. Eine unsägliche Bitterkeit quoll in ihm empor. Er dachte an die vielen schönen Nachmittage, die er mit diesem Jungen verbracht hatte, an ihre gemeinsamen Spaziergänge und die Angelfahrten auf dem Radunsee, wo sie einander alles mitgeteilt und anvertraut hatten, was ihre Herzen bewegte. Größeres Vertrauen hatte er nie einem Menschen entgegengebracht, und nun kam ihm der Freund so!

Es würgte ihn im Halse, und er konnte zuerst kein Wort hervorbringen, als er in Grabowskis Zimmer eintrat. Dann stieß er hastig nur die Worte hervor: »Warum hast du mich verraten?«

Der junge Pole sprang erbleichend auf. »Was willst du? Was soll das heißen?«

»Der Propst hat zehn Gulden Strafe zahlen müssen, weil er ein verbotenes Buch im Hause hatte. Nur ich und du wußten von dem Buche. Du mußt es also jemandem verraten haben.«

Grabowski sank auf seinen Stuhl zurück. »Ich habe es nicht getan,« stammelte er.

»Du mußt es gesagt haben!« schrie Ewald. »Nun lügst du auch noch? Niemand anders hat es gewußt, und nun ist es heraus.«

»Ich habe es keinem Menschen gesagt.«

Ewald blickte ihn starr an. »So? Kannst du sagen: ›So wahr mir Gott helfe?‹« Er sah ihm mit blitzenden Augen ins Gesicht, während Grabowskis Blicke scheu über den Boden hin irrten.

»Nun natürlich« – flüsterte er. »Einem habe ich's gesagt – dem muß ich ja alles sagen. Meinem Beichtvater.«

Ewald fuhr zurück. »Du hast es dem Pater Marcell gesagt?«

Grabowski suchte seine Hand zu fassen, die ihm aber heftig entzogen wurde. »Aber Kleist!« sagte er ganz kläglich. »Das muß doch sein! Das ist doch nun einmal so. In der Beichte muß man alles sagen.«

»Und du hast mir dein Ehrenwort gegeben!« rief Ewald heftig.

»Aber das gilt doch von der Beichte nicht! Das mußt du einsehen.«

»Nein, das sehe ich nicht ein,« versetzte Ewald hart. »Ein Mensch, der kein Lump ist, hält immer sein Ehrenwort.«

Grabowski fuhr puterrot in die Höhe. Seine Augen flackerten. »Das nimmst du zurück, Kleist. Sonst ist es aus mit unserer Freundschaft.«

»Wie kann einer mein Freund sein, der einem anderen alles sagen muß?« erwiderte Ewald kalt. »Dem kann ich ja nie wieder Vertrauen schenken. Mit unserer Freundschaft ist es aus. Adieu.«

Erhobenen Hauptes, aber tiefen Jammer im Herzen schritt er heim. Dort erzählte er dem Propst den ganzen Vorgang. Der lächelte bitter und sagte: »Dann ist er doch nicht so schuldig, wie ich glaubte.«

»Nicht?« fragte Ewald verwundert. »Er hat doch sein Ehrenwort gebrochen.«

»Das wohl. Aber er hat dabei unter einem Zwange gehandelt – du weißt und verstehst nicht, unter welch furchtbarem Zwange. Von frühester Kindheit an wird ja diesen armen Menschen eingeredet, daß sie ewig verdammt und verloren sind, wenn sie dem Priester nicht alles beichten, was sie auf dem Herzen haben, und was er sie fragt. So sind und bleiben sie unfreie Knechte, immer unter der geheimen Herrschaft eines anderen ihr Leben lang. Wir Evangelischen können uns in den Zustand einer solchen Seele gar nicht hineindenken, und was sie in solchem Gewissenszwange tun, dürfen wir wohl milder beurteilen.«

»Aber er hat sein Ehrenwort gebrochen,« gab Ewald starrsinnig zur Antwort. »Er hat mich verraten, und ich will nichts mehr mit ihm zu tun haben.«

In der Tat hatte er keinen Blick für den ehemaligen Freund, als er in der Klasse ihm notgedrungen wieder begegnete. Auch Grabowski tat, als sähe er ihn nicht. Obgleich sie nebeneinander saßen, grüßten sie sich nicht, blickten beide beharrlich nach der anderen Seite, und jeder plauderte forciert und aufgeregt mit seinem Vordermann.

Für die lieben Mitschüler bedeutete das eine große Sensation. Kleist und Grabowski, die man Orestes und Pylades nannte, waren auseinander! Warum? Was war geschehen? Sicher war Kleist der schuldige Teil, und die Lehrer wußten um die Sache; denn es mußte ja einem jeden auffallen, daß sie ihn mit einem Male völlig ignorierten. Was mochte da wohl noch zutage kommen! Jedenfalls etwas Hochinteressantes, was vielleicht Wochen hindurch Stoff zu Beobachtungen und Gesprächen bot.

Am aufgeregtesten war Lubowiecki, der gerade hinter Ewald saß. Er hatte seinen Haß gegen Kleist oftmals bezähmt mit Rücksicht auf Grabowski, mit dem er es nicht verderben mochte. Nun war diese Schranke gefallen, und er beschloß, das Versäumte redlich nachzuholen.

Gleich beim Beginn der zweiten Nachmittagsstunde ersah er dazu eine günstige Gelegenheit. Es sollte da eine kleine Disputation zwischen zwei Schülern abgehalten werden, wie sie in der Jesuitenschule mit Vorliebe geübt wurden. Zu diesem Zwecke ward ein größerer Saal im Obergeschoß aufgesucht, in dem zwei Katheder einander gegenüber angebracht waren. Paarweise verließen die Schüler das Klassenzimmer und schritten den Korridor entlang. Da geschah es, daß Ewald von Kleist von dem hinter ihm wandelnden Lubowiecki heftig auf die Ferse getreten wurde. Unwillig wandte er sich um, aber ein höfliches »Pardon Monsieur« tönte ihm entgegen. So mochte es denn aus Unachtsamkeit geschehen sein. Als aber der Tritt sich noch zweimal wiederholte und jedesmal dieselbe Redensart erfolgte, da erfaßte den Getretenen eine blinde Wut. Er drehte sich blitzschnell um und hieb mit dem Rufe »Pardon Monsieur!« dem Frechling eine wohlgezielte Ohrfeige ins Gesicht.

»Hundsblut!« schrie Lubowiecki und wollte sich auf ihn stürzen. Aber schon streckte sich ein langer, hagerer Arm zwischen die beiden aus, und der schnell herbeigeeilte Pater Präzeptor rief mit seiner scharfen Stimme: »Halt! Alles in die Klasse zurück und die Plätze wieder eingenommen!«

Als alle saßen, trat der Jesuit auf das Katheder und ließ seine Blicke zornbleich über die lautlos und geduckt dasitzende Schülerzahl hinschweifen. Ein solcher Auftritt war ihm in der ihm anvertrauten Klasse noch nie vorgekommen. So was passierte kaum in den unteren Klassen. Es war unerhört.

»Was bewog Sie, Kleist,« fragte er endlich mit schneidender Stimme, »einen Ihrer Lektionsgenossen ins Gesicht zu schlagen?«

Zitternd vor Empörung erzählte Ewald, was ihm begegnet war.

»Was haben Sie darauf zu sagen?« wandte sich der Jesuit an Lubowiecki. »Es ist, wie es ist,« gab der in frechem Tone zur Antwort. Der Pater ward dunkelrot und dann wieder bleich. Er richtete sich hoch auf und sah den jungen Menschen mit einem Blicke an, vor dem dieser unwillkürlich erbebte.

»Stanislaus von Lubowiecki, kommen Sie sofort hierher!« gebot er.

Lubowiecki erhob sich und gehorchte. Sein Trotz war mit einem Male verflogen, er sah aschfahl aus und wagte nicht, das Auge zu dem Pater zu erheben.

»Ich will Ihre Frechheit und Ihre Arroganz bändigen, mein Sohn,« sagte er. »Knien Sie nieder!«

Alles hielt den Atem an. Das war noch nie dagewesen, war noch von keinem verlangt worden. Würde er gehorchen?

Lubowiecki machte eine unschlüssige Bewegung und hob den scheuen Blick zum Katheder empor. Aber das durchbohrende Auge des Paters und dessen eisernes Gesicht schienen eine solche Macht auf ihn auszuüben, daß er keinen Widerstand wagte. Er kniete schwerfällig nieder.

»Nun küssen Sie den Boden!« befahl der Jesuit. »So! Nun noch einmal und noch einmal!« Und wirklich, dreimal senkten sich die Lippen des jungen Polen hinab und berührten den Estrich.

»Gehen Sie auf Ihren Platz! Kleist, kommen Sie hierher.«

»Niemals!« schrie Ewald und sprang mit glühenden Wangen auf.

»Ich befehle Ihnen, Kleist, zum zweiten und dritten Male, hierherzukommen!«

Ewald blieb starr auf seinem Platze stehen.

»Sie weigern den Gehorsam? So nehmen Sie Ihre Bücher und gehen Sie heim. Ich werde dem Pater Präfektor über Sie berichten. Er wird entscheiden, ob Sie ferner noch ein Schüler unseres Lyzeums sein können.«

Ewald ergriff seine Bücher, und ohne einen Blick auf den Pater und die Klassengenossen zu werfen, schritt er zur Tür hinaus. Hierher kam er nie wieder, das empfand er mit aller Deutlichkeit. –

»Wir können das Prävenire spielen,« sagte der Propst, als ihm Ewald, noch blaß vor Erregung, die Szene geschildert hatte. »Hier ist der Brief deines Vaters, der mich ermächtigt, dich sofort nach Groß-Poplow zu deinem Oheim zu entsenden. Du mußt freilich bis übermorgen warten, denn eher findet sich keine Gelegenheit, aber von dem Lyzeum werde ich dich auf der Stelle abmelden.« –

So machte sich denn am folgenden Tage Ewald auf, um seine Abschiedsvisiten abzustatten. Aber er hatte Unglück damit, denn Frau von der Goltz war auf ein benachbartes Gut gefahren und hatte ihre Tochter und auch seine Daniela mitgenommen. Nur Sanna traf er zu Hause an. Doch befangen und wortkarg saßen sich die beiden gegenüber, und als er ging, gab er ihr einen Kuß, wie er einst als Kind getan, als sie von ihm schied. Er weinte auch nicht, als er ihr die Hand zum Abschied bot, wie damals, und ebensowenig fand er am anderen Morgen eine Träne, als er die Stadt verließ. Denn sie war ihm nur ein Aufenthaltsort gewesen, nicht eine Heimat – die hatte er längst verloren. Auch einen Freund ließ er nicht in ihren Mauern zurück – der einzige, der seinem Herzen nahe gestanden hatte, war ihm verleidet. Einsam war er schon als Kind gewesen, und einsam war er geblieben.


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