Paul Schreckenbach
Die letzten Rudelsburger
Paul Schreckenbach

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VI.

»Eine schöne Geschichte, Bruder! Der Pater Konrad ist heimlich von der Burg entwichen. Es waren gestern zwei Mönche bei ihm, und mit denen ist er gegen Abend über die Brücke gewandelt, als wolle er sie ein Stück Weges geleiten. Aber er ist nicht heimgekehrt!«

Mit diesen Worten stürzte Heinz Kurtefrund in das Schlafgemach seines Bruders Werner, der sich gerade angekleidet hatte und auf das Glockenzeichen zum Beginn der Frühmesse wartete. Er versäumte dieses Werk der Frömmigkeit nur dann, wenn ein am Abend vorher genossener schwerer Trunk ihn am Erwachen hinderte.

»Den Teufel auch! Was hat denn das zu bedeuten?« rief der Burgherr und blickte seinen Bruder verdutzt an.

»Ja, das weiß kein Mensch, und auch ich kann mir's nicht erklären. Er hat den Schlüssel zur Kirche mitgenommen, denn er ist nirgendwo zu finden, und die Türe ist verschlossen.«

»Und hat er niemandem gesagt, wohin er gegangen ist?«

»Niemandem.«

Noch sahen sich die Brüder verwundert an, da trat Kunemund in das Gemach. »Herr,« sagte er, »diesen Brief hat einer in der Nacht mit einem Pfeile über die Mauer geschossen.«

Er bot dem Burgherrn ein vielfach zusammengefaltetes Pergament. Der schüttelte noch verwunderter das Haupt und drehte das Blatt in den Händen hin und her. »Verflucht!« brummte er, »nun ist der Kerl nicht da, der uns das lesen könnte!« Er selbst hatte zwar in seiner Kindheit Unterricht gehabt in der Kunst des Lesens und Schreibens, aber er hatte es nicht weit darin gebracht, und jetzt war das alles längst vergessen, und seinem Bruder erging es ganz ebenso.

»Wir müssen Gertrudis das Ding in die Hand geben, sie versteht es zu lesen,« riet Heinz Kurtefrund. Werner blickte ihn unsicher an und kraute sich bedenklich in den Haaren. »Wissen wir denn, was drin steht? Vielleicht erfährt sie dadurch, was wir ihr verbergen möchten und was sie lieber nicht zu wissen braucht.«

»Hm, hm, du könntest recht haben. So wollen wir hinüberschicken nach Pforte, daß sie uns einen Bruder senden, der des Lesens kundig ist.«

»Am Ende, ehe er eintrifft, ist der alte Esel, der Konrad, wieder da. Was mag dem Dummkopf eingefallen sein, daß er die Nacht von der Burg wegbleibt und früh noch nicht zurückkommt?«

»Tun doch die Kater zuweilen auch so. Warum nicht ein ältlicher Pfaffe!« versetzte Kurtefrund der Jüngere mit einem spöttischen Lachen. »Wer weiß, ob ihm nicht zugestoßen ist, was Nachtläufern hin und wieder begegnet, nämlich, daß ihn ein Nebenbuhler übel zugerichtet hat. Schicken wir nach Pforte!«

So geschah's. Aber nach einigen Stunden kehrte der Bote mit einer schier unerklärlichen Botschaft heim. Die Tore von Pforte, so berichtete er, hätten sich geschlossen, als er bis auf Pfeilschußweite herangewesen sei. Sie wären denn auch nicht geöffnet worden, trotz alles seines Klopfens, Schreiens und Tobens. Das ganze Kloster hätte dagelegen, als wäre es ausgestorben. Kein Laut hätte ihm geantwortet. Ihm sei allmählich die Sache nicht geheuer vorgekommen, er habe seinem Pferde die Sporen gegeben und sei eilig davongeritten.

»Was?« schrie Kurtefrund, als er diese Botschaft vernommen. »Ist denn die Pfaffheit ganz und gar verrückt geworden? Der eine brennt durch, die andern schließen die Tore und lassen meinen Boten wie einen Narren vor ihrem Hamsterneste stehen! Da soll doch der Teufel dreinschlagenl Mein Roß! Und zehn Mann aufgesessen! Ich will selber hinreiten, und meine Stimme soll ihnen so in die Ohren dröhnen, daß sie jedes Unfuges vergessen!«

»Mach keine Dummheiten!« mahnte sein Bruder. »Der Bischof hat uns noch nicht abgesagt, aber so gut wir ihn überfallen haben, so gut kann auch er uns überfallen. Wer sagt dir, ob nicht das ganze Kloster voll von Knechten ist und andere in einem Versteck lauern?«

»Sie können doch nicht wissen, daß ich hinreiten will, wie können sie also auf mich passen?« gab Werner zur Antwort und war von seinem Vorhaben nicht abzubringen. So ritt er denn ab und stand eine Stunde später vor dem Kloster Pforte. Es ging ihm jedoch genau wie seinem Knechte. Als er sich nahte, sah er deutlich, daß die halbgeöffneten Tore eiligst geschlossen wurden, und auf seinen Anruf gab kein Mensch eine Antwort. Schon wollte er im wilden Zorne aufschäumen, da fiel ihm gerade noch zur Zeit ein, daß machtloses Wüten, dem keine Tat folgen kann, den Mann nur lächerlich macht. Was wollte er dem Kloster anhaben? Werkzeuge, die mit Eisen überzogenen Tore zu sprengen, hatte er nicht bei sich, und hätte er sie gehabt, so wäre er nicht einmal des Gehorsams seiner Knechte ganz sicher gewesen. Denn wenn es auch meist verwetterte und verwegene Gesellen waren, die in seinen Diensten standen, so wären doch die wenigsten willig gewesen, gegen ein Kloster Gewalt anzuwenden, und er selbst schrak vor diesem Gedanken zurück.

So kehrte er denn wieder um und ritt, schwer geärgert und tief verstimmt, seinem Schlosse zu. Er war scharfsinnig genug, sich zu sagen, daß dieses Verhalten der Mönche mit seinem Angriffe auf die Saaleck zusammenhinge, und es dämmerte ihm die Ahnung auf, daß er sich in einen bösen Handel verstrickt habe. Unwirsch erzählte er seinem Bruder, was ihm begegnet war, und schickte sich an, seine Tochter aufzusuchen.

Gertrudis hatte gerade dem Grafen, der noch sehr krank war, einen neuen Verband angelegt. Er war darauf in einen tiefen Schlummer gefallen, und sie saß nun neben seinem Lager, hatte die Hände über die Knie verschränkt und starrte mit einer tiefen Falte zwischen den Brauen vor sich hin. Wie schon hundertmal in den letzten Tagen war auch jetzt wieder die Frage vor ihrer Seele aufgestiegen: Was soll ich tun, wenn dieser Mann hier ins Leben zurückkehrt?

Seit sieben Tagen weilte sie nun wieder auf der Burg. Sie war dem Heimruf ihres Vaters ohne Besinnen gefolgt und hatte ohne Widerrede die Pflege des Verwundeten übernommen. Sie bereitete Salben für ihn und legte sie ihm auf, kochte heilsame Tränklein und bot sie ihm dar, wenn er in Fieberglut lag, so wie das ihre längst verstorbene Muhme Salome sie gelehrt hatte. Sie übernahm sogar einen großen Teil der Nachtwachen und saß Stunde auf Stunde mit ihrer Magd Wendelgard an seinem Lager, während der Nachtwind um das alte Burgschloß heulte und pfiff. Natürlich wußten die Leute in der Burg, daß der Graf um sie geworben hatte, und jeder meinte, sie pflege ihn gesund, um ihm dann auf sein Schloß zu folgen als sein Weib.

Wollte sie das wirklich? Das eine wenigstens war ihr in den letzten Tagen ganz klar geworden: ins Kloster taugte sie nimmermehr. Schon die Luft, die sie dort atmen mußte, war ihr zuwider, diese Luft, die beständig durchsetzt war von einem Weihrauchdufte aus der Klosterkirche und dem Geruche der feinen Essenzen, mit denen sich die frommen Schwestern die Haare wuschen. Noch mehr zuwider war ihr der Ton, der dort herrschte, ein Gemisch von frommen Redensarten und lüsternen Zweideutigkeiten, ein Gemengsel von Gebet und Klatsch, manchmal harmlosem, oft auch sehr bösartigem, giftigem Klatsch. Es mochte ja auch andere Klöster geben in deutschen Landen, wirklich heilige Stätten, wo ein todwundes Herz fern von der Welt und hingewandt zu Gott vielleicht seinen Frieden finden konnte. Aber sie kannte keine solche Stätte, und wie sollte sie eine suchen? Wer sollte ihr dabei raten und den Weg zeigen? Und auf dem Grunde ihres Herzens lag wohl ein Widerwille gegen alles klösterliche Leben überhaupt. Sie war fromm, tat gute Werke, wo sie konnte, hielt ihr Herz rein von sündigen Gedanken und betete oft und mit tiefer Inbrunst zu den hohen Heiligen, die den armen sündhaften Menschen die Gnade Gottes vermitteln konnten. Aber der Wunsch, ihr ganzes Leben mit Gebet und beschaulicher Versenkung in Gott zubringen zu wollen, lag eigentlich ihrer Natur ganz fern, war nur unter dem Drucke schwerer Erlebnisse in ihrer Seele aufgetaucht. Insgeheim lebte doch die Sehnsucht in ihr, den Beruf des Weibes in der Welt zu erfüllen, einen Mann zu beglücken und sich von ihm beglücken zu lassen, Kinder zu wiegen und mit Liebe aufzuziehen und sich in einem tätigen und bewegten Leben auszuwirken. Eingestanden hatte sie sich das in früheren Tagen niemals, sie hatte überhaupt nie darüber nachgedacht, aber wie auf etwas ganz Selbstverständliches hatte sie doch immer darauf gehofft, daß eines Tages der rechte Mann für sie kommen werde, dem sie sich freudig zu eigen geben könne und der ihr die Lebenserfüllung bringen müsse.

Er war gekommen. Sie, die so viele Freier kühl und gleichgültig abgewiesen, hatte die rätselhafte Macht, die das Weib zum Manne zieht, in überwältigender Weise erfahren. Die stolze Burgherrntochter hatte dem armen, fahrenden Ritter ihr Herz geben müssen; was sie zu ihm zwang, war stärker als ihr starker Wille. Mit dem Ungestüm einer Naturgewalt war die Liebe über sie gekommen, alle Schranken niederreißend, alle kleinlichen Erwägungen des Verstandes überflutend. Aber lag nicht gerade darin die Rechtfertigung derer, die behaupteten, sie sei einem bösen Zauber erlegen? War es nicht mit ihrer Liebe so zugegangen, wie in jener alten Sage von der blonden Königstochter Isolde, die sie einstmals von einem fahrenden Spielmann vernommen? Die war eines alten Königs Weib, aber ein junger Held hatte mit ihr gemeinsam aus einem Becher getrunken, der einen Liebestrank in sich barg. Von Stund' an konnten beide nicht mehr voneinander lassen, sie mußten sich lieben, sie mochten wollen oder nicht, und das Ende war für beide der Tod.

Der Tod. Der Geliebte hatte ihn schon gefunden, sollte sie ihn suchen? Er war, wie man ihr gesagt hatte, im bischöflichen Kerker erdrosselt worden. Denn er hatte ein Teufelselixir gebraut, das beinah' ihren Vater, ihre Tante und ihren Großohm getötet und einen Turm der väterlichen Burg zersprengt hätte. Ihm wäre sein Recht geschehen, sagte ihre Tante, die Domina, sagte die Priorin, sagten alle Nonnen des Klosters Beuditz, und sie solle Gott und seinen Heiligen auf den Knien danken, daß sie noch rechtzeitig dem Unhold aus den Klauen gerissen worden sei. Zuerst hatte sie bitter dazu gelacht, dann trotzig geschwiegen, endlich aber war sie halb und halb von seiner Schuld überzeugt worden. Das schien ja festzustehen, daß er mit Hilfe des bösen Feindes ihrem Vater hatte Gold machen wollen und daß dieser Plan durch den alten Großohm Thymo vereitelt worden war. Wer aber mit dem Bösen im Bunde war, konnte der nicht auch anderweitig Zauber getrieben, konnte der nicht auch sie verzaubert haben?

Merkwürdig – sie empfand gar kein Entsetzen bei diesem Gedanken. Es graute ihr nicht, wenn sie seiner gedachte, es fiel ihr nicht ein, ihn zu verdammen wegen seiner Schuld. Sie wünschte nur, daß er leben, leben möchte und daß sie ihn wieder mit ihren Armen umschlingen könnte. Wäre er lebend vor sie hingetreten, so wäre sie ihm ohne Bedenken gefolgt, wohin er sie geführt hätte, auch in ein Leben voller Armut und Not.

Konnte sie mit dieser Liebe im Herzen, auch wenn sie einem Toten galt, eines anderen Mannes Weib werden? Ein Ekel stieg ihr bei diesem Gedanken in der Kehle auf. Und doch – was sollte sonst aus ihr werden? Ihrem Vater war sie tief entfremdet. Er war mitschuldig an des Geliebten Tode. Darüber würde sie niemals hinwegkommen, das würde immer zwischen ihm und ihr trennend stehen – das fühlte sie wohl. Sollte sie nun auf seiner Burg sitzen, Jahr für Jahr, mit Groll gegen ihn im Herzen und doch von seiner Gnade leben, sein Brot essen? Ein elendes Leben! Aber sie konnte ihm nur dann entgehen, wenn sie das Weib des Mannes wurde, der, in ein ruchloses Abenteuer ihres Vaters verstrickt, schwer zu Schaden gekommen war, und den sie nun pflegte.

Das alles hatte sie schon oft durchdacht in den letzten Tagen und Nächten, und eben jetzt war es ihr wieder durch die Seele gezogen. Und mit einer Art widerwilliger Neugier betrachtete sie die Züge des schlummernden Grafen. Das sollte nun der Mann sein, den ihr das Schicksal bestimmt hatte? Es fiel ihr ein Ausspruch ihres Vaters ein, den sie als Kind gehört hatte, ohne daß er es wußte, und der ihr im Gedächtnis haften geblieben war: »Die Schwarzburger und die Kevernburger sind vom selben Stamm, aber wie die Schwarzburger den größten Teil der Erbgüter überkommen haben, so ist auch der Geist der Ahnen zu drei Vierteln auf sie übergegangen.« Das hatte von den beiden älteren Grafen gelten sollen, aber von dem hier galt es sicherlich ebenso. Wenn sie dieses ehrliche und biedere, aber plumpe, einem dicken Sperlingskopfe ähnelnde Gesicht mit den scharfgeschnittenen Zügen Klaus Kyburgs verglich, so mußte sie beinahe ein hartes, bitteres Lachen unterdrücken. Er mochte wohl ein ganz guter Geselle sein, und er machte ihr die zärtlichsten Augen und schien es schmerzlich zu empfinden, daß sie ihn nicht mit ihren Armen umfing und ihn küßte und herzte, wie das seiner liebenden Braut zukam, wofür er sie ja wohl schon halten mochte. Aber es wäre ihr ganz unmöglich gewesen, ihm mehr zu geben als ruhige Freundlichkeit, und wenn er einmal mit der gesunden Rechten ihre Hand an seine Lippen zog und ein paar ungeschickte Worte dazu stammelte, so errötete sie über und über, und ihr war zumute, als dulde sie etwas Unrechtes. Gut, daß er meist kraftlos schlummerte oder im Fieber lag.

Aber was sollte werden, wenn er gesundete und seine Kraft wieder erlangte? Da mußte sie sich auf der Stelle entscheiden, ob sie wirklich seine verlobte Braut sein wollte, wie ihr Vater seinem Vater und Oheim kundgetan hatte. Und weigerte sie sich, so mußte der Zorn ihres Vaters von neuem aufschäumen.

Ihr ward weh und jammervoll zu Sinne, wenn sie daran gedachte, wie ihr Herz an ihrem Vater gehangen hatte, als sie noch ein Kind war, wie die Gewalttaten der letzten Jahre, die er begangen, sie ihm leise entfremdet hatten, und wie nun eine tiefe Kluft zwischen ihnen aufgetan war. So saß sie in trüber Versunkenheit da, ein Bild des Herzeleids, als jetzt die Tür aufging und ihr Vater in das Gemach blickte.

Verwundert ruhte sein Auge auf seiner Tochter, die ihn zunächst gar nicht bemerkte, und zum ersten Male sah er, wie sie sich verändert hatte in der letzten Zeit. Wo waren die blühenden Farben hin? Wo war der Ausdruck freudigen Stolzes, der sonst ihr Antlitz so eigenartig verschönt hatte? Hier saß ein müdes, leidgeprüftes Weib, das um den Mund einen bitteren Zug des Schmerzes trug. Düster, mit tief gefurchter Stirn schaute er auf sie hin, und ein furchtbarer Grimm schwoll von neuem in ihm empor über den Menschen, der das alles durch seine verfluchten Zauberkünste verursacht hatte und der seinem verdienten Schicksal entgangen war. Er sollte sogar bei dem Bischof in hoher Gnade stehen und Aufnahme gefunden haben unter dem ritterlichen Gefolge des geistlichen Herrn. Es war eine böse, verkehrte Welt, in der man jetzt lebte! Die zu Hirten des Volkes und zu Hütern des Rechts bestellt waren, die vergaßen schändlich ihrer Pflicht und erhöhten die Schelme, statt sie zu strafen. Es war gar nicht unmöglich, daß der Bischof den fremden Schuft mit einem ritterlichen Lehn begabte, und daß nachher der Kerl noch einmal als Freier an das Tor der Rudelsburg anklopfte. Dann konnte es geschehen, daß dies verblendete und betörte Weib sich von ihm entführen ließ. Denn sie war von seinem Zauber noch nicht frei und trauerte ihm noch immer nach, das konnte jeder ihrem Gesicht ansehen.

Am liebsten hätte er seine Tochter gar nicht angeredet, denn sie mied ihn, wo sie konnte, und wenn sie in seiner Nähe weilen mußte, so war sie wie ein Bild von Stein. Aus eigenem Antrieb hatte sie noch nicht einmal das Wort an ihn gerichtet, so lange sie wieder auf der Burg weilte; ja, sie schlug nicht einmal die Augen in seiner Gegenwart auf, sondern stand da, als wäre sie erstarrt. Hätte er ihre Hilfe nicht gebraucht, so wäre er gewiß lieber fern geblieben, denn es ward ihm schwül und unbehaglich zu Sinn, wenn er sie nur ansah. So hatte er sich denn, bevor er sich zu ihr begab, mit allen Kräften bemüht, das Schreiben selbst zu entziffern, das über die Mauer geflogen war. Aber nach einer Viertelstunde heißer Arbeit hatte er einsehen müssen, daß seine Kunst nicht ausreichte; er mußte sie zu Rate ziehen. Das wurmte ihn gewaltig, denn es kostete ihn Überwindung, und außerdem – konnte er denn wissen, ob sie nicht dadurch etwas erfuhr, was ihr besser verborgen blieb?

Zögernd, ganz gegen seine Gewohnheit unsicher trat er vollends in das Gemach herein. Gertrudis schrak aus ihren Gedanken auf und erhob sich, aber in dem kurzen Blicke, den sie ihm zuwarf, lag eisige Abwehr.

»Es hat einer einen Brief über die Mauer geschossen. Wahrscheinlich hat er sich nicht getraut, ihn am Tore abzugeben,« sprach Kurtefrund rauh. »Der Pfaffe Konrad ist gestern abend von der Burg entwichen und noch nicht heimgekehrt. So lies ihn mir vor, denn ich muß wissen, was drin steht. Es wird wohl eine Absage sein von irgendwem.«

Ohne ihren Vater anzusehen, streckte Gertrudis die Hand nach dem Zettel aus, löste die Schnüre und überlas ihn für sich. Als sie zu Ende gekommen war, zeigte ihr Antlitz einen noch bleicheren Schein als vorher, und in ihren Augen glomm ein düsteres Feuer auf. Voll und fest richtete sie jetzt den Blick auf ihren Vater, und mit schneidender Stimme, wie sie noch nie zu ihm gesprochen, sagte sie: »Das Schreiben ist vom Naumburger Bischof. Es ist gekommen, wie es kommen mußte!«

»Sagt er mir ab?« rief Kurtefrund.

»Er sagt dir nicht ab. Er schlägt nicht gegen dich mit dem Schwert, er gebraucht eine andere Waffe, die Waffe, die ihm sein Bischofsamt in die Hand gibt. Er schlägt dich mit dem Bann, er verbietet jedem Priester seines Sprengels, deine Beichte zu hören, deine Sünden zu vergeben, dir den heiligen Leib des Herrn zu reichen. Dein Leib soll, wenn du stirbst, ruhen in ungeweihter Erde, deine Seele« – hier stockte sie, als ob eine Schwäche sie anwandeln wollte, aber mit übermenschlicher Kraft ihre Bewegung niederzwingend, fuhr sie gleich darauf fort: »Deine Seele übergibt er dem Teufel. Deine Mannen entbindet er ihres Eides und bedräut sie mit gleichem Fluche, wenn sie dir trotzdem anhangen sollten. Dein Geschlecht verflucht er, daß es verdorren möge. Das ist des Bischofs Botschaft an dich, Vater.«

Sie hatte leise und mit eintöniger Stimme gesprochen, wie sich's ziemte am Lager eines Kranken, der ihrer Pflege anvertraut war. Aus Werner Kurtefrunds Munde aber brach jetzt ein Laut, der den Grafen halben Leibes von seinem Lager auffahren machte. Es klang wie das Schnauben eines schwergereizten Keilers. Aber ehe er Worte fand für seinen Zorn, streckte Gertrudis den Arm aus und sagte: »Nicht hier, Vater! Denke daran, daß der hier wund und auf den Tod krank ist!«

Werner Kurtefrund warf ihr einen wilden Blick zu, aber er dämpfte doch seine Stimme zu einem heiseren Zischen, als er nun losbrach: »In die Hölle verdammt sei der schöne Johann von Miltitz! Hahaha! Das Pfäfflein gebärdet sich, als wär's der Papst. Den Bannfluch, den der Heilige Vater in Avignon gegen den Kaiser geschleudert, hat der Naumburger Baalspfaffe getreulich abgeschrieben! Aber die Welt ist groß, und der Sprengel des Halunken reicht nur wenige Meilen weit. Weigern mir seine Diener die Absolution, so reit' ich ein paar Stunden und finde sie im Sprengel des hochwürdigen Pfaffen von Merseburg. Womit er mich treffen will, das ist ein Nichts, das sind Worte, Worte, eitles, leeres, widriges Pfaffengeschwätz!«

»Nur daß sich ihre Folgen schon zeigen. Oder meinst du nun, der Priester Konrad sei von selbst und aus Zufall von der Burg entwichen? Man wird ihm zugetragen haben, was der Bischof gegen dich getan hat, und da hat er bei Zeiten die Flucht ergriffen.«

»Der Geschorene folgt dem Geschorenen! Möge er zum Teufel fahren!« gab Kurtefrund finster zur Antwort.

»Und die Knechte? Der Bischof entbindet sie ihrer Eide. Hüte dich, daß sie seine Worte nicht erfahren!«

»Da wär' ich wahrlich der größte Narr! Auf der Stelle künd' ich es ihnen, daß sie sehen, ich fürchte mich nicht und traue ihrer Treue!« Er faßte seiner Tochter Handgelenk und zog sie nach der Tür mit hin. »Du folgst mir und bist dabei, wenn ich sie befrage, daß du siehst, was der armselige Hans von Naumburg über sie vermag!«

Sie wand ihre Hand aus seinem Griffe. »Ich folge dir ohne Zwang,« sagte sie und schritt hinter ihm die Stufen hinab. – –

Vor dem Pallas der Burg, in dem die Herrengemächer lagen, erhob sich ein breiter, steinerner Altan, zu dem man auf zwanzig Stufen aus dem Hofe hinaufstieg. Er war der Tür vorgelagert, die in das Schloß führte, und auf ihm stand links in der Ecke eine uralte Rolandssäule, aus steinhartem Eichenholze geschnitzt. Um den Hals des Bildes hing an rostiger Stahlkette ein riesiges Horn. Vor mehr als hundert Jahren war Herrn Werners Urgroßvater in die Dienste des Landgrafen Ludwig von Thüringen getreten, dessen Gemahlin die fromme Königstochter aus Ungarn war, die jetzt die Christenheit als Heilige verehrte. Der hohe Herr war mit seinem Gefolge in den ungeheuren Wäldern, die vom Schlosse Raspenberg an sich über die Hügel der Finne hinzogen, eines Tages ausgezogen, den wilden Auerstier zu jagen, und die Hunde hatten die Fährte eines der gewaltigen Tiere aufgespürt. Allen voran stürmte der Fürst, begierig, mit seinem Spieße den König des Waldes zu fällen. Aber als er an ihn herangekommen war, fehlte sein Speer, denn das Roß hatte sich mit den Füßen in Schlingwurzeln verfangen und kam zu Fall. Halb betäubt lag der Landgraf auf der Erde, und der wütende Stier wollte sich eben auf ihn stürzen. Da sprang im Augenblicke der höchsten Gefahr der bärenstarke Albrecht Kurtefrund herzu und schlug seine Axt dem Riesen von der Seite so tief in den Hals, daß ihm das rote Blut wie ein Springquell entströmte und er sein Leben lassen mußte. Der Landgraf schlug den starken und kühnen Mann auf der Stelle zum Ritter, die Fürstin schenkte ihm einen Rittergurt, den sie mit eigenen Händen genäht und gestickt hatte, und eines der gewaltigen Hörner des Untieres ward ihm, mit schwerem silbernen Mundstück versehen, zum Andenken übergeben. Der Gurt ward jetzt als teure Reliquie der Heiligen aufbewahrt, und das Horn hatte Albrechts Sohn, der auf die Rudelsburg kam als Kastellan des Landgrafen Heinrich von Wettin, am Halse der Rolandssäule aufgehängt. Wollte der Burgherr alle seine Knechte im Hof der Innenburg versammeln, so sollte er in dieses Horn stoßen, und außerdem sollte keines Burginsassen Mund das Horn der Kurtefrunde berühren. Daß einer der Gerufenen seine Stimme überhören könne, war nicht zu befürchten, denn sein Klang war zu hören bis weit über das Dörflein unter der Saaleck hinaus und bis über die Felder, die hinter dem kleinen Vorwerk Kreipitzsch sich dehnten.

Dieses Horn führte jetzt Werner Kurtefrund an die Lippen und blies mehrmals hintereinander mit aller Kraft seiner Lungen hinein. Ein Mark und Bein durchdringender, schauriger Ton gellte jedesmal über die Burg hin, und schon nach wenigen Minuten war der Hof mit Reisigen und Knechten angefüllt. Sie kamen gelaufen, wie sie eben waren, die meisten ohne Waffen und in ihren Hausgewändern. Nur die rittermäßigen Dienstmannen trugen ihre breiten Schwerter an der Seite. Sie drängten sich dicht an den Altan heran, um zu hören, was ihr Herr ihnen zu sagen habe.

»Mannen und Leute!« rief Werner Kurtefrund, neben dem nun außer seiner Tochter auch noch sein Bruder stand, »ich habe Euch eine neue Zeitung zu künden vom Bischof. Ihr seid mit dabei gewesen, wie ich sein Schloß, die Saaleck, zu gewinnen suchte in der Nacht. Ich tat es, weil ich sichere Kunde hatte, daß der böse, meineidige Pfaffe wollte zu meinen Feinden treten. Da wollt' ich ihm die Burg zuvor abgewinnen, auf daß er uns von dort aus keinen Schaden zufügen könnte. Der Teufel aber hat gemacht, daß mir der Plan mißriet. Und was tut nun der Schelm? Er sagt mir nicht ab, wie ein ehrlicher Feind, er sucht mich zu treffen mit seinem Banne. Ich soll verflucht sein, kein Priester soll mir die Beichte hören, jeder, der zu mir hält, soll verdammt sein, wie ich selbst, die Eide, die Ihr mir geschworen habt, sollen nichts mehr gelten. Nun sprecht! Was sagt Ihr dazu? Glaubt Ihr, daß Johann von Miltitz die Macht hat, Eure Seelen zu verdammen, und wollt Ihr mich achten als einen Gebannten, so halte ich Euch nicht bei mir. Ein jeder gehe, wohin es ihm gefällt!«

Schon seine letzten Worte wurden durch Murmeln und laute Zurufe unterbrochen, und als er nun geendet hatte, brach ein großer Lärm unter den Knechten aus. Alle sprachen und schrien zu gleicher Zeit, und deshalb war keines Menschen Stimme deutlich, bis mit einem Male der lange Buffo Heseler aus dem Haufen die Treppe ein paar Stufen emporsprang und von dort aus seine Mütze gegen die Knechte schwenkte. Er war ein erprobter Fähnleinsführer, an Stärke und an List allen überlegen, und stand deshalb bei allen in der Burg in höchstem Ansehen. Daher legte sich der Lärm auf sein Zeichen hin, alle waren der gewissen Meinung, daß er ihre Gedanken trefflich zum Ausdruck bringen werde.

»Herr!« rief er laut, »ich bin Euer ältester Mann, laßt mich für diese alle sprechen. Und ich sage Euch dies: Wir halten Euch den Eid, den wir Euch geschworen haben, ohne alles Besinnen. Hätt' Euch der Papst in den Bann getan, so könnte wohl ein Zweifel sein, wie wir uns halten sollen, denn wir müssen das Heil unserer Seele bedenken. Aber was der elende Matz von Naumburg faselt, das gilt uns nur einen Quark. Ist das nicht so, Freunde?«

»Ja, ja! Heil Heseler! Heil!« klang's von allen Seiten. Der strich sich den dünnen roten Schnurrbart und fuhr fort: »Einen Pfaffen, Herr, müssen wir freilich auf der Burg haben. Denn er muß uns die heilige Messe lesen und die Gebete vor dem Altare raunen, die den Heiligen genehm sind und auf die sie hören. Und wenn einer zu Schaden kommt, so muß er ihm die Beichte hören und ihn lossprechen, damit er nicht in seinen Sünden hinüberfährt. Nun hat der Pfaffe Konrad die Burg verlassen, wie ich meine, weil es ihm der Bischof heimlich geboten hat. Aber will uns der Bischof keinen Pfaffen gönnen, so nehmen wir uns einen. Drunten in seinem Dorfe Saaleck sitzt ein feistes Pfäfflein. Den holen wir uns herauf, und wenn er sich etwa weigern sollt', uns zu dienen, so halten wir ihm die Fußsohlen gegen ein helles Feuerlein, bis er uns freundlich zu Willen ist! Das wär' mein Rat. Nichts für ungut, Herr!«

Brüllendes Gelächter und großer Beifall lohnten seine Rede. Auch Kerr Kurtefrund schmunzelte.

»Der Pfaff' sitzt unten in den Weiden an der Saale und angelt nach fetten Barben! Ich habe ihn vorhin sitzen sehen,« rief eine Stimme aus dem Haufen.

»So brich hinunter, Busso Heseler, mit fünfzehn Mann und hole ihn herauf!« gebot der Burgherr, dem der Gedanke seines Dienstmannes sehr ergötzlich und zugleich sehr rätlich erschien. Denn auch er wollte für die Heiligtümer der Burg einen Verwalter haben und zweifelte nicht, daß der alte Pfarrer von Saaleck einer ernstlichen Bedrohung keinen Widerstand entgegensetzen werde. Er hörte nicht nach seiner Tochter hin, die ihn beschwor, die neue Gewalttat zu vermeiden, er schrie vielmehr: »Ihr alle waffnet Euch! Kommen die aus der Saaleck hervor, um ihren Pfaffen zu befreien, so eilen wir Heseler zu Hilfe!« Damit sprang er selbst nach seiner Waffenkammer. –

Eine Viertelstunde später war der Fang gelungen, der wohlbeleibte Pfarrer von Saaleck war auf die Burg gebracht worden, und die Bischofsmannen waren zu seiner Befreiung nicht zeitig genug erschienen. Er stand jetzt im Hofe vor Herrn Werner Kurtefrund, der ihn behaglich lächelnd betrachtete.

»Pater Eustach,« sagte er, »es ist mir unlieb, daß Euch die Meinen so rauh angefaßt haben, aber es ging nicht anders. Mein Pfaff ist fort, kommt auch nicht wieder, und einen müssen wir haben.«

In diesem Augenblicke trat Gertrudis aus der Tür. Sie hatte eigentlich der Szene fern bleiben wollen, aber sie hatte es doch nicht über sich gewonnen. Sollte hier etwa eine abscheuliche Tat vollbracht werden, so wollte sie sich dazwischen werfen, denn sie empfand keine Furcht mehr vor ihrem Vater, vielmehr war es ihr ganz gleichgültig, ob sie das Leben dabei verlor. Da ihr Vater und der Priester dicht unterhalb der Treppe standen, so konnte sie jedes Wort vernehmen.

Sie hörte, wie ihr Vater fragte: »Ihr wißt schon, daß der Bischof mich gebannt hat?«

»Ich weiß es,« klang die Antwort des Greises, der trotz seines Schreckens eine würdige Haltung bewahrte.

»So rate ich Euch denn im Guten, kümmert Euch nicht um des Bischofs Geschwätz und verwaltet Euer Priesteramt auf meiner Burg, als wäret Ihr mein Kaplan und ich lebte mit dem Bischof in tiefstem Frieden.«

»Und wenn ich mich dessen weigerte, Herr?«

»So wüßt' ich Euch zu zwingen. Das glaubt gewiß!«

»Vor der Rache des Himmels fürchtet Ihr Euch nicht, das weiß ich,« erwiderte der Greis nach einigem Besinnen. »Aber fürchtet Ihr auch nicht die Rache des Bischofs?«

Werner Kurtefrund lachte laut auf. Die Wangen des alten Priesters röteten sich. »Wißt Ihr noch nicht, Herr,« rief er, »was in Naumburg geschehen ist?«

»Nein! Wovon redet Ihr?«

»Sie haben dort eine Maschine, mit der schießen sie Häuser ein. Ein schwarzes Kraut, von dem ein Dampf ausfährt, schleudert Kugeln fort mit ungeheurer Wucht, und der Meister, der ihnen das gemacht hat, das ist derselbe Mann, den Ihr auf Eurer Burg« – –

»Schweigt!« brüllte der Ritter, und mit einem schrecklichen Blick nach seiner Tochter hin faßte er den Alten an der Kehle. Aber es war zu spät. Gertrudis hatte alles gehört. Totenbleich kam sie langsam die Treppen herab. Sie bohrte ihre glühenden Blicke in die Augen des Vaters, der den Priester hatte fahren lassen und nun keuchend und nach Fassung ringend vor ihr stand.

»Betrogen, Vater?« fragte sie dumpf und kaum hörbar. Dann schrie sie laut auf: »Mein Gott! Er lebt! Er ist nicht tot!« und sank wie leblos in die Arme ihrer Magd Wendelgard.


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