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Zwanzigstes Kapitel

Auf der Rückfahrt hatte Jean den Kutscher so gedrängt, daß er in weniger als anderthalb Stunden wieder in Kerdren war. Seine Frau erwartete ihn nicht so schnell zurück, und obgleich sie den Wagen in den Hof fahren hörte, hatte sie sich noch nicht von ihrem Platz erhoben, als er in den Salon trat – so schnell war er die Treppe hinaufgegangen. Sie saß in einem großen Lehnsessel und lehnte den Kopf etwas hinten über, die Hände ruhten in ihrem Schoß, und auf Stirne und Augen fiel das Licht einer hinter ihr stehenden Lampe. In dieser Haltung lag ebenso viel Ruhe als Müdigkeit, aber Jean sah nur diese und fragte, während sie sich aufrichtete und ihm lächelnd die Hand entgegenstreckte, ängstlich: »Bist du müde?«

»Höchstens faul,« erwiderte sie lustig, »du kennst ja meine Leidenschaft für Lehnsessel. Seid ihr noch rechtzeitig zur Bahn gekommen?«

Während sie sprach, betrachtete er sie aufmerksam und durchforschte ihr Antlitz Zug um Zug.

Gewiß, sie war abgemagert, und zum erstenmal entdeckte er unter ihren Augen leichte bläuliche Ränder, die ihrem Blick einen tiefen und anziehenden, aber auch etwas traurigen Ausdruck gaben. Ein wahnsinniger Zorn über sich selbst befiel ihn.

»Ein Fremder mußte kommen und –«

Als Alice, über sein Schweigen verwundert, ihre Frage wiederholte, erwiderte er nur: »Gewiß, gewiß!«

Dann fuhr er in leicht verändertem Tone fort: »Ich freue mich um so mehr, daß du nicht müde bist, da ich dich fragen wollte, ob du dich kräftig genug fühlst, die lange Fahrt nach Paris zu machen, um dort einige Tage mit mir zu verbringen, und ob wir morgen abreisen können.«

»Morgen?« sagte sie etwas verblüfft über diese unerwartete Nachricht, »morgen nach Paris? Hast du Geschäfte dort?«

»Mein Gott, Elbruc hat mich abkapitelt! Es scheint, daß in Lorient Veränderungen und Versetzungen bevorstehen, und es ist möglich, daß auch ich davon berührt werde. Natürlich kann ich ans Ministerium schreiben, aber ein Brief von zwanzig Seiten nützt weniger als fünf Minuten mündliche Unterredung. Gleichwohl würde ich dich nicht gern allein hier zurücklassen …«

»Ich werde natürlich bereit sein,« erwiderte sie lebhaft, »nichts ist netter, als etwas Unvorhergesehenes!«

Ein eigentümliches Lächeln spielte um Jeans Lippen, aber die junge Frau hatte den Kopf abgewendet und sah es nicht, und als sie einen Augenblick später ihre Augen zu ihrem Gatten aufschlug, zeigte sein Gesicht wieder den gewohnten Ausdruck. Den Rest des Abends beschäftigten sie sich nur mit Anordnungen und Vorbereitungen zu ihrer Abreise.

*

Schon zwei Tage befanden sich die jungen Gatten im Grand Hotel. Jeans Geschäfte nahmen so wenig Zeit in Anspruch, daß er sich völlig seiner Frau widmen und sie begleiten konnte, wohin sie wollte. Wie er Alice gesagt hatte, war er für den Augenblick vor jeder Versetzung sicher, und obgleich der Zweck seiner Reise nach Paris erreicht zu sein schien, sprach er doch nicht vom Abreisen, und die Hast, womit er Kerdren verlassen hatte, schien sich wieder ganz gelegt zu haben. Auf die Frage seiner Frau hatte er erwidert, er habe acht Tage Urlaub erhalten, und diesen schien er bis auf die letzte Minute ausnützen zu wollen.

Seine Stimmung war seit seiner Anwesenheit in Paris nicht mehr die alte, und man hätte meinen können, er fühle sich von einer unbekannten Last bedrückt. Er schien ständig an etwas zu denken, was er wünschte, und doch nicht auszusprechen wagte.

Eines Abends saß Frau von Kerdren an ihrem Fenster und unterhielt sich an dem Getriebe, das diesen Teil des Boulevards belebte; sie verglich es mit dem Frieden und der Stille ihres bretonischen Nestes und sagte dann, indem sie auf die telephonischen Anlagen deutete, die seit ihrer Abwesenheit in Paris gemacht worden waren, lachend zu ihrem Manne: »Denke dir einmal, wie es sein wird, wenn all dieses Geräusch durch einen kleinen Draht bis in unsern Park geleitet wird, wo wir dann einen Akt aus den Hugenotten mit anhören können, während wir den Mond über unsern Bäumen aufgehen sehen!«

»Das wird dann das Ende der Eisenbahnen sein,« erwiderte Jean nicht weniger lustig, »und wir werden alte Leute, ohne über unsre Schwelle hinauszugehen! Jedenfalls werden wir angesichts dieser baldigen gänzlichen Zurückgezogenheit wohl daran thun, vorsichtshalber noch schnell alle Hilfsmittel der Civilisation auszunützen. So wirst du zum Beispiel, solange wir hier sind, einen Arzt zu Rate ziehen und eine Verordnung gegen diesen Katarrh, der mir doch etwas allzu lange dauert, mit nach Hause nehmen. Willst du? Du weißt nicht, wie naßkalt unsre bretonischen Winter sind, und ich möchte nicht gerne, daß du dieses Unwohlsein mit in den Winter hinein bringst.«

»Einen Arzt?« gab sie überrascht zurück, »aber welchen? Ich kenne keinen, und dieser Husten hat wirklich nichts auf sich.«

»Gewiß nicht,« erwiderte Jean eifrig, »aber warum willst du nicht trotzdem etwas dagegen thun, wenn auch nur mir zuliebe. Und wenn wir Kerdren nicht mehr verlassen wollen …«

Lächelnd und zustimmend nickte sie mit dem Kopf, antwortete aber nicht, sondern trat näher an den Altan, um wieder hinauszusehen.

Allein nur ihre Augen hafteten auf den Wagen und Fußgängern unten, ihr Geist schweifte in die Ferne und verfolgte einen schmerzlichen Gedanken, dessen Wiederschein über ihre Züge flog. Jean stand neben ihr, sie ängstlich beobachtend, und sah einen der trüben Gedanken um den andern auf diesem beweglichen Antlitz aufsteigen, auf dem er den geringsten Eindruck zu lesen gelernt hatte.

Während er noch unentschlossen überlegte, was er sagen und thun sollte, wandte sie sich lebhaft zu ihm um.

»Und zu wem willst du mich führen?« fragte sie mit einem leichten Zittern in der Stimme, das sie vergeblich zu unterdrücken suchte.

»Zu wem du willst, selbstverständlich,« erwiderte er ganz unbefangen, obgleich sich seine Verlegenheit steigerte. »Weißt du keinen Arzt, der dich oder die Deinigen früher behandelt hat und den du gern zu Rate ziehen würdest?«

»Nein, keinen … Ich bin in meinem Leben nur einmal krank gewesen, und das war in einem spanischen Dorfe, wo ich von einem Barbier behandelt wurde.«

Und nun kam ihr die Erinnerung an dies Abenteuer, und sie lachte mit dem ihr eigenen jugendfrischen Lachen, während sie ihrem Gatten diesen modernen Figaro schilderte, wie er sie, mit einer Lanzette bewaffnet, mit reichlichen Aderlässen bedrohte und sich mit ihrem Vater herumstritt, der sie davor schützte, während nebenan im Stall, der nur durch eine dünne Bretterwand von ihrem Bett getrennt wurde, die eng zusammengepferchten Maultiere und Ziegen einen Höllenlärm vollführten, der auch den gesündesten Menschen krank gemacht hätte.

Gleichwohl war sie wieder genesen – es gehörte so wenig dazu!

Bei den letzten Worten verschwand ihre Munterkeit; schweigend hörte sie die Namen an, die ihr der junge Mann nannte, und blieb den ganzen übrigen Abend nachdenklich und ernst.

»Der Gedanke ist dir doch nicht unangenehm?« fragte Jean später, als sie vom Altan ins Zimmer traten, »das wäre mir sehr leid.«

»Nein, nein,« erwiderte sie sanft, »ich war ein wenig überrascht, weiter nichts – es ist vielleicht ganz gut.« Dann zögerte sie einen Augenblick, als wolle sie noch etwas hinzufügen, allein sie sagte nichts, und bis zum andern Tage war nicht mehr die Rede davon.

Als Jean, nachdem er einen Teil des Vormittags aus gewesen war, ins Hotel zurückkam, teilte er ihr mit, er habe auf den Nachmittag eine Verabredung getroffen, damit sie nicht lange warten müsse, und nannte ihr den Namen einer ihr völlig unbekannten Pariser Berühmtheit.

Die junge Frau erhob keinen Einwand, sondern erkundigte sich nur, in welchem Stadtteil der Arzt wohne, damit sie ihre übrigen Gänge und Besorgungen danach einteilen könne – damit schien die Sache für sie abgethan zu sein.

Allein als sie später beim Frühstück in einer Ecke des Speisesaales saßen, fragte sie zwischen allerlei gleichgültige Bemerkungen hinein ganz unvermittelt: »Ist dieser Arzt ein Spezialist?«

»Aber …,« sagte der junge Mann, der ein wenig aus der Fassung kam, »ich glaube nicht, aber jedenfalls ist er ein so bedeutender Arzt, daß wir uns in jeder Beziehung auf ihn verlassen können, auch wenn er in dieser oder jener Beziehung Spezialist wäre.«

Sie nickte darauf nur mit dem Kopfe und schien jeden weiteren Gedanken daran beiseite geschoben zu haben bis zu dem Augenblicke, wo sie in den Wagen stiegen, um nach der Rue de Grenelle zu fahren.

Während der Fahrt war Alice immer lustig und natürlich und interessierte sich mit der Ursprünglichkeit einer jugendlichen, schlichten Natur für alles, was ihr vor die Augen kam.

Als sie die Treppe hinaufgingen, bemerkte Jean, der sie aufmerksam beobachtete, daß sie ihren Schritt absichtlich verlangsamte, und wunderte sich deshalb auch nicht, als sie plötzlich stehen blieb und sich nach ihm umdrehte.

Zuerst blieb sie stumm und schien nur Atem schöpfen zu wollen, dann aber näherte sie sich ihm und legte ihre beiden Hände auf seinen Arm: »Jean,« flüsterte sie, »sag mir die Wahrheit, ich beschwöre dich! Warum bringst du mich hierher?«

Sie hatte, wenn auch im Ton der Bitte, so doch mit äußerster Entschiedenheit gesprochen und richtete ihre großen offenen Augen, die in dem erblaßten Antlitz beinahe schwarz erschienen, fest auf sein Gesicht. Der junge Mann litt unter der Qual dieser doppelten Frage und fühlte, daß sein Reden und sein Schweigen gleich verräterisch werden konnten; sein von der entsetzlichen Angst zusammengeschnürtes Herz war voll Mitleid mit der Unruhe, die gleich einem traurigen Echo der seinen nun bei der jungen Frau aufstieg, und er vermochte anfangs kein Wort zu erwidern. Doch dies währte nur einige Sekunden, dann gewannen seine Energie und Entschlossenheit die Oberhand, und seine Stimme zitterte nicht im mindesten, als er liebevoll antwortete: »Aber ich habe dir's ja gesagt! Ich möchte dich eben ganz wohl sehen, und wenn ich hätte ahnen können, daß es dich dermaßen aufregt, so …«

»Du findest mich thöricht, nicht wahr?« sagte sie mit halbem Lächeln, »und meinst, ich sei wie ein Kind, das sich fürchtet, wenn man vom Doktor oder Zahnarzt spricht – aber, wenn du wüßtest!«

Das Lächeln verschwand und sie hielt inne, als fürchte sie sich selbst vor dem, was sie sagen wollte. In diesem Augenblick kamen aber zwei Männer die Treppe herab. Sie trat rasch zur Seite, um sie vorbei zu lassen, und dann ging sie weiter, als sei sie nur stehen geblieben, um diese Herren vorüber zu lassen.

»Möchtest du wirklich nicht lieber umkehren?« fragte Jean, als sie vor der Wohnung des Arztes standen. Allein sie schüttelte den Kopf und klingelte energisch. Es war Punkt drei Uhr, und sie wurden sofort ins Arbeitszimmer des Arztes geführt.

Als sie eine halbe Stunde später wieder herauskamen, war das Gesicht der jungen Frau völlig verändert; aller Zwang war daraus verschwunden und sie schaute mit einem fröhlichen Lächeln, das sich über die Angst von vorher lustig zu machen schien, zu ihrem Gatten auf. Was sie auch seit dem Abend vorher gedacht und gefürchtet haben mochte – es lag klar zu Tage, daß sie jetzt völlig beruhigt darüber war, und kaum hatte sich die Thür hinter ihr geschlossen, so fing sie an, Jean die Eindrücke mitzuteilen, die sie eben bekommen hatte.

»Er ist ja prächtig,« sagte sie, »und ich bin furchtbar froh, daß ich hier war! Es läßt sich doch manches thun, und du hast ganz recht gehabt.«

Wortlos, mit einem etwas traurigen Lächeln lauschte er und sah ihr zu, während sie den langen Zettel mit Verhaltungsmaßregeln um ihre Finger wickelte. Er war erfahrener als sie und wußte, daß ein Arzt sein Gesicht in der Gewalt hat, wenn er einem Kranken gegenüber steht, und ließ sich nicht so leicht durch das Lächeln und die angenehme, leichte Unterhaltung eines Mannes von Welt mit einer jungen, hübschen und angesehenen Dame täuschen. Ganz im Gegenteil hatte er in dem Auge des Gelehrten eine tiefe, gehaltene Aufmerksamkeit und einen Ernst zu lesen geglaubt, die nichts mit der liebenswürdigen, etwas nachlässigen Art und Weise gemein hatte, in der er seine Fragen stellte. Außerdem wußte er auch allzu gut, daß er des Morgens bei dem Arzt gewesen war und ihn gebeten hatte, der jungen Frau alles fern zu halten, was sie irgendwie beunruhigen könnte, und nun fragte er sich traurig, ob jener nicht einfach die ihm übertragene Rolle gespielt habe.

Die erteilten Vorschriften bestanden einzig und allein in Vorsichts- und hygienischen Maßregeln, die auf jeden andern Fall ebensogut gepaßt hätten.

Mit derartigen alltäglichen, beinahe kindischen Verordnungen ist es eine eigene Sache, sie werden in der Regel nur bei zwei Arten von Kranken angewendet, und zwar bei solchen, denen zu wenig, und bei solchen, denen zu viel fehlt; bei solchen, die durch die allheilende Zeit wieder von selbst auf die Beine gebracht werden, und bei solchen, denen die menschliche Wissenschaft machtlos gegenübersteht.

In welche der beiden Kategorieen mochte nun Alice gehören? Welcher Art war ihr Leiden: unbedeutend oder verhängnisvoll? Hatte er sich unnötigerweise abgesorgt und beruhte die Warnung seines Freundes, der so ernst war in seiner unwillkürlichen Angst, auf einem groben Irrtum? Oder …? Er wußte, daß er die Antwort auf all diese Fragen erst erhalten würde, wenn er ohne seine Frau nochmals bei dem Arzt vorsprach, aber er fand nicht den Mut, dies noch am nämlichen Tag zu thun, was er sich selbst gegenüber mit dem Vorwand bemäntelte, daß er von Alice nicht so schnell loskommen könne.

An diese letzten Stunden des Nichtwissens klammerte er sich an, wie an sein Heil, und suchte Herz und Gedanken davon abzulenken, um seine Angst wenigstens für den Augenblick zu vergessen.

Vom Schicksal begehrte er nur noch einen einzigen Tag ohne diese peinigende Angst, nur noch einen Tag, wo er sich rückhaltslos dem Bewußtsein hingeben könnte, daß er jung und glücklich sei und geliebt werde. Während des ganzen Abends, den die jungen Leute in der Oper verbrachten, zeigte er sich lustig und zärtlich und ganz von Zukunftsplänen erfüllt, die er mit etwas fieberhafter Lebhaftigkeit entwickelte, die ihnen aber beiden so viel Freude in Aussicht stellten, daß sie dies gar nicht bemerkten.


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