Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Aus seinen Gesprächen mit Jean hatte der Fähnrich den verzweifelten Entschluß erraten, den dieser gefaßt hatte, und er war überzeugt, daß sein Vetter Alice nicht überleben werde. Wohl schwor er sich, ihn von der Stunde an, wo er allein zurückbleiben würde, ständig zu überwachen, allein es gibt keine Bewachung, die nicht einmal einen Augenblick nachläßt; außerdem kannte er aber auch Jeans unbeugsamen, eigenartigen Charakter und fürchtete sich vor dem Kampf, der ihm bevorstand. Unmöglich konnte er der jungen Frau die Augen öffnen und ihren Einfluß benützen, solange sie noch da war – das wäre zu grausam gewesen, und so blickte der junge Mann trübe in die Zukunft, die denen, die ihm teuer waren, so drohend entgegentrat.

Eines Abends hatte Jean, der von seinen ständigen Nachtwachen völlig erschöpft war, Alices Zureden nachgegeben und sich unten ein wenig hingelegt. Alice ließ er unter der Obhut seines Vetters, der ihr anfangs vorlas. Doch bald unterbrach sie ihn, winkte ihm, näher zu rücken und sprach mit leiser Stimme, wie immer, seit sie so schwach war: »Yves, hören Sie mir wohl zu: Ihnen vertraue ich Jean an. Lassen Sie ihn nicht zu viel allein, wenn ich nicht mehr bin, und sprechen Sie auch ab und zu mit ihm von mir; dann wird es weniger traurig für ihn sein.«

Atemlos hielt sie inne; sie war so ergriffen, daß ihre Hände zitterten. Bestürzt und überrascht von dieser unerwarteten Bitte und der Klarheit, mit der Alice ihren Zustand beurteilte, neigte der junge Mann sich über sie, vermochte aber kein Wort der Antwort hervorzubringen.

»Sie werden meine Bitte erfüllen, nicht wahr?« fragte sie in unruhigem Tone und schlug die Augen zu ihm auf.

Der Fähnrich versprach ihr alles und versicherte sie mit warmen Worten seiner Liebe und Ergebenheit; als er aber versuchte, ein Wort der Hoffnung einfließen zu lassen, unterbrach sie ihn und sagte traurig: »Nein, ich weiß, daß das Ende naht, aber ich wage nicht, mit ihm davon zu sprechen, weil ich fürchte, ihn dadurch allzu tief zu betrüben. Aber Sie müssen ihm alles wiederholen, was ich ihm nicht selbst zu sagen vermag. Meine Liebe … meine Dankbarkeit …«

Wieder hielt sie inne, um neue Kraft zu sammeln, währenddessen Yves den Kopf in die Hand stützte und überlegte. Das Vertrauen Alices und ihre traurige Ergebung rührten ihn tief, dabei dachte er aber auch an den entsetzlichen Zwang, unter dem Jean lebte, und er fragte sich, ob es ihm nun, da beide gleich klar sahen, nicht eine Erleichterung wäre, sich offen auszusprechen, ganz abgesehen davon, daß der Einfluß der Kranken die Empörung im Herzen ihres Gatten etwas beschwichtigen konnte.

Mit äußerster Zartheit und Zurückhaltung kleidete er seine Gedanken in Worte, und in dem Augenblick, als er zu Ende war, erschien Jeans bleiches Antlitz über der Treppe.

Yves entfernte sich unter einem Vorwand und ließ die Gatten allein.

Alice war aufgeregt und ihre Hände zerrten krampfhaft an den Fransen ihres Tuches; ihre Augen irrten unruhig umher und auf ihren halbgeöffneten Lippen schien eine Frage zu schweben, die sie nicht auszusprechen wagte.

Ihrem Manne fiel ihr Benehmen auf und zärtlich fragte er: »Was ist dir? Möchtest du etwas?«

Sie zögerte noch einen Augenblick, dann aber sagte sie: »Sind wir weit vom Land entfernt?«

»Nein,« erwiderte er sehr erstaunt, »aber warum fragst du danach? Möchtest du Halt machen?«

»Das nicht, aber ich dachte … ich möchte, daß du mir bald einen Priester holtest,« sagte sie sanft.

Als der junge Offizier bei diesen Worten erbebte, fuhr Alice mit plötzlicher Ruhe fort: »Wollen wir uns nicht einmal ganz offen aussprechen, mein Liebling?«

Und nun begann sie mit einer rührenden Erhabenheit und mit bewunderungswürdigem Mut ihm zu sagen, welche Gedanken sie bewegten: sie sprach von ihrem baldigen Tod mit so viel Ruhe und Sanftmut, daß er ihr ganz verblüfft zuhörte und sich fragte, ob er sie auch recht verstehe und ob die Trennung, auf die sie hindeutete, denn wirklich den endgültigen Zusammenbruch ihres Glückes bedeute.

Indessen trat ihre Erregung wieder mehr zu Tage, je länger sie sprach, und es fiel ihr schwer, fortzufahren.

»Ich habe noch so viel, noch gar so viel zu sagen,« flüsterte sie von Zeit zu Zeit und fuhr sich angstvoll mit der Hand über die Stirn, wie um ihre Gedanken zu sammeln. »Schon lange habe ich dir danken wollen,« fuhr sie endlich fort; »du hast mich unendlich glücklich gemacht, während ich nur ein schreckliches Leid in dein Leben getragen habe, und es ist so traurig, dich jetzt verlassen zu müssen. Es thut mir so weh, daß ich von dir scheiden muß! –«

Thränen perlten an ihren Wimpern, und von der Bewegung überwältigt, schwieg sie, während ihr Gatte nun plötzlich alle Zurückhaltung vergaß und sich hinreißen ließ, ihr alles zu sagen, was Leidenschaft und Verzweiflung einem Manne nur einflößen können.

Er schmähte den Himmel, er trotzte dem Tod, er schwor, daß er nicht weiterleben werde, wenn man sie aus seinem Leben reiße, die ihm das Leben selber sei.

»Mein armer Liebling,« sagte die junge Frau aufs tiefste betrübt, »du lästerst!«

Mit dumpfer Stimme erwiderte er: »Ich weiß nicht, ob ich lästere, aber ich weiß, daß ich ein unerträgliches Weh erdulde, das ich nicht immer tragen will!«

»Du mußt nach Kerdren zurückkehren,« begann sie wieder.

»Kerdren ohne dich! Kerdren, wo du die ersten Anzeichen deines Leidens verspürtest! Kerdren ist mir verhaßt!«

»Dann gehst du wieder zur See und bleibst ständig an Bord.«

»Die See! Jetzt auf die See!« Und wiederum ließ er seinem verzweifelten Schmerz die Zügel schießen, und wie ein gewaltiger, wilder Bergstrom brauste der Ausbruch seiner Verzweiflung über die erschrockene Alice hin.

Doch endlich bemerkte er ihre Blässe, hielt sofort inne und bot ihr an, sie hinunter zu tragen. Als er sie auf ihr Bett niederlegte, zog sie seinen Kopf zu sich herunter und bat ganz leise mit erregter Stimme: »Versprich mir, Jean, daß du dich nie …«

In diesem Augenblick trat der Arzt ein, der glaubte, die Kranke sei ohnmächtig geworden, und dies machte sich der Graf zu nutze, um sich zu entfernen, weil er ihr das Versprechen, das sie ihm, wie er wohl merkte, abzuringen beabsichtigte, durchaus nicht geben wollte.

Die junge Frau verbrachte die Nacht sehr unruhig, und Jean, der bis zum Morgen nicht von ihrem Lager wich, verwünschte es hundertmal, daß er sich so hatte hinreißen lassen.

Schon am Abend hatte man den Kurs geändert und war nach dem Land gesteuert, und bei Sonnenaufgang ging Yves einem kleinen Dorf an der afrikanischen Küste gegenüber vor Anker, weil er hoffte, dort möchte ein Missionar zu finden sein.

Alice hatte sich früh auf Deck bringen lassen; der Anblick des festen Landes und der Strohhütten am Ufer, sowie die Bewegungen der kleinen Boote, die durch die Jacht herbeigelockt wurden und sie umschwärmten, gewährten ihr Unterhaltung.

Weder sie noch Jean waren auf die gestrige Unterhaltung zurückgekommen, aber jeder seiner Bewegungen folgte sie mit so flehenden, traurigen und zärtlichen Blicken, daß sich der junge Mann manchmal beinahe besiegt fühlte. Gleichwohl ging er im Laufe des Morgens ans Land, ohne etwas gesagt zu haben, und kam erst geraume Zeit nach dem zweiten Frühstück zurück. In kurzen Worten berichtete er, daß seine Nachforschungen erfolgreich gewesen seien, und daß ein in dem Dorfe ansässiger französischer Geistlicher im Laufe des Nachmittags Alice besuchen werde.

Ob ihm nun der Gang wohlgethan hatte, oder ob er sich freute, den Wunsch seiner Frau so schnell erfüllen zu können – er schien ihr ruhiger zu sein als am Morgen.

Unter dem Vorwand, der Widerschein der Sonne im Wasser blende und ermüde sie, ließ sich Alice bald wieder hinuntertragen, in Wahrheit wollte sie aber nur die gestrige Unterhaltung, die ihren Geist mit peinigender Unruhe erfüllt hatte, wieder aufnehmen, weil das mildere Aussehen ihres Gatten sie hoffen ließ, er werde heute ruhiger sein.

Allein sobald sie sich mit ihm allein sah, wollte ihr alles, was sie sich ausgedacht hatte, thöricht und ungenügend erscheinen, und mit über der Brust gekreuzten Armen und halbgeschlossenen Augen blieb sie lange schweigend liegen.

Schließlich regte die Stille und die Erwartung die junge Frau dermaßen auf, daß ihr der Atem versagte.

Da fühlte sie, daß Jean sich über sie beugte, und plötzlich schlang sie die Arme um seinen Hals und sagte mit der kindlichen Einfachheit, die sie so anziehend machte, vertrauensvoll: »Jean, hilf mir!«

»Mein armes, liebes Herz,« erwiderte er und sank neben ihrem Lager auf die Kniee, »verzeih' mir, daß ich dir so wehe gethan habe, und fürchte nichts mehr für mich. Ja, du hast mich gestern recht verstanden. Ich habe eine Zeitlang alles vergessen, was ich seit meiner Kindheit hochgehalten habe: Ehre, Mut, Religion und die Würde meines Namens, und ich bin wohl der erste Kerdren gewesen, der vor dem Leiden zurückgewichen ist! Aber der Taumel ist vorüber, ich schwöre es dir, und alles, was vor einigen Stunden selbst deine liebe Stimme vergeblich versucht hat, mir begreiflich zu machen, habe ich eben von einem armen, bescheidenen Missionar, einem schüchternen, durchaus nicht beredten Manne von kindlicher Einfalt gelernt.«

Einen Augenblick hielt er inne und fuhr dann mit ernster Stimme fort: »Wenn mein Leben je einsam werden sollte, mein heißgeliebtes Weib, so brauchst du dich nicht mehr zu ängstigen und zu suchen, wie es auszufüllen wäre. Ich werde weder nach Kerdren, noch auf die See gehen, sondern in ein Seminar eintreten, und wenn ich Priester bin, die Armen und Elenden, alle, die gebrochenen Herzens sind, aufsuchen, und wenn ich an einem von ihnen einmal die Wohlthat vergelten kann, die man mir heute erwiesen hat, so wird die Last des Daseins minder schwer auf mich drücken!«

»Priester,« wiederholte Alice mechanisch, »du Priester!« Dann schwieg sie und betrachtete mit unsäglichem Staunen das schöne Haupt, das sich über sie beugte, und die liebevollen Augen, die so zärtlich auf ihr ruhten. Ihre Ueberraschung war eigentlich mehr Schrecken, denn da sie wußte, daß das Leben, von dem er sprach, im Widerspruch zu all seinen Neigungen und Gewohnheiten stand, fürchtete sie, er rede irre.

Endlich fragte sie, um für das Gehörte greifbare Gründe zu bekommen: »Aber was hat denn dieser Missionar zu dir gesagt?«

Mit großer Beredsamkeit schilderte er nun den Eindruck, den dieser schlichte Greis auf ihn hervorgebracht hatte. Es war ein einfacher, wenig beredter, durch seine lange Einsamkeit verschüchterter Mann, aber in seinem Herzen wohnten eine so tiefe Ueberzeugung, ein so unerschütterlicher Glaube, und er besaß ein solches Talent, jeden in der liebevollsten Weise zum Bewußtsein der Pflicht zu bringen, die das Leben dem Menschen auferlegt, daß ihm niemand widerstehen konnte.

Mit wenig Worten, aber mit viel Innigkeit und Tiefe verstehe der Missionar, an das Gesetz des menschlichen Leidens zu erinnern, zu zeigen, wie unvermeidlich es für jeden Sterblichen, und wie erhaben es sei, wenn man das Ende ins Auge fasse, daß sich jeder, der ihn höre, unter die Last beugen müsse, die ihm auferlegt sei. Wenn sich damit auch noch das Beispiel verbinde, da dieser Greis, der seit Jahren fern von aller Civilisation, den größten Entbehrungen und häufig auch Anfeindungen ausgesetzt, in diesem abgelegenen Winkel der Erde leben müsse und doch unentwegt in einfachster Weise seine Endziele weiter verfolge, da fühle man sich so klein neben ihm, daß man ihn kaum um das Mitleid anzusprechen wage, das er doch allen Unglücklichen mit so viel Herzenswärme spende.


 << zurück weiter >>