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Sechsundzwanzigstes Kapitel

Von dem Augenblick an, da Jean den Missionar allein mit ihr gelassen hatte, fing Alice an, zu verstehen, was er ihr mitgeteilt hatte. Der eigenartige Eindruck, den dieser würdige Priester, dessen Schlichtheit manchmal an Erhabenheit grenzte, auch auf sie machte, erklärte ihr besser, als alle Worte, die plötzliche Sinnesänderung ihres Gatten, und abgesehen von der Beruhigung, die sein Entschluß ihr in religiöser Hinsicht gewährte, milderte auch der Gedanke, daß Jeans Leben nach ihrem Scheiden nach außen hin für immer abgeschlossen sein sollte, den furchtbaren Schmerz, mit dem sie von dem so glühend geliebten Manne schied.

Als Jean später wieder zu ihr herabkam, fing sie zuerst davon zu reden an, aber als sie so die Zukunft besprach, in der sie keinen Platz mehr ausfüllen sollte, flossen ihr zwei dicke Thränen über die Wangen herab.

»Mein herzliebes Weib,« sagte Jean sanft, »schmerzt dich dieser Gedanke?«

»Mich?« rief sie da. »Ach, mein Gott, du weißt gar nicht, wie selbstsüchtig ich bin.« Dann senkte sie die Stimme noch mehr und fuhr fort: »Nun ich dich wirklich verlassen muß, könnte mich ja nichts mehr beglücken. Wer im Leben steht denn den Toten näher als der Priester? … Wenn du betest, werde ich meinen, deine Worte gelten auch ein wenig mir, und wenn ich dich getröstet sehe –«

»Sprich dies Wort nicht aus,« unterbrach er sie schroff. »Es handelt sich um Leben und Ertragen – um weiter nichts.«

»Weißt du,« sagte sie eine Weile später, »was mein höchster Wunsch wäre? Ich selbst möchte dir deine erste Stola sticken … Ach, wenn ich dazu noch Zeit genug hätte! … Glaubst du es, Jean?«

Das war mehr, als der arme Mensch ertragen konnte, der in sein Zimmer entfloh, wo er den Kopf in die Hand preßte, bis er wieder Kraft genug hatte, um reden zu können.

Als er wieder in Alices Zimmer trat, fand er den Fußboden mit allerlei Stoffen bedeckt, und in den Händen hielt sie ein Stück weißer Seide, das sie hin und her drehte.

Beinahe überall, wo der »Kerdren« vor Anker gegangen war, hatte Jean seiner Frau Nippessachen, Juwelen und Stoffe gekauft, die ihm eigenartig und charakteristisch erschienen waren, und diese ließ sie jetzt aus ihren Schränken holen. Aus weißem Seidenstoff hatte sie sich von ihrer Kammerjungfer eine Stola schneiden lassen, und schickte sich nun an, große Blumen darauf zu sticken.

Es war, als habe ihr die Energie ihres Willens die einstigen Kräfte wiedergegeben, und mit einer beinahe lebhaften Bewegung zog sie die Nadel heraus.

»Sieh her,« sagte sie zu ihrem Mann, als die Jungfer hinausgegangen war, »gefällt es dir?«

Ihr zuliebe warf er einen Blick darauf, dann wandte er rasch den Kopf ab, denn sein Mut drohte ihn wieder zu verlassen.

»Der Gedanke, daß du sie tragen wirst, macht mich so unendlich glücklich,« sagte sie halblaut.

Aus einem andern Stoffe, einer Art großblumigem Silberbrokat, hatte sie große Lilien schneiden lassen, und diese befestigte sie nun mit dem ihr eigenen Geschmack auf der weißen Stola, indem sie den Rand mit einem feinen Goldfaden und Seide begrenzte.

Von diesem Tage an gönnte sich Alice keine Minute Ruhe mehr. Sie stand morgens früh auf und ließ sich mit ihrer Arbeit sofort hinaufbringen.

Zwanglos und ohne allzuviel Bitterkeit sprach sie oft und viel, und es schien, als vermindere sich durch dies Andenken, das sie dem geliebten Mann zurücklassen wollte, der Schmerz der Trennung für sie.

Auf ihren Tod spielte sie nur selten an, und man hätte glauben können, sie sei wieder in ihre anfängliche Täuschung zurückgefallen. Oft sah sie von der Arbeit zu ihrem Gatten auf, lächelte ihm in ihrer reizenden Weise zu, blickte auf das Meer hinaus, das sie von Tag zu Tag mehr liebte, und nahm die Nadel wieder auf.

Yves hatte erfahren, welcher Art ihre Arbeit war, und beobachtete mit grenzenloser Verwunderung diese durch Willensstärke herbeigeführte Wiederkehr der Kraft. Jean dagegen war von abergläubischer Furcht befallen, die letzte aufgesetzte Blume bedeute das Ende, und angstvoll beobachtete er die Fortschritte der Arbeit, die Alice noch beenden wollte und die ihn unablässig an die Zeit mahnte, wo sie nicht mehr an seiner Seite weilen sollte.

Es war etwas entsetzlich Großartiges, was sich auf diesem zwischen Himmel und Wasser verlorenen Schiffchen abspielte. Tag um Tag siechte das junge, heißgeliebte Weib dahin unter den Augen des Gatten; sie fühlte ihr Leben zu Ende gehen und sprach, trotz all ihres Mutes, oft Worte des schmerzlichsten Bedauerns. Daneben der Mann, der jede ihrer Bewegungen angstvoll verfolgte und sich jeden Abend fragte, ob er am nächsten Morgen wohl ihr Lächeln noch sehen werde.

Das Ende der jungen Frau schien friedlich werden zu sollen, die heftigen Schmerzen und Erstickungsanfälle der ersten Zeit waren beinahe ganz verschwunden, und als ihr Gatte ihr anbot, sie nach der Bretagne zurückzubringen, sagte sie: »Ach nein, bitte, laß uns hier bleiben; ich fühle mich hier so wohl.«

Gegen sein besseres Wissen wagte Jean manchmal wieder zu hoffen, wenn er dies für den Arzt so bedeutungsvolle Wiederaufleben beobachtete, und er konnte nicht umhin, Alice zu sagen, was er dachte.

»Dann ist es für die Danksagungsmesse,« sagte sie und hob die Stola in die Höhe.

Bei seinem Bestreben, Alices Zustand in rosigerem Lichte zu sehen, ärgerte sich Jean über alles, was sie kränker erscheinen ließ, und als man eines Abends über ihr Aussehen sprach, äußerte er: »Nur die schwarzen Kleider machen dich so blaß,« und deutete auf ihr weites Gewand. »Wann legst du denn endlich die Trauer ab?«

»Es ist noch kein Jahr,« erwiderte die junge Frau und beachtete so wenig als er, wie peinlich Frage und Antwort sie hätten berühren können.

»Ich hätte aber so gern gehabt, daß du die Trauer ablegtest!« sagte er leise.

»Das ist leicht gethan,« erwiderte sie sanft, »und ich glaube nicht, daß mein armer Papa sich darüber kränken würde.«

Dank der Thätigkeit ihrer Kammerjungfer konnte sie schon am andern Morgen ein Kleid anziehen, dessen Sonderbarkeit prächtig mit ihrer noch immer großen Schönheit zusammenstimmte.

Es war ein in Konstantinopel gekaufter schneeweißer Wollstoff, mit silbernen und goldenen Blumenranken von köstlicher Zartheit durchwirkt.

An diesem Tage setzte Alice die letzte Lilie auf ihre Stola und freute sich darüber so sehr, daß ihre Stimme unter dem Zelt ganz voll, und beinahe mit der Munterkeit vergangener Tage ertönte, obgleich ihr Ton so weich und verschleiert klang, wie der einer in der Ferne gespielten Harfe.

Da sie sich der Vollendung ihrer Arbeit so nahe sah, gönnte sie sich einige Muße und verschob die Umrandung der Lilie bis zum andern Morgen; in einer Anwandlung von Laune, was bei ihr nur selten vorkam, verlangte sie, auf Deck zu speisen. Am Abend zuvor hatte das Meer geleuchtet, und dieser Anblick hatte sie so entzückt, daß sie hoffte, ihn noch einmal genießen zu können, und sie fürchtete, wenn sie sich vor Dunkelwerden hinunterbringen lasse, so erlaube man ihr nicht, nachher wieder hinauf zu kommen.

Glühend rot und strahlend, wie es Alice an der Seite ihres Gatten auf dem alten Klosterturm einstens gesehen hatte, ging heute die Sonne zur Rüste, während an einem andern Punkte des Horizonts der Mond heraufgeschwommen kam.

Es war Ende Februar, um welche Zeit die Dämmerung in den heißen Ländern so kurz ist, daß es fast ohne Uebergang Nacht wird.

Hand in Hand mit Jean betrachtete Alice das schöne Schauspiel mit Entzücken und deutete auf das, was ihr am besten gefiel.

Ein leichter Lufthauch zog über das Deck, die Sonne verschwand gänzlich und plötzlich schauerte die junge Frau zusammen. Jean, der sie gerade betrachtete, bemerkte es sofort und sah sie gleichzeitig auch so tief erblassen, daß er, von Angst erfaßt, aufsprang.

»Es friert mich,« sagte sie und drückte seine Hand.

Ein Leidenszug trat auf ihr Antlitz, und ganz leise und schnell flüsterte sie: »Es ist so traurig …, so traurig!«

Dann nahmen ihre Augen wieder ihren gewohnten Ausdruck an; sie winkte den Arzt herbei, der einige Schritte davon neben Yves stand, und sagte in bedeutungsvollem Tone: »Danke, lieber Doktor!«

Als sie sich dem Fähnrich zuwandte, stieg ihre Erregung wieder.

»Französisches Gewässer? … Sind wir in französischem Gewässer?« fragte sie ergriffen. »Ich möchte es noch einmal wiedersehen!«

Er antwortete bejahend und nannte ihr Tunis; dann küßte er die kleine Hand, die sie ihm reichte, und trat zurück, um sie ganz ihrem Gatten zu lassen; mit einem Wort verständigte er die Matrosen, sofort stellten sie ihre Arbeiten ein und beobachteten die grausame Scene, die sich vor ihren Augen abspielte, mit frommer Ehrfurcht aus der Ferne.

Der Mond erhellte mit seinem Silberschimmer die weite Fläche, das Rauschen der Wogen verschlang die letzten Liebesworte Alices und die Aeußerungen ihres Leidens, die ihr ab und zu entschlüpften, und auf die Jean, aufgelöst in namenlosem Weh an ihrer Seite knieend, nur die eine Antwort hatte: »Mein Weib! Mein heißgeliebtes Weib!«

Mit einer leichten Anstrengung beugte sie sich vor und zog die Stola heran, die noch auf ihrem Schoße lag, und sagte: »Gedenke mein!«

Dann ein rascherer Atemzug – – und alles war zu Ende.

*

In der Erinnerung an sein erstes Zusammentreffen mit seiner Frau hatte Jean über Nizza nach Frankreich zurückkehren wollen, wohin er nun nur noch ihren Sarg geleiten konnte.

Das Zelt, unter dem die junge Frau so oft gesessen hatte, war in einen erleuchteten Katafalk verwandelt worden, und Matrosen in Galauniform hielten Wache bei Frau von Kerdrens Ueberresten. Die halbmast gehißte Flagge war schwarz umflort, und die Silberverzierungen des Sarges verschwanden unter den Blumen, die ihn schmückten.

Früh am Morgen lief die Jacht in den Hafen ein, und auf dem einsamen Quai war beinahe nur der Leichenwagen zu sehen.

Gleichwohl verriet sich überall ein ungewohnt reges Treiben; die Häuser waren mit Blumen geschmückt, und die einen Frühspaziergang machenden Leute sahen festtäglich aus. In den Höfen befleißigten sich geschäftige Arbeiter, die Wagen mit Blumen zu verzieren, und die Rufe der Blumenverkäufer ließen sich hören.

Weder Jean, noch sein Vetter hatten daran gedacht, daß sie gerade zu Fastnacht ankamen, und durch ein herzzerreißendes Zusammentreffen mußte die junge Tote gerade am Tag der Blumenschlacht, kaum ein Jahr, nachdem sie Jean bei Frau von Sémiane getroffen hatte, so in Nizza einziehen!

Trotzdem man die letzten Vorbereitungen möglichst beschleunigt hatte, schlug es doch neun Uhr, als Frau von Kerdrens Sarg, von zwölf Matrosen aus dem Boot getragen, auf dem Quai anlangte.

Noch hatte man die Kränze nicht wieder auf das mit Sternen bestickte, schwarzsamtene Bahrtuch gelegt, und in dem Augenblick, wo die Träger den Leichenwagen erreichten, blieben zwei heitere, elegante Damen, die eben vorüberkamen, respektvoll stehen.

»Wie traurig,« flüsterte die eine, »auf einen Karnevalstag seine Toten begraben zu müssen!«

Und rasch, einer Eingebung des Augenblicks folgend, und ohne die zwei Offiziere in Galauniform zu bemerken, die hinter dem Sarg herkamen, trat sie vor und legte den Strauß von weißem Flieder, den sie in der Hand hielt, auf dem Bahrtuch nieder und machte das Zeichen des Kreuzes dazu.

Ihre Begleiterin legte ihre Veilchen daneben, und beide traten erschrocken zurück, als sie nun die beiden jungen Männer erblickten.

Nie vergaßen sie den ernsten, gerührten Gruß der beiden Offiziere und den Ausdruck, den Jeans Augen annahmen, als er sah, wie tiefgefühltes Mitleid dritter sein totes Weib noch teilnehmen ließ an dem Fest der Blumen.


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