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IV.

Es ist ein erster Entwurf zur Dungener Idylle vorhanden, die Johann, als junger Ehemann, 1798, ursprünglich für seine Frau bestimmt hatte und dann, in drängender Liebesempfindung, während des Rückschauens, auf sein Schwesterherz Trinchen übertrug. Sie war schon seit fünf Jahren Doktor Gerhard Castendyks glückliche Gattin und hatte ihm eine Tochter und zwei Söhne geschenkt, als er ihr, zum dreiundzwanzigsten Wiegenfeste, seine Dichtung bescherte.

So lautete der Prosa-Entwurf:

»Fröhlicher Jubel ergriff mich, ich freute mich mit ihnen, – (dem Gatten und den Kindern der Schwester) – und konnte es doch nicht lassen, wehmüthig-froh mich der entflohenen Zeit zu erinnern, wo ich allein sie band. Könnte ich sie doch einmal noch verjüngen; könnte ich doch einmal jene Zeit wieder zurückrufen, dachte ich bei mir selber. Ich wollte es versuchen, aber da wurde es mir selbst schwer; ich merkte die Jahre, die dazwischen lagen. Da wurde ich unmuthig darüber, daß der Mensch nur einen so kleinen Theil seines Lebens zu umfassen vermag, – daß er schon hier aus dem Lethe trinkt. Ich verließ die lärmende Stadt, verließ selbst auf einen Augenblick mein Weib, so schwer mir das auch wurde, um den Genius unserer Jugendjahre da zu beschwören, daß er aus der Schattenwelt zurückkehre, wo uns das Rauschen seiner Flügel am lieblichsten tönte. Endlich erschien er mir; ich hielt ihn fest – er mußte mir einen fröhlichen Tag der Vorzeit zurückgeben, er mußte mir alles erzählen. Hier hast du das lebendige Bild; nun wollen wir festhalten, was unser ist, wollens unseren Kindern wiedererzählen. – Nimm es hin, und wenn du mich noch einmal lebendig Bruder nennst, so bin ich zufrieden.«

*

»Die Jahre, die dazwischen lagen – –:« wir sind weit vorausgeeilt. Bis dahin, wo der Knabe Johann Smidt Schule und Studium überwunden hat, junger Professor der Philosophie und noch jüngerer Ehemann geworden ist, brauchts etliche Meilen Weges und etliche Blätter Druckpapier, und so laßt mich auch diesmal zurückgehen, in die Zeit, als Johann noch die Bänke des bremischen Gymnasium illustre drückte, ausgangs der achtziger Jahre. –

Das bremische Gymnasium illustre, derzeit ein wenig zur Versandung neigend, bildete ein Mittelding zwischen Gelehrtenschule und Universität. Johann durchlief es rasch, und schon sommers 1791 begann der kaum achtzehnjährige Studiosus theol. in spe seinen Vater und die ländlichen Prediger der Umgegend auf der Kanzel zu vertreten. Seines betagten Vaters herbe und dürre Gottesgelahrtheit befremdete ihn mehr und mehr; ja, einmal war er schon jetzt drauf und dran ins gerade Gegenteil umzuschlagen. – Vermutlich kam ihm das Bedürfnis dazu infolge eines Besuches, den, zwei oder drei Jahre früher, der schwärmende Mystiker Lavater den nüchternen Bremern abgestattet hatte, und obgleich er diesen seinen Sprung in den Nebel bald genug als spontane Verirrung bezeichnete, lockte es ihn seitdem in eine andere Richtung. Es zog ihn zu Johann Jakob Stoltz, einem Züricher, und Geistlicher an Sankt Martini Kirche. Er begeisterte sich für dessen großzügige, freisinnigere Richtung, und außerdem fingen die politischen Aufgaben und Schwierigkeiten der unruhvollen Gegenwartsgeschichte an, sein rasch auffassendes Hirn zu beschäftigen: all die inhaltsschweren Saaten und Ernten jener Zeit; die ersten Ozeanfahrten bremischer Segler nach Ostindien und Westindien hinüber, Amerikas ungehemmter Aufschwung zur Weltmacht und 1789 die bluttriefende Zerstörung der Pariser Bastille.

Sei dem allen nun, wie es wolle: vorläufig lag der Theologe noch fest in seinem Sinne beschlossen. Im Oktober 1792 bezog er zu Jena die Universität. Das war nicht ganz in seines Vaters Absicht gewesen; der alte Herr hätte ihn lieber in Leyden oder Utrecht gewußt, allein Johann hatte seinen Willen durchgesetzt. »Mein Wille ist allmächtig; ich kann alles durch ihn ausrichten, Berge von Schwierigkeiten versetzen!« – so schrieb bereits 1791 der junge Feuerkopf seinem vertrauten Freunde Henrich Boismann. Boismann zählte sieben Jahre mehr als Johann Smidt und blieb diesem, bis zum Ende seines eigenen, kurzen Lebens, ein wahrer Mentor, geistreich und zartfühlend, und sehr behutsam da, wo es galt in des jüngeren empfängliche Seele Keime zu legen und Funken zu werfen.

*

Jenerzeit flutete in Jena das akademische Leben allmächtig und zwang alle andren Interessen unter seine Oberherrschaft. – Genug Prahlhänse und Kraftmeier unter den Musensöhnen, die scharenweis Straßen und Kneipen des schönen Thüringer Bergstädtchens belebten, die hörend zu Schillers und des Kant-Apostels Reinhold Füßen saßen und dem herrlichen Apoll Goethe huldigten, wenn er, im kanehlbraunen Rocke, mit Jabot und aufgesteiftem Hute, von Weimar herüberkam, und winters im Vogelflug auf Schlittschuhen über die spiegelnde Eisbahn der Saale glitt.

Dem strengerzogenen und feinbesaiteten Bremer Pastorensohne tat sich diese neue Welt auf. Einem fremdartigen Meere glich sie, dessen Tosen und Branden seine in sich geschlossene Wesenheit abstieß. Jene Wesenheit jedoch begann langsam sich zu erschließen, und ihre Sehnsucht stand plötzlich am Ufer des brandenden Meeres.

Glühenden Wissensdurst spürte der Neunzehnjährige, allein er verschmähte es, sich mit der Masse zusammenzurotten, die den Becher wilden Genusses über die volle Schale des Wissens ausgoß, und so eins mit dem andren hinwegspülte: er war weder zum Kraftmeier noch zum Prahlhans geboren; ernst faßte er das Leben in geschickte Hände und sann mehr, als daß er redete. Der Briefschrift vertraute er sich am liebsten an. Mit erwählten Landsleuten und andren Gleichgesinnten vertiefte er sich, durch Reinholds Vermittelung, in den Denkergeist Kants, des Weisen von Königsberg; in die Kritik der reinen Vernunft, die Lehre des Uebersinnlichen und die von der Kraft und Grenze menschlicher Gedanken: die Logik. Auf die Art legte er schon früh den Grund zu der ihm eigentümlichen Lust daran jedes Unternehmen, das er, vorbauend, durchdachte, mit scharfer Geistesschneide zu zergliedern, dann mit philosophischem Gleichmut neu zum Ganzen zu binden und sein Werk so klar zu beleuchten, daß es gerecht und greifbar vor den erstaunten Augen der Mitwelt stand. – Die Knospe seiner zukünftigen Regierungskunst, – schon hier in Jena fing sie an, sich zwischen den Blättern und Ranken der Studentenromantik zu entwickeln. –

Seiner starken Vorliebe für Philosophie und Geschichte zum Trotz verabsäumte er weder Theologie noch Schönwissenschaften. Er hörte des schwerleidenden Schillers kleines Sonderkolleg über die Wissenschaft vom Schönen, und bei Professor Schütz die alten Klassiker Homer, Plato und Cicero; bei Professor Paulus die Auslegung der Propheten und des neuen Testaments; später auch Dogmatik und christliche Sittenlehre. – Alles unter dem Einflusse Kantscher Anschauungen und jenes ausgeprägten Denkglaubens, der alles, was mit menschlicher Vernunft im Widerstreit liegt, zurückschlägt, Wunder und Weissagung ihres fantastischen Beiwerks entkleidet und sie natürlich erklärt. – Dieser Auffassung blieb Smidt bis in's höchste Alter treu und jener gänzliche Umwurf seines Ererbten während der Strebezeit seiner ersten Mannesjugend mag es verschuldet haben, daß er später die Theologie ohne langes Wägen und Schwanken für andre Krongüter des Geistes dahinten ließ.

Gegen den dritten Semesterschluß rief ihn, vom Gefühl der Ueberarbeitung abgesehen, viel andres nach Bremen zurück. Sein betagter Vater kränkelte; Schwester Trinchen rüstete zur Hochzeit mit Dr. Gerhard Castendyk, und Henrich Boismann war aus dem Leben geschieden, sein treuester Freund, sein Vorbild. Schon vor dem Studienbeginn hatte er ihm dringlich angeraten, nach drei Semestern eine längere Pause zu machen: »damit du in der Heimat den zurückgelegten Weg ruhig überschauen und manchen Seitenweg näher kennen lernen könnest, als wie sichs bei'm raschen Gange und dem Forteilen zu immer neuen Gegenständen thuen lasset.«

Tief erschüttert durch des Freundes Tod kehrte er also heim, aber er fand sich mit festem Willen rasch wieder; freute sich von Herzen am schwesterlichen Glücke und warf sich in seiner Freizeit mit dem alten Eifer auf die Sichtung der neuen Jenenser Kenntnisse und ihre Klärung für seine Zukunft. Damals stand der Theologe noch fest in ihm.

Nur seine Gesundheit erfüllte ihn mit heimlichem Bangen: er fürchtete ein Brustleiden. Dennoch bestand er im April 1794 mit allen Ehren sein Kandidatenexamen, und sobald die innerliche Entspannung seinen Gedanken und Plänen wieder Spielraum schuf, ruhte er nicht, bis Jena abermals an seinem Sichtkreise aufstieg. Denn dort brannte ein neues, großes Geisteslicht, an Kantscher Flamme entzündet: Fichte, ein stolzer Herold für Denk- und Tatenfreiheit. – Mitten hinein in den Sturm politischer Erregung ob der Pariser Schreckensherrschaft fiel seine Ankunft. Seine Worte schleuderten Brände in die Jünglingsseelen; seine kraftvolle Mannheit hob ihre Begeisterung auf den Gipfel. Sie gährten wie junger Wein; rücksichtslos bedrängten sie einander in Hörsaal, Hausflur und Hof; auf der Gasse standen sie und reckten sich, wie sie vermochten. Alle Fenster weit offen; alle Lippen von Ehrfurcht versiegelt. Hören! hören! Nur kein Wort verlieren! Da drinnen redete die männliche Stimme; schärfte sich, fragte, gab selber Antwort und rief laut:

»– die sittliche Veredlung der Menschheit können wir Gelehrten nur durchführen, wenn wir selbst die sittlich besten Menschen sind. – Hirngespinst? wer sagt das? Nein! das ist kein Hirngespinst, – durch handeln muß es verwirklicht werden! Handeln, handeln! – Das ists, wozu wir da sind!«

Gleich treffsicheren Speeren stieß er seine Worte in die naiv-schwärmenden Herzen der studentischen Jugend; auch in Smidts Herz, das noch schwer und verzagt im Bewußtsein körperlicher Schwäche war, – und gerade an ihm fand der vergötterte Lehrer besonderes Gefallen. Er war gern für ihn und seine klugen Fragen da, außerhalb des Kollegs; er lud ihn zu seinem Mittagstische im engsten Kreise, und der Kleinmütige richtete sich am Heldensinne des Zielbewußten auf; an seinem: »quos ego!« –: »ich will euch! – Von mir lernt zu herrschen!« Sein Einfluß auf den werdenden Mann ging weit über alltägliche Schranken hinaus; er bildete ihn; er hob ihn über sich selber empor. Er lehrte ihn damals schon den idealen Wert der freien Reichsstadt kennen; das Höhenbewußtsein sonder Hochmut, das ihren Bürgern ansteht und deren vornehmste Waffe und Tugend ist.

*

Die jugendlichen Gegner der studentischen Gelage und des Rottenwesens traten, in Fichtes Sinn und Geist zu einem Bunde zusammen und stifteten »die litterarische Gesellschaft der freien Männer«, Smidt unter ihrer Zwölfzahl. Sie nahmen es sehr ernst mit ihren Bundesgesetzen, die »freien Männer«. Frei durch Sitte wollten sie sein und bleiben; reich werden an weltumfassenden Gedanken und Gesetzen ohne Zwang, es sei denn der Zwang spartanischer Selbstzucht. Nur keine Weichlinge sein, geschweige denn romantische Wolkenflügler, obwohl die Romantik schon morgenrot am Horizont eines neuen Jahrhunderts aufdämmerte. Die zwölf jungen Köpfe waren sämtlich klug über den Durchschnitt. Sie schrieben, redeten und fochten geistreiche Meinungsverschiedenheiten untereinander aus über Fichtes Lieblingsstoff: die sittliche Fortbildung des Menschengeschlechts, und über die Philosophie der Weltereignisse, noch unsicher rollend und schwankend unter den letzten Kraterstößen französischer Umstürzlerei und Thronräuberei.

Bei Smidt traten immer noch gern kirchliche Streitfragen in den Vordergrund. Eine solche, – eingeschachtelt in Revolutionsbetrachtungen, – beleuchtete er, Weihnachten 1794 für einen Leseabend des Freimännerbundes, in seinem Aufsatze: » Sollte man das Predigtamt abschaffen?« Dieselbe Streitfrage geht auch jetzt, mehr als hundert Jahre später, durch unsere Gegenwart, andauernd und brennend; deshalb soll meines Großvaters kurze Antwort darauf hier einen Platz finden.

»Das Predigtamt ist nicht zu vernichten, sondern zu verwandeln. Der Staat hat sich einen unseligen Einfluß auf alle gesellschaftlichen Verbindungen angemaßt; der erste Mißgriff der Reformation war es, sich den Fürsten in die Arme zu werfen. Nicht der Staat, sondern die Gesellschaft hat den Lehrer zu wählen und abzusetzen; dann muß dieser mit der Cultur seiner Gemeinde fortschreiten, oder vielmehr ihr vorauseilen. Geistesüberlegenheit muß sein Trachten sein; die Herrschaft des Heiligsten, die Allgewalt des Sittengesetzes. Bei'm Grabe, bei der Hochzeit, bei der Taufe muß er sie im Volke geltend machen. Das Volk aber ist an sein Ernennungsrecht zu erinnernd, und es wird ihm, – wenn dann auch über Deutschland eine wohlthätige Staatsumwälzung sich verbreitet, – nicht schwer fallen, sein Recht den Gewalthabern wieder zu entreißen. Mit der steigenden, sittlichen Cultur wird der Volkslehrer immer entbehrlicher werden; völlig aber wohl erst im goldnen Zeitalter. –«

*

Frei gedacht, klar gesprochen! – Wann aber mag unsern Kindern und Enkeln jenes goldne Zeitalter reiner und reinigender Erkenntnis kommen, die ihre ruhige Hand auf die unruhigen Trugflämmchen dunkler Gründe drückt: »löscht aus, Irrlichter; ich will aus mir selber leuchten und der Welt einen Tag schaffen.« – Oder ob Licht und Irrlicht einander befehden müssen, so lange das Staubkorn Erde noch als Wandelstern im Aether kreist? Wer kann's ermessen!

*


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