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Fünftes Kapitel.

Muntere Jugendlust ging herüber und hinüber zwischen Pfarrhof und Gymnasium. Tino stand mehr von fern, und dennoch hing er mit ebenso glühendem Herzen wie sein Genosse an dem lieblichen Mädchen, das morgens so würdevoll durch die krummen Gassen zum Institut schritt und in der Freizeit ein Mittelding zwischen Lerche und Lachtaube war.

Die beiden Knaben gestanden einander vorläufig keine Silbe von ihrer Schwärmerei und behandelten sich gegenseitig mit humaner Rücksicht, weil jeder im anderen den erfolglosen Nebenbuhler zu ahnen meinte. Kurt übte seine Bestechungskünste am gründlichsten daheim in Tante Alices Reich goldener Ungebundenheit und lauschiger Gartensitze. Da befliß er sich poetischer Redensarten und sinniger Blumensträußchen, da blickte er ganze Romanbände. Er war trotz Stumpfnase und allzu zarter Gesichtsfarbe ein bildhübscher Junge; hoch aufgeschossen, lichthaarig und blauäugig mit anmutig lächelndem Munde und Grübchen in Wangen und Kinn – ein Page aus der Zeit der Minnehöfe, wie man sich ihn nur wünschen konnte, dabei von früh bis spät guter Dinge. Seine etwas mangelhaften Klassenleistungen ironisierte er selbst mit treffenden Witzen und behauptete kecklich:

»Zum Diplomaten habe ich jedenfalls außergewöhnliche Anlagen; denn ich halte mich, soviel wie's geht, ans Schweigen in allen lebenden und toten Sprachen, und was wäre ein Diplomat ohne Schweigen?«

Gerda belustigte sich über die Maßen mit Kurt, und er zeichnete sie ganz öffentlich aus, so daß die übrigen Instituts-Jungfräulein sie mit Grund um ihren Anbeter beneideten, der das angenehme »von« vor seinem Namen trug. Kurt hatte ihr auch, bei Gelegenheit eines jugendlichen Picknicks, draußen im Heidekrug, unter dem ermutigenden Einflusse der Bowle, eine verlockende Zukunft an seiner Seite verheißen. Zwar hatte sie den großen Jungen mit dem erhitzten Kopfe tüchtig ausgelacht und war ihm mitten im schwungvollsten Satze davongelaufen, aber insgeheim dachte sie sich's doch zuweilen ganz wunderhübsch aus, Frau Baronin von, zu und auf Hallersleben zu heißen. Denn daß Kurts Rittergut, von dem er mit besonderer Vorliebe fabelte, im Monde lag, darüber zerbrach sich die holde Unschuld im Flügelkleide den Kopf nicht weiter.

So spann sich die junge Seele, die kaum erst anfing, ihre Schwingen in der Puppenhülle zu regen und zu dehnen, ihre Zukunft aus, luftig und lose. Wer weiß, ob es nicht doch schließlich ein haltbares Gespinst geworden wäre, aus der Kinderliebe die Lebensliebe, wenn Tino Photinos' Hände nicht unbewußt hier einen Faden zerrissen und dort einen verknotet hätten, so daß es statt des fangenden Goldnetzes immer nur ein glitzerndes, formloses Maschendurcheinander blieb! Gerdas Seelenspiegel, das Tagebuch, zeigte, je weiter der Herbst dem Winter entgegenschritt, desto mehr »Kämpfe,« wie die Jugend so gern jedes raschere Klopfen des Herzens und jedes eilende Wölkchen nennt, das einen flüchtigen Schatten über ihr sonniges Frühlingsgelände dahingleiten läßt.

Woher kam dem zarten, zerbrechlichen Tino immer wieder die größere Macht? Gerda bewunderte ihn in einer anderen, tiefergehenden Weise, als sie Kurt bewunderte. Fast ehrfürchtig beobachtete sie, wie in dem schwachen Körper der Geist voll starken Willens seinen Idealen entgegenstrebte. Sie nannte den unbeugsamen Eigensinn, mit dem er das nüchterne Lernen unterließ und die Strafarbeiten gleichgültig aufs Papier warf, Heldenmut, und mit wahrem Heißhunger erwartete sie jedes neue Blättchen von seiner Hand; denn nach wie vor zeigte er alles, was er schuf, ihr allein. Ja, so unersättlich waren seine Kunstgelüste, daß sie ihm sogar ihren schönen Düsseldorfer Farbenkasten borgen mußte. Seine Schulbücher steckten voll loser Blättchen, und seine Taschen wurden von den gespitzten Bleistiften durchlöchert.

Frau Mina blieb, ohne viel Worte zu verlieren, ihrer ursprünglichen Abneigung gegen den Fremdling treu. Sie fand ihn garstig und unbequem. Wozu stand er viertelstundenlang stumm an der Portiere und folgte ihr mit den Augen durchs Zimmer, wenn sie sich mit ihren reizenden Kindern beschäftigte, das jüngste kosend auf den Armen wiegte, das zweite am winzigen Händchen hin und her leitete? Verwies sie ihm das Nichtsthun, so suchte er sich wohl einen anderen Platz und nahm ein Buch zur Hand, allein darüber hinweg beobachtete er weiter, oft so auffallend, daß sie ihn in hellem Ärger fortschickte und bei dem Gatten über die schlechten Manieren des Pensionärs klagte. Etwas Näheres wurde er niemals für sie, und er nannte sie in seinen Briefen an den Oheim unverändert » la patronne,« bis Mavro Photinos es verbot und das höflichere » madame« befahl.

Hätte Frau Mina Tinos und der Schwester Schutz- und Trutzbündnis geahnt! Allein zum Glück für die beiden fand sie über der Hausprosa keine Zeit zu Nebendingen. Was kümmerte sie der Inhalt jenes Holzkistchens, das zwischen Tinos Koffern im dunklen Garderobenwinkel neben seiner Stube stand und sich mit immer mehr losen Blättern füllte? In überraschungssicheren Stunden pflegten dort auf dem Lederkoffer die beiden Verbündeten dicht nebeneinander zu sitzen, betrachteten beim Scheine des Handlaternchens wieder und wieder die Zeichnungen, über denen allen die südliche Grazie als verführerischer Duft lag, speisten griechische Leckereien und türmten, auf dem unsicheren Baugrunde von Tinos berühmter Zukunft, die kühnsten Luftschlösser.

»Es ist nur schade,« sagte Gerda bedauernd, »daß der nette, liebe Kurt nicht der dritte im Bunde sein darf!« und dann entgegnete Tino herb und ungeduldig:

»Thorheit, wo gäbe es hier Platz für ihn?«

»Wir könnten schon noch ein bißchen zusammenrücken,« meinte das Mädchen, »und es ist auch nicht des Platzes wegen – es ist nur Ihr Eisenkopf!«

Aber nicht Tino Photinos allein hatte den Eisenkopf.

Tychsen war mit seiner gewohnten kühlen Energie daran gegangen, den Naxioten zu reformieren und der Welt neuerdings zu beweisen, daß der gründliche Deutsche mehr zu stande bringen könne als der flachere Franzose. Er hatte seinen Zögling einfach ins Joch gespannt ohne irgendwelche Rücksicht auf Neigungen und Abneigungen, getreu dem Programm, das er mit Oheim Mavros Zustimmung entworfen hatte. Natürlich lag seiner Härte keine neronische Grausamkeit, sondern ein Prinzip zu Grunde, vereint mit dem Bestreben des anständigen und gewissenhaften Mannes, der die sehr große monatliche Pension für seinen Schutzbefohlenen auch voll zu verdienen wünschte. Daß er den Charakter desselben so wenig erfaßte und ergründete, lag in einer Thatsache, die der Kardinalfehler manches hervorragenden Schulmannes war und noch ist: er individualisierte nicht. Dabei kam dann der einzelne leicht zu kurz, der sich dem Rahmen der Schuldisziplin bedingungslos einfügen sollte, gleichviel, ob dieser Rahmen zu eng oder zu weit für ihn war. Seinen Schülern sprach er das Recht der persönlichen Meinung vor dem Mündigkeitsalter rundweg ab, und sein stolzes Haupt trug den altbekannten Satz an der Stirn: »Das Gesetz bin ich!« Mit Vorliebe stand er auf dem Katheder wie weiland Napoleon I.: die Arme über der Brust gekreuzt, das Kinn in die Halsbinde gedrückt. Schon am ersten Schultage verfertigte Tino die erste Karikatur des Gestrengen und ließ ihr nach und nach andere und schärfere folgen. Diese kleine Sammlung jedoch verbarg er vor seiner braunäugigen Vertrauten.

Kurt Hallersleben durchschaute und bewitzelte, Tino Photinos haßte seinen Direktor mit ganzer Seele. Der Mann war auf Naxos Zeuge seiner Schmach, Zeuge des vernichtenden Zornes gewesen, unter dessen Einflusse Oheim Mavro ihn bis zur Mißhandlung gezüchtigt hatte. Dem pflegeväterlichen Strafrechte beugte sich Tino schließlich, wenn er sich auch unter den Schlägen und Fußstößen krümmte und der Wut anfangs wilden Widerstand entgegensetzte; jenem fremd hereingeschneiten Zuschauer des Ringkampfes zwischen vier Wänden aber wollte er sich nicht fügen. Dem heftigen, heißherzigen Oheim hatte jener Thränen erpreßt durch seine kalt-erhabenen Worte – wenig Tage später waren ihm schon die Zügel des stöckischen Fohlens Tino in die harte Faust gegeben worden, weil er es verstanden hatte, den Oheim mit bösen Mitteln zu bezaubern. Ja, der Knabe war fest entschlossen, ihm das Leben schwer zu machen!

Hier oben im rauhen Norden gedachte er der griechischen Heimat mit einer ungestümen Liebe und Sehnsucht, deren er sich in seinen eignen Augen oftmals schämte; denn noch nie hatte er in der Fremde bisher Ähnliches an sich erfahren.

Nie hatte er, wie jetzt, nachts in sein Kissen geschluchzt, weil er sich immer wieder das Portal des weißen Inselhauses vorstellen mußte mit der glühenden, südlichen Sonne über den schwarzen Cypressen und dem Streifen kornblumenblauer See zur Rechten. Im Portal die Gestalt des Oheims, sein rotes Fez auf den eisengrauen Locken, das Tuch gegen die weinenden Augen gedrückt. Ach, man weinte und lachte so anders da drunten im glücklichen Lande! Der Knabe schauerte trotz der warmen Federdecken vor Kälte zusammen, wenn er an seine Heimat dachte!

Des Oheims Abschiedssegnungen hatten ihn die Mißhandlungen vergessen lassen, des Oheims Strenge jedoch schien sich von seiner Person losgelöst zu haben, um sich in der des Direktors neu zu verkörpern – und tausendmal abstoßender.

Seinen Lehrern gab er manche harte Nuß zu knacken, und nach Ablauf des ersten Vierteljahres mußte sich's Tychsen kleinlaut gestehen, daß es ihm bis dahin mit Tino Photinos um kein Haar besser glückte als dem Kollegen Lesure von St. Sulpice zu Marseille.

Weihnachten kam mit Tannenbaum und Festjubel; es ging fast spurlos an dem scheuen Fremdling vorüber. Ein unbekanntes Etwas in seiner Seele verdrängte anscheinend alle äußeren Eindrücke des Familienlebens aus seinem Interessenkreise. Auch mit dem neuen Jahre änderte sich nichts von dem, was Tychsen so schwer verstimmte.

Mit störrischer Festigkeit verweigerte der Naxiote seinen Willen zum Lernen, namentlich in den Stunden, die der Direktor selbst erteilte. Nur Professor Scherzer, der jugendliche Geschichtslehrer, fand seltener als alle anderen Grund zur Klage. Im Gegenteil – oft genug überraschte ihn, aus der Träumerei heraus, Tino Photinos mit »glänzenden Antworten,« wie er sich ausdrückte. Hätte er sich die Zeit nehmen können, tiefer nachzuforschen, so würde er bald gefunden haben, daß jene glänzenden Antworten stets dann erfolgten, wenn er, der lebhafte und feinsinnige Lehrer, seine beliebten Abschweifungen aufs Gebiet der Kunstgeschichte und Völkerkunde machte, Kostüme und Rassenmerkmale schilderte und plastische Gruppen vor die geistigen Augen seiner Zuhörer zauberte. Persönlich knüpfte er keine Beziehungen zu dem jungen Griechen an, der mimosengleich vor jeder näheren Berührung zurückbebte, aber in der heiligen Feme des Konferenzzimmers suchte er manches Strafgericht von Tino Photinos' Haupte abzuwenden. Allein die Wärme seiner Verteidigung stieß auf Unglauben und trug ihm Vorwürfe ein.

Dennoch ging er nicht von seiner guten Meinung ab, und als er eines Abends mit der Pastorin im Sprechzimmer seines Bruders – ihres Arztes – zusammentraf, benutzte er die Gelegenheit, um ihr seine Gedanken über Tino mitzuteilen. Während ihrer Konsultation wartete er sogar im Vorzimmer auf sie und stieg zum Heimgeleit zu ihr in den Wagen, weil er sein Thema gern ganz erschöpfen wollte. Durch seinen Bruder wußte er von ihrer Sympathie für Tino. Sie nahm seine Ansichten voll Interesse, wenn auch zurückhaltend, auf, erklärte aber, ihr Urteil noch nicht fertig zu haben. Sie hatte des Direktors Kinder und mit ihnen Tino viel seltener gesehen, als es ihr Wunsch war; denn seit den Sommerferien war sie an ihrem schmerzhaften Nervenübel sehr leidend, kam kaum mehr zu Fuß ins Freie und mußte allen lebhaften Verkehr meiden. Kurt fand die Sache »bodenlos öde!«

Sobald aber ihr Zustand vorübergehend erträglicher zu werden schien, forderte sie den Neffen auf, ihr seinen Freund häufiger zu bringen, und je öfter sie Tino ruhig und unbeeinflußt sah, um so fester ward auch sie in der Gewißheit, daß die dunkle Hülle seines Wesens eine Innerlichkeit verbergen müsse, die raketengleich ihre Funken zu den göttlichen Sternen himmelauf senden werde, wenn erst einmal der rechte Zünder die Hülle durchbreche. Sie sagte sich's auch, daß Gerda ihr wahrscheinlich allerhand Aufklärung geben könne, aber ihre feine und diskrete Natur scheute jedes Spionieren wie eine der sieben Todsünden. Ihr größter, vielleicht ihr einziger Fehler bestand in einer gewissen Passivität, die an Schwäche grenzte und vor Stürmen jeder Art zurückschreckte, weil Stürme die glatte Flut und das schöne Gleichmaß des Lebens erregen und zerstören. Und doch war's gerade dieser Fehler, der ihrem Wesen das Gepräge der anmutsvollen und hingebenden Weiblichkeit gab. Tino gegenüber sprach ihr Gefühl anders als ihr Verstand, aber um seinetwillen versuchte sie dem kühleren Ratgeber ihres Innern zu folgen. Denn, sagte sie sich, war es nicht jedenfalls besser für Tino, daß er sich vorerst in all jene praktischen Studien vertiefte, ohne welche das holde Kind des Äthers, das Genie, nur gar zu oft nackt und hungrig über die sorgenvolle Erde dahinzieht und sich die bunten Schmetterlingsflügel kläglich zerstößt?

So ward, infolge jener Sprechstunde beim Doktor Scherzer, Tino Photinos auf kurze Zeit der tägliche Gast seiner mütterlichen Beschützerin im Pfarrhofe.


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