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Als zwei Stunden früher der Direktor Tinos Zimmerthür hinter sich verschlossen hatte, erhob sich der Gezüchtigte mühsam vom Bettrande und schlich auf unsicheren Füßen zum Waschbecken, um sein Gesicht vom Blute zu befreien. Vorläufig war es ein nutzloses Beginnen. Immer wieder sickerten die schweren, dunklen Tropfen hervor, und er bemühte sich nicht weiter ihretwegen.
In dumpfer Gleichgültigkeit ließ er seine matten Augen durchs Zimmer schweifen; es schien ihm fremd und eng geworden zu sein. Dann kniete er auf dem Fußboden nieder und fing an ganz mechanisch die Papierstückchen zu sammeln, seine geliebten, grausam zerstörten Arbeiten. Eines nach dem anderen nahm er zwischen die Finger und betrachtete es, während unklare Bilder aus der Marseiller Vergangenheit vor ihm gaukelten und wechselten, wie die Steinchen im Kaleidoskop. Ach! was waren die kindischen Ärgernisse jener Zeit gewesen, wenn er sie dem quallvollen Elende dieses Tages verglich, der ihn über die Schwelle des ersten Mannesalters geleitet hatte! – Verlassen, vernichtet, gefangen! als Genossen das bittere Gefühl fremder Grausamkeit, das nagende Bewußtsein eignen Verschuldens! –
In seiner Brust kochte es, sein Haupt umsauste es kalt, gerade als ob von oben herab ein riesiger Stoßvogel in großen Schwingungen seine Fittiche auf ihn herabsenke. Er warf den Arm, ängstlich abwehrend, in die leere Luft empor, und jetzt war das beflügelte Raubtier da, um ihn unter seiner Wucht zu erdrücken – jetzt schlug es ihm die Fänge ins Haupt, daß es von jähem Schmerze durchzuckt ward. Er raffte sich vom Boden auf, um des Ungetüms Herr zu werden, und plötzlich war das Ungetüm kein Raubvogel mehr, sondern ein Löwe mit des Direktors kalten Blicken. – Nun verschwand der Spuk – aber von welcher Seite würde er wiederkehren? Von Furcht verfolgt, wendete sich Tino hierhin und dorthin; das böse Feuer kam und ging in seinen Augen, je nach dem Wechsel seiner jagenden Rachegedanken.
Der thönerne Zeus! Der Götterpygmäe! Wohl besaß er den Schlüssel zur Thür, aber wiederkehren sollte er nicht! Tino schob von innen den Riegel vor, verstopfte das Schlüsselloch mit fest zusammengeballtem Löschpapier und öffnete das Fenster. Nun vermochte er etwas besser zu atmen, aber sein Kopf blieb heiß und schwer, obgleich der eisige Nordwind hereinblies und mit den Papierfetzen auf den Dielen spielte.
Tino trug sie alle auf den Arbeitstisch unter der Hängelampe und bemühte sich, einzelne der Bildchen aus dem Wuste wieder zusammenzufinden – es gelang ihm nicht. – Ein verzweiflungsvoller Gram bemächtigte sich seiner, aber die Linderung der Thränen blieb ihm versagt; er legte den brennenden Kopf auf den traurigen Papierhaufen und küßte ihn in seinem stummen, leidenschaftlichen Kummer.
Draußen stürmte und schneite es immer heftiger; von fern stieg und fiel das Summen und Grollen des erregten Meeres, und der sinkende Tag hatte kaum vermocht, sich aus dem Banne der Dämmerung hervorzuringen.
Die Gedanken des Unglücklichen irrten ohne Ausweg im Chaos hin und her. Er wollte Oheim Mavros und der Pastorin tröstliche Briefe lesen: – die Buchstaben wurden zu roten Funken vor seinen Augen; er wollte einen Zukunftsplan entwerfen – jeder Versuch zerrann im Nebel. Flüchtig fuhr die Frage durch sein Gehirn: ob wohl daheim auf Naxos der süße Wein schon ausgegoren habe für dieses Jahr? Aber die Zeit stand still, ohne vorwärts und rückwärts; sein Unglück hielt die treibenden Räder an. Er wußte, daß es für dieses Unglück und ihn selbst ein Gleichnis gab – wohin war es ihm entschwunden? – Ah! nun fand er es wieder: »Ikaros!« – Ja – Ikaros hieß er, und nicht umsonst hatte eine Mutter vorahnend über ihn selbst und sein schreckliches Los geweint.
»Jäh stürzt' er nieder in die Marmorklüfte –«
Heute wollte ihm die Mutter wiederkehren, und er, ihr Sohn Ikaros, lag mit zerschmettertem Haupte in der Felsenöde und wartete – wartete! Auf was denn? Das zerschellte Haupt taugte doch nicht zum Marmorbildnis der Kühnheit; der Gott konnte ihn nicht erkennen, um ihm die Schwingen zum Lohn für den grausen Sturz anzuheften. Warum durfte der sterbliche Mensch nur durch so viel Leiden zu den Himmlischen eingehen? Ach, wenn er nur endlich und gewiß einging! – Wo fand er die Verheißung aufgeschrieben?
Dunkel entsann er sich seines Notizbuches und zog es aus der Tasche hervor. Es öffnete sich ganz von selbst bei den vielgelesenen Blättern, die das Ikarosgedicht enthielten; er starrte es an, allein die deutschen Worte erschienen ihm völlig meinungslos; nur die einzige Zeile, die ihm vorhin zur Auffindung des Gleichnisses verholfen, hatte sich seinem Gedächtnisse eingeprägt. Der Rest besaß in dieser Verzweiflungsstunde keinen Wert mehr für ihn; deshalb zerriß er das Büchelchen und warf es von sich.
Für einen kurzen Moment tauchte das traute Heim des Pfarrhofes vor seinen Augen auf, und im Rahmen der braunen Scheitel erhob sich das liebe, schöne Angesicht der heißersehnten Mutter aus den Kissen des Ruhebettes und lächelte ihm den Willkommen entgegen.
Wehe! einer Fata Morgana gleich entschwand es seiner kranken Phantasie, und um ihn her ward es immer kälter und lichtloser. Dann folgte sein Blick den Bewegungen der eignen Finger, und er schauderte. Sein Blut hatte wohl zu tropfen aufgehört, aber es klebte an seinen Händen. Jähe Furcht packte ihn wieder an, und es dunkelte vor seinen Augen. Hell mußte es um ihn her werden, heller als der Tag, wenn er nicht dem Wahnsinn anheimfallen sollte.
Sein Ofenfeuer brannte schon längst nicht mehr, und die Kälte schüttelte ihm die Glieder. Hastig griff er nach den Streichhölzern, rieb ein halbes Dutzend auf einmal an, und die kleinen Flammen sprühten lustig zischend aus den schwarzen Zündköpfchen. Er vergaß, was er damit gewollt; denn der rasch aufzuckende und verlöschende Schein erfüllte ihn plötzlich mit fanatischer Lichtgier; er vermochte sein Denken nicht mehr zu zügeln, noch sein Thun zu meistern.
Zündholz auf Zündholz brannte er an. Die erste Schachtel war leer; er riß eine zweite und dritte aus dem vollen Pakete auf seinem Bücherregale. Vor ihm auf dem Tische loderten die angehäuften Papierstücke, die alte grüne Tuchdecke darunter schwelte qualmend. Er sah es zucken und leuchten, er hörte es knistern, und da lag es vor ihm, das weite, herrliche Meer seiner Heimat, brennend in dunkler Abendglut. Da zischten die schimmernden Wellen um den Kiel der Barke; der Melanos stand hochaufgerichtet darin, und zum drittenmal hoben sich die weißen Arme der holden Neraide zu ihm aus den Wassern empor. Ringsumher aber sangen Tausende von unsichtbaren Stimmen wildjauchzend:
»
Khére, khére, Elefteria!«
»Freiheit, Freiheit, sei gegrüßt!«
*
Tinos Augen funkelten, sein Atem fuhr stoßweise über die trocknen Lippen, jede Fiber seines Körpers spannte sich an in rasendem Verlangen. Jetzt raffte er mit den unversehrten Zipfeln der Decke die brennenden Massen vom Tische auf und schleuderte sie in den kalten Ofen. Beide Ellbogen auf die Kniee stützend, das Gesicht in den Händen, kauerte er davor, wiegte sich mechanisch hin und her und weidete sich an der züngelnden Glut: »Mehr! – mehr davon! – viel mehr!« –
Er lachte laut, sprang auf und war mit einem Satze an dem schweren, hängenden Bücherregale, das seine Schulbibliothek enthielt: Griechisch und Lateinisch, Französisch und Deutsch enggereiht und bunt durcheinander. Fort damit! was nützte der Plunder im Unglück?
Er riß die Bücher vom Regale, daß eine der starken, haltenden Schnüre sich mitsamt dem Haken löste, und die ganze Weisheit, die seit sieben Jahren ein kleines Kapital verschlungen hatte, stürzte polternd zu Boden. Tino lachte lauter: je mehr Lärm, desto besser! – Ehe der flüchtige Brand im Ofen zu Asche ward, schob er Bücher und Hefte nach, ohne Auswahl, ohne Pause. Immer höher türmten sie sich, immer mächtiger brauste das Feuer. Der Wind trieb Rauch und Ruß ins Zimmer zurück, durch die offene Ofenthür fiel eins der brennenden Bücher auf die Dielen und flammte dort weiter, nun ein zweites – Tino achtete es nicht. Erst als das Regal völlig leer und die Stube von übelriechendem Qualm erfüllt war, durchblitzte ihn ein Strahl wiederkehrender Besinnung. Er sah, was er angerichtet hatte, und sagte sich instinktiv, daß er jetzt um jeden Preis der zweiten, härteren Strafe entfliehen müsse.
Hinweg und hinaus, ehe er hier erstickte! Mochte die flackernde Flamme ergreifen und zerstören, was sie wollte!
Er rüttelte an der Thür; sie gab nicht nach, also zum Fenster! Außer denen der Quinta und Sexta und den drei stattlichen Bogenfenstern der Aula, war das seines Zimmers das einzige des Gebäudes, welches auf den Hof ging. Tino schwang sich auf das niedrige Sims und schaute um sich. Die Winterluft trieb ihm einen Schwarm großer Flocken kühlend ins Gesicht, die blattlosen Ulmenkronen stemmten sich gegen den rauhen Nord, der sie beugte, und die Krähen folgten mit flatternd ausgespannten Schwingen und melancholischem Krächzen ihren Bewegungen. Drunten war's an diesem schulfreien Nachmittage still und menschenleer, auf dem Steinpflaster lag der Schnee hoch und weich und lockte förmlich zum Sprunge.
Im nämlichen Augenblicke glitt Tino an der blechernen Regenrinne abwärts. Er spaltete hart aufprallend, den Holzdeckel der Regentonne und geriet mit beiden Füßen tief in das übereiste Wasser, aber rasch hatte er sich herausgearbeitet und stand im Schulhofe. Eilig lief er zur niederen Mauerpforte; ein elastischer Ansprung und ein krampfhaftes Emporschieben des Körpers: nun gewann er die dachförmige Krönung. Ganz unwillkürlich vermied er's, die Glocke zu berühren, die, unter einem kleinen Türmchen hängend, Beginn und Schluß der Schulzeit zu verkünden pflegte. Jetzt ließ er sich an der Außenseite der Pforte zur Erde niedergleiten und lehnte sich mit lautpochendem Herzen, einen Moment ausruhend, gegen die kalten Bretter, an denen der Sturm rüttelte. – Keine lebende Seele hatte seine Flucht bemerkt, und hier war die Freiheit! Bis in die Unendlichkeit hinaus schienen Heide und Wiesenland sich zu dehnen; an die rückwärtsliegende Stadt reihten sich die Hügel des Galgenberges und der Windmühlenhöhe, und winzig klein hoben sich Seedeiche und Fuhrenholzungen von der maßlosen Fläche ab, die in eine noch maßlosere überging: in das Meer. – Ohne Hut und Mantel hastete der Flüchtling über die Heideflächen dahin, dem Deiche zu. In ihm glühte das Fieber als die Hitze des Südens, und horch, die See rief ihn mit heimatlichen Lauten. Wohl war die abendliche Feuerglut, die er vorhin als Vision gesehen, erloschen, aber was er jetzt schaute, erschien ihm wahrer und deutlicher. Stand er nicht auf Naxos, tauchte dort am schwarzen Horizonte nicht Paros, die schneeige Marmorinsel auf? Nur der Nebel, der böse Nebel! – Nein! er war ja nicht in der Heimat! Welche Umnachtung, die nicht Irrsinn hieß, hätte standgehalten im Angesichte dieses mächtigen Meeres, dessen zornige Stimme alle Gehörstäuschungen übertönte, dessen grauenvoller Ernst alle phantastischen Gebilde verschlang.
Die frühe Dämmerung brach herein. Wie eine Mauer stand die finstere Bö im Nordwesten; der Wind war umgesprungen. Vom Abend her fegte er das Gewölk als lange, flatternde Strähnen bis zum Zenith empor und jagte die heranstürzenden Flutwellen immer wieder zurück, der schneebedeckten Hallig zu. Wie sie gegen den Andrang des Sturmes kämpften, die stahlgrauen, eisigen Wogen! In geschlossener Kolonne rückten sie vor, wütend reckten sie ihre weißen Köpfe, daß der Gischt hoch aufstiebte und den gellenden Möwen die glatte Brust wusch. Aus den Tiefs quirlte und gurgelte es in die Höhe und lief rauschend über die Sandbänke und Muschelblößen hinweg, die um Ebbezeit als weißliche und rötliche Inseln frei aus dem Schlick aufragten. Und schon füllten sich, dem Strande zu, die Prielen mit Wasser; Algen und Blasentang kamen in strudelnde Bewegung, und die raubgierigen Mantelmöwen hüpften unter plumpen Flugbewegungen im Schlamm. – Das war Springflut!
Oben, über Tinos Haupte, schwankte der lose Telegraphendraht, den der Sturm gepackt und zerrissen hatte; die Verbindung mit Holmsend war für heute unterbrochen. Unten schmiegten sich wenige ärmliche Hütten nahe an den Deich, und vor ihnen stand, rechts von der Buhne, der hohe Mastbaum, der an Festtagen die Landesflagge trug und bei Not zur See die Laterne mit dem roten Lichte. Fritz Clasen, der Invalide aus dem Jahre vierundsechszig, hatte sie aufzuwinden. Gottlob, kein Schiff und kein Boot war in Sicht, und doch rannten die Männer dem Strande zu, so wenige ihrer waren; denn zwei von ihnen hatten Nachmittag das neue Rettungsboot von der Werfft am Hafen nach Holmsend hinaufgeschafft und waren noch nicht zurückgekehrt. – Unbeweglich hielt Tino seine Augen auf die wilde See geheftet. Ihm ward es seltsam warm ums Herz, und er begann sich von neuem an das zu klammern, was er vor wenigen Minuten erst von sich zu werfen wünschte: an sein junges Leben. Er umschlang die Telegraphenstange mit beiden Armen und sog in tiefen Zügen die kalte, salzige Luft ein: Wohl raubte ihm der Wind den Atem, aber er durfte doch noch atmen. Es mußte furchtbar sein, in diesem von Leidenschaft gepeitschten Meere unterzugehen und dorthin, gegen die Insel der Unseligen getrieben zu werden, von der das Heulen der Brandung auszugehen schien.
»Man darf sich nicht scheuen, der Trübsal, die Gott verhängt, tapfer ins Auge zu schauen!« Das war's, was ihm die Mutter zugerufen hatte, an jenem ersten, linden Sommerabende, der ihr des Verwaisten Herz erschloß.
Fest, wie zum Gebet, faltete der Einsame seine Hände: »Nein – ich will heute nicht sterben – ich will weiterleben!«
Der Mut, nicht die Feigheit beschloß es in ihm. »Und ich werde doch fliegen, höher als ihr!« sagte er laut, schaute den Möwen nach, die hart über den Sturzseen hinstreiften, und blickte nieder auf das Strandbild zu seinen Füßen. Ja! das war ein Bild! Diese Landschaft, dieser Himmel darüber, diese Staffage ernster kernhafter Gestalten! Seine zerrissenen Skizzen traten ihm vor Augen. Um jene Handvoll mutwilliger Tändeleien war er so todesunglücklich geworden, dafür hatte er einen Schlag bis aufs Blut geerntet, dafür hatte er seinen Angreifer erwürgen wollen, und nun flüchtete er wie ein Geächteter. Schweres Unrecht war ihm geschehen, ebenso schweres hatte er begangen: Vergehen und Strafe hoben einander auf. O, wie durfte er sich dem edlen, »schöngeäugten Knaben Ikaros« aus den taygetischen Bergen vergleichen, wie durfte er, ein Schuldiger, des flügelspendenden Gottes harren?
Erst vor acht Tagen war in der Klasse eine Sapphische Ode übersetzt worden. Er hatte währenddessen unter dem Tisch seinen Paragraphenthron für den »thönernen Zeus« entworfen, und nun kehrte ihm plötzlich der herrliche Vers ins Gedächtnis zurück, in dem es heißt:
»Rein sei, der da zum Reinsten emporstrebt,
Zur Phöbischen Leuchte,
Die uns im Herzen verrät den schändenden Flecken
Und das rollende Sandkorn!«
*
Da ward es ihm unheimlich dort oben allein zu stehen; er lief die Böschung hinab zum Strande und auf die kleine Gruppe von Männern zu, die laut redend und mit heftigen Handbewegungen am Ende der Buhne standen, unbekümmert darum, daß die Wellen ihnen schon über die Füße spielten.
Tino kannte die Leute von mancher Bootfahrt mit Kurt her. Da war der alte Peter Johannsen und der einarmige Fritz Clasen und hinter ihm Hackert, der Landjäger, Fritz Clasens Schwager, der so wütend mit den Armen in der Luft herumfuchtelte, als möchte er alles zerschlagen und zerstoßen. Auf dem vordersten, schlüpferigsten Buhnensteine hob sich Clasens zehnjähriger Christel in seinen Holzschuhen auf die Zehenspitzen und zeigte in die brüllende See hinaus:
»Vater! Vater! Ohm Johannsen! Hui! da steht einer bei Langsand und ankt mit den Armen!«
»Menschenkinder, denn muß es so sein; der Jung' sieht euch feiner als 'n Fernglas!« schrie Clasen. »'n Tümmler ist das nicht und auch keine von den alten Bojen. Gotts Wetter, das hebt ja wahrhaftig die Arme hoch; seht ihr? seht ihr? Denn kriegst du doch am Ende recht, Schwager. Fix Christel, hol das Glas heraus, gleich vorn im Schapp, hörst du? Die verdammte Bö weht einem ja alles vor den Augen durch'nander!«
»Ach, Herr du meines Lebens, der hat nach der Hallig durchbrennen wollen, der ist ganz verbiestert gewesen, daß'r 'ne halbe Stunde vor Springtide ins Watt läuft –,« sagte Johannsen, ein großer, weißhaariger Mann mit krummem Rücken und verwitterten Zügen. »Laß mich vorbei, Clasen –«
Er ging rasch zu seinem Häuschen hinüber, und Clasen fuhr fort:
»So'n Hans Quast! Läuft ins Watt, wo'r sich zehnmal vor dir hätte verstecken können, Schwager, zwischen den Schuppen oder in einem von Johannsen seinen Booten, oder hinter meinem Schweinekoben –«
»Das ist recht! gib du dem Stromerpack auch noch Anweisung gegen unsereinen! Das sollt' ich wahrhaftig anzeigen, Schwager!« fiel der Landjäger ein und wurde vor Zorn blaurot wie ein Truthahn. »Ich ärger' mich schon die Schwerenot, daß'r mir ausgerissen ist, und bloß einen lumpigten Theelöffel hab' ich wiedergekriegt. Kann ich wissen, daß'r durch'n handbreites Loch geht, wie der Kamel durch'n Nadelöhr, während daß ich nebenan in seinem Bettstroh Suchung thu'? Kann ich das wissen, he? Zwischen den Kämpen kriech' ich nach dem schwarzen Undiert 'rum und das läuft direktemang ins Wasser wie 'ne Robbe!« – Er fuhr herum; denn eine Hand griff ihm fest um sein Armgelenk.
»Wer? – Wo ist er?« fragte Tino. »Zeigen Sie mir die Stelle!«
Hackert blickte in das blutrünstige, von keiner Kopfbedeckung geschützte Gesicht des jungen Mannes und dachte bei sich: Der hat 'ne feste Prügelei mit seinen Kameraden gehabt – was frag ich danach? Das geht den Pedell an! – »Wer das ist und wo?« sagte er scharf und zog die Brauen hoch. »Gucken Sie hier mal nipp durch Clasen sein Glas, jung' Herr, bis Sie das Ding klar kriegen. Immer auf die Hallig zu: so! Haben Sie'n? – Das ist auch so'n Ausländischer wie Sie, 'n Schubjak, der auf dem Pfarrhof silberne Löffel gemaust hat. Dafür muß'r jetzt elendiglich versaufen.«
Tino richtete das Glas nach Hackerts Angabe und blickte angestrengt gegen die Hallig hinaus. Endlich entdeckte er zwischen den auf- und abwogenden Wassern den Kopf als ein winziges, schwarzes Rund, und der Arm, der zu dem Kopfe gehörte, schwenkte verzweifelt ein Etwas in der Luft: einen großen Schlapphut.
»Gott – Gott – Gott! Nicolo!« schrie Tino auf. Das Fernrohr entfiel ihm, und er schlug die Hände über dem Kopfe zusammen: – »Mein armer Nicolo!«
»Das stimmt, der ist es,« sagte Hackert und schob das Fernrohr, das er aufgefangen hatte, sehrecht für seine Augen. »Der kleinste und der größte Lumpenkerl fünf Meilen im Kreis. Noch hat'r Grund, aber das dauert keine zehn Minuten mehr.«
»Und niemand hilft?« rief Tino. »Ich will Geld geben – fünfzig Mark – hundert – helft nur!«
»Dadrum mach' ich keine Ruderpartie bei dem Hundewetter,« antwortete Hackert. »Clasen hat nur den einen Arm, und Johannsen hat seine Alte auf dem Buckel. Die beiden anderen von hier, Frerk und Tönnings sind nach Holmsend, und nach Holmsend ist der Draht futsch!«
»Ich lauf' hin ans End! Steck'n Licht auf, Vater!« schrie der kleine Christel, schlenkerte die Holzschuhe hinter sich und war schon barfuß um die Deichecke nach der Rettungsstation zu, ehe sein Vater ihn zurückrufen konnte.
»Keiner hilft?« wiederholte Tino. »Dann gehe ich! Gebt mir ein Boot!«
Indem kam Johannsen aus seinem Hause, in Teerjacke und Südwester, seine Beinkleider in die hohen Schlickstiefel gesteckt. »Nein, jung' Herr – ich geh', das ist nichts für Sie,«, sagte er ernst. »Die Laterne hoch, Fritz, das Boot ist klar.«
»Was willst du, das ist umsonst!« rief Clasen und wand das rote Licht am Mastbaum in die Höhe. »Mein Christel gib Kundschaft am End; denn laß die fahren, Johannsen! Eh'r daß du dein Boot über'n Schlick hast, ist der da längst weggewaschen von der Bank. Verdamm' mich! – mitten auf Langsand steht'r, just hinter Heringstief! Da – da – da! hoch auf die Seite geht'r – in die Dünung kommt'r!«
Tino hielt mit beiden Händen den Arm des Alten, schüttelte ihn und redete dringlich in ihn hinein. »Ich bin auf den Inseln daheim,« vernahmen die anderen, »ich kenne die See – ich kann rudern wie du!« Gleich darauf eilten die beiden zum Strand hinunter, der Alte schulterte mit der Rechten die Ruder, die Linke hatte er um Tinos Hüfte gelegt.
»Sollen wir das zugeben, Schwager? So'n junges Blut?« fragte Clasen, und Hackert zuckte die Achseln:
»Wer für'n Schubjack seine Haut riskiert, der muß selber wissen, was'r thut,« antwortete er und begab sich auf Tinos früheren Beobachterposten an der Telegraphenstange.
»Und wenn'r auch gestohlen hat – Mensch ist Mensch und Leben ist Leben,« sagte zu gleicher Zeit unten am Boot der alte Mann zu seinem jugendlichen Gefährten. Gott helf', daß wir zwei die Fahrt glatt durchholen, jung' Herr!«
Indem kam eine grauhaarige Frau mit zwei halbwüchsigen Mädchen und einem hübschen kleinen Knaben in vollem Laufe an den Strand zu den beiden. Tino befestigte sich gerade seinen Korkgürtel um den Leib, und der Alte band die Leine an einen anderen für den Fall, daß sie, der Bänke und Brandung wegen, dem Ärmsten da draußen nicht nahe genug kommen könnten, um ihn ohne weiteres aufzunehmen.
»Jesus! Mann – Mann – denk an uns!« schrie die Frau. »Unser Jung' ist tot, seine Frau ist tot, und die drei Wichter haben nichts mehr als dich und mich!«
»Leben ist Leben,« wiederholte der alte Mann und deutete ins Meer hinaus. »Der da ist auch 'ner Mutter Kind! – Gib dich, Meiken!«
Dann stießen sie ab und wurden in die Wasserwüste fortgeschleudert, wo aus jeder heranrollenden Woge die furchtbare Stimme des Verderbens brüllte. Aber Peter Johannsen hatte einen festen Blick und eine sichere Hand.
Stumm, mächtig atmend, arbeitete er gegen den brausenden Schwall, und mit unnatürlich angespannter Kraft that Tino furchtlos und gedankenlos das Seinige. Oft fragte er sich in späterer Zeit, woher er damals den Mut zu jener grausigen Fahrt genommen hatte, durch die er mit einem Schlage vom launischen Knaben zum Manne wurde. In sich selbst fand er den Antrieb nicht, und er nannte ihn wohl mit scherzhaft klingendem Ernste: die erste Flügelfeder von des Gottes Gnadengeschenk nach dem Ikarossturze.
Mühsam kämpfte sich das Boot den gefährlichen Bänken entgegen, und das Tageslicht sank rasch. Jetzt ritt der Kiel hoch auf den weißen Kämmen, die gespenstisch durch das Dunkel leuchteten, jetzt schoß er jäh in die blauschwarze Tiefe hinab. Längst hatten Schnee und Sprühe von Tinos Händen und Gesicht das Blut abgewaschen; sein lockiges Haar klebte an Stirn und Schläfen, seine Kleider troffen und dampften. Unbewußt beugte und hob er den Körper nach den Bewegungen des Bootes und stemmte die Füße fest gegen die Trittleiste. Aus seinen Händen wich die Erstarrung; sie begannen schmerzhaft zu prickeln und zu brennen, allein der lebende Schmerz that ihm hundertmal wohler als die tote Fühllosigkeit.
Der Alte bohrte seine scharfen Augen in die wachsende Dunkelheit und schob den tropfenden Südwester mit kurzem Ruck noch tiefer in den Nacken.
»Wo sind wir?« fragte Tino, so laut er konnte; denn das Donnern der See verschlang die kleine Menschenstimme.
»Im Tief! – da kommt Langsand«, rief der Alte zurück. »Paß Achtung! siehst du was da draußen?«
»Nichts! – Nichts!« – Tino zog, vor Anstrengung keuchend, die Ruder ein und starrte in der gegebenen Richtung angestrengt vor sich hinaus, aber die hohe Brandung türmte ihren Damm vor seinen Blicken auf. Eine gute Strecke höher nordostwärts sahen die Ruderer das gelbe Licht des Rettungsbootes von Holmsend näher und näher schwanken.
Und jetzt schleuderte eine dräuende Riesenwoge mit dumpfem Anprall einen Leichnam gegen die Bootseite. Das schneeweiße Gesicht war vom Todeskampfe verzerrt, die strähnigen Haare schwammen auf dem Wasser.
»Laß treiben – zum Teufel!« – schrie Johannsen, als Tino hinter ihm polternd die Ruder ins Boot warf, »laß treiben, sag ich! – Hinter die Riemen, sag ich! Wir sind auf den Bänken!«
Die strudelnde Brandung riß das kleine Boot herum und warf es rückwärts; der dunkle Körper drehte sich ein paarmal um seine eigne Achse und verschwand, jetzt tauchte er eine ganze Strecke weiter dem Lande zu wieder auf, und mit unsäglicher Mühe bargen ihn die Mutigen, Barmherzigen im Boote; denn konnte nicht vielleicht doch noch ein Lebensfünkchen in ihm glimmen? – Johannsen beugte sich über ihn und wendete ihm das Gesicht zur Seite, damit das Wasser aus Mund und Nase einen Ausweg fände. »Er ist hin, – gib dich!« sagte er zu seinem Begleiter, der wie ein Kind schluchzte.
Lang ausgestreckt lag der Tote zu Tinos Füßen im Boden des Fahrzeuges; der runde Mantel, in den sich die Hände krampfhaft verkrallt hatten, deckte die schlanken Glieder. Inmitten all der übermenschlichen Anstrengung zehrte ein unerträglicher Schmerz an Tinos Seele. Ihn deuchte es, daß sein eignes, vernichtetes Ich da unten im Boote läge und ein anderer, ein Fremder ruderte an seiner Statt und rang mit Sturmflut und Finsternis um sein Leben. Es war gut, daß Wind und Sprühe ihm den Blick verschleierten; er hätte es kaum ertragen, seines sündigen, toten Lieblings bleiches Angesicht jetzt zu betrachten.
Endlich, endlich schimmerte der helle Strand herüber, und das ruhige rote Licht brannte ganz nahe. Jetzt ward es langsam abwärts gewunden, als Johannsens Boot anlandete, um auch den Holmsendern das Zeichen zur Rückkehr zu geben.
Sämtliche Bewohner der Hütten warteten an der kleinen geschützten Bucht, dem Bootshafen: Frerk und Tönnings waren schon wieder daheim; finsterer Ernst lag auf den wetterharten Gesichtern. Von Mund zu Mund ging ein leises Murmeln des Mitgefühls, als der Leichnam herausgehoben ward; die Männer zogen ihre Kappen, die Weiber falteten ihre Hände. Denn der Tod redete auch über dem Sünder seine heilige Sprache:
»Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet.«
Nun ward Tino umringt, auf die Schulter geklopft, und alle wollten sie ihm die Hand schütteln.
»Das ist'n staatscher Kerl! 'n ganzer Kerl!« sagte Tönnings, und Fritz Clasen rief seinen Christel herbei und hieß ihn Tino »nipp ins Gesicht sehen«.
»Nimm dir'n Beispiel, Jung!«
Dann trugen sie die traurige Last in Johannsens Häuschen, und dort, in seiner stillen Kammer, machte der alte Mann vergebliche Wiederbelebungsversuche. Die Frau und Tino thaten Handreichung, alle übrigen umdrängten von draußen trotz Wind und Kälte das kleine Fenster, dessen eisiger Beschlag unter dem Hauche aller der warmen Lippen schmolz. Der Eintritt ward jedem verwehrt, nur Hackert erzwang ihn sich, kraft seines Amtes.
Zuerst durchwühlte er die triefenden Kleidungsstücke des Verunglückten und fand richtig den Rest des gestohlenen Gutes, zusammengedrückt und voller Beulen, ganz unten zwischen Stoff und Futter des faltigen Mantels. Als er jedoch an die rohe Bettlade trat, zog Tino sein nasses Schnupfzeug hervor und deckte es über das Gesicht der Leiche.
»Ich bin kein Unmensch, jung' Herr – Sie brauchen mich nicht so feindlich anzusehen,« sagte der Landjäger, »aber für den Kerl da ist es besser, daß 'r heut im Wasser gestorben ist als übers Jahr im Zuchthaus!« Er nahm das Tuch weg, reichte es Tino und betastete und behorchte den Toten nach allen Richtungen wie ein Doktor.
»Der ist so still wie'n Sargnagel,« schloß er seine Untersuchung und half Frau Johannsen, den starren, nackten Körper in ein sauberes Bettlaken zu schlagen und dann auf sein Lager zurückzuheben. Hier sollte er bleiben, bis er, nach der gesetzlichen Frist, seine letzte Ruhestätte fand.
»Ach – im Seegarten! – nicht unehrlich –« bat Tino und wieder bot er zu diesem Zwecke seine hundert Mark, sein Geburtstagsgeschenk an, aber Hackert wehrte kopfschüttelnd ab:
»Lassen Sie sein, jung' Herr,« sagte er ernst. »Ihren Antrag will ich wohl mit dem Thatbestand zusammen beim Amt ausrichten – denn findet sich das alles und geht nach der Ordnung. Bestechung gilt hier am Ort nicht.«
»So werde ich ihm wenigstens ein Grabkreuz geben,« entgegnete Tino, hob das Leintuch und legte seine eisige Hand auf das eisige Totenantlitz, dessen schöne Lebenszüge in dem angsterstarrten Zerrbilde kaum mehr zu verfolgen waren. Während der Landjäger sein gewichtiges Notizbuch hervorholte und die nötigen Eintragungen über den Leichenbefund machte, versuchte er mit bebenden Fingern den weitgeöffneten Mund der Leiche zu schließen, die Lider über die hervorgequollenen Augen zu ziehen und die grauenvollen Falten in Stirn und Wangen auszuglättten.
»Ich will ihn zeichnen – geben Sie mir ein Blatt aus Ihrem Buche – und den Stift –« bat er, zu Hackert gewendet; die eigne Stimme schien ihm aus unermeßlich weiter Ferne zu kommen, und ein Schüttelfrost ging durch seinen Körper.
»Jesus! – paßt Achtung! – der jung' Herr!« rief Frau Johannsen, und ehe sie ausgesprochen hatte, taumelte Tino seitwärts und fiel schwer vornüber auf die Brust des toten Knaben.