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3.

Der folgende Morgen brach kalt und unfreundlich herein. Alle Berge waren fast bis zum Gürtel in düsteres, blauschwarzes Gewölk gehüllt, alle Fahrgeleise auf den Landstraßen mit jungfräulichem Schnee gesprenkelt, jedes Pfützchen und das sumpfige Ende des Silser Sees von zerbrechlicher Eiskruste überzogen.

Es war ein Sonntag, und diesmal mußte der Frühgottesdienst in der kleinen uralten Baselgier Kirche gehalten werden, die hart am Seerande steht, da, wo der junge Innfluß – das Volk heißt ihn hier den »Sela,« als graugrüner Streifen aus trägem Gewässer zwischen Binsen und niederem Röhricht hervorsickert. Er läßt noch nichts ahnen von seiner stolzen, fortreißenden Kraft und von der Hast, mit der er bei Pontalt ins Unterengadin braust und sich seine Bahn durch die Berge bricht, bis fast zum Ende seines Laufes.

Die beiden Dörfer Sils-Maria und Baselgia wechselten mit der einsamen Kapelle zu Crasta auf der Höhe ab. Jedes der schlichten Gotteshäuser läutete alle drei Wochen einmal seine Sonntagsglocke und füllte sich meist bis auf den letzten Platz, denn im Lande der Lawinen und Bergstürze sind die Menschen fromm, wie sie's am unsicheren Strande des alles verschlingenden Meeres sind. Sie fühlen ihres Gottes mächtige Nähe und haben Tag für Tag Ursache, seine barmherzige Hilfe zu erbitten.

So kamen auch heute die Andächtigen von nah und fern, von Platta und Tremoggia und von Curtins, dem höchsten Dorfe des Fexthales, scharweise und paarweise.

Bürklin, seine Theetasse in Händen, stand am Fenster und ergötzte sich an den einzelnen Gruppen. Allen voran der uralte Briefträger von Curtins, zusammengeschrumpft wie eine Mumie, die horngefaßte Rauchglasbrille vor den Augen, die, nach dem lebhaften Mienenspiele des Greisenantlitzes zu urteilen, noch wach und rege genug um sich her blicken mochten. Ursula, sein Enkelkind droben aus dem letzten Wirtshäuschen im Fexthale, ging zum Geleite neben ihm, die luftbraunen Hände sittsam über der kornblumenblauen Sonntagsschürze gefaltet. Nun die Tremoggier: die jungen Dirnen ernsthaft wie Nönnchen anzuschauen, die schlanken, helläugigen Burschen in den Schlapphüten, mit Gemsbart und Spielhahnfeder geschmückt, desto weltlicher, und zuletzt das Patriziat von Sils-Maria in städtischer Kleidung und der Behäbigkeit gediegenen Wohlstandes.

Ganz im Nachtrabe kam die rothaarige Barbetta Tosio daher gelaufen. Sie hatte den weiten Weg von Islas herauf nur wegen Per Vian gemacht, mit dem sie heute in der Kirche aufgeboten werden sollte. Werkeltags pflegte sie, falls das Gerede der Silser und Islaser bösen Zungen recht hatte, neben dem baumlangen Holzhauer im Walde zu faulenzen, bequem ins Moos gestreckt, die arbeitsscheuen Hände unter dem Krauskopfe verschränkt. Ohne Grund konnte doch keine Dorfdirne so weiße Hände und Arme besitzen!

Bürklin faltete die Stirn, als sie ihm ins Licht kam. Gerade wie sie heute früh aus den Federn gestiegen war, so lief sie jetzt zur Kirche, ohne Zucht und ohne Gesangbuch. »Schade um das junge, frische Geschöpf!« dachte er, »und ihre Mutter ist die gutherzigste Frau in Islas gewesen!« Ein hübsches Sprühteufelchen war die Barbetta, das mußte ihr der blasse Neid lassen! Aus den dicken Zöpfen hervor ringelte sich das Fuchshaar mähnengleich um ihr Gesicht mit den nußbraunen Augen, der geraden niederen Stirn und den üppigen Lippen unter dem feinen Näschen. Aber ihre unsauberen, weißen Strümpfe und ausgetretenen Schuhe zerstörten die Wirkung des knappen Mieders mit buntem Brusttuche und dottergelber Seidenschürze. Die fromme Frau Teresina Rizzi, die droben in Platta das alte Salis-Sogliosche Haus seit letztem Mai erst bewohnte, raffte ihr ehrbares schwarzes Witwenkleid eng um die Kniee zusammen, als die wilde Islaser Hexe an ihr vorbeisprang.

»Ja, ja! Das wird nun meines Ghitelis Stiefmutter!« sagte sich Steffen Bürklin bedauernd. »Was soll das geben?« Richtig, da traf sie schon mit Per Vian unter dessen Hausthür zusammen, hob sich auf die Zehen, zupfte ihm den Hemdkragen glatt und litt es, daß er ihr auf offener Straße eine täppische Liebkosung dafür angedeihen ließ. Er blickte höchst verschlafen und thöricht drein. Gestern abend hatte er sich zu Maloja, in Gesellschaft der italienischen Chausseearbeiter, einen herzhaften Rausch getrunken, und Glockenton und Aufgebot waren sehr unsanfte Wecker und Gewissensmahner für ihn gewesen. Die tadelnden Blicke der Baselgier Mitbürger prallten heute wie immer an ihm ab. Er war es seit Jahren gewohnt, das schwarze Schaf zu heißen. Sein Liebchen hing ihm munter plaudernd am Arme, mit der freien Linken zerrte sie Ghita hinter sich drein, barfuß, ungewaschen und aus vollem Halse schreiend. Das arme Kind hatte seine Morgensuppe im Stiche lassen müssen, die der Faulpelz Per natürlich viel zu spät zusammengebraut hatte. Jetzt war höchste Eile zur Kirche vonnöten; wer aufgeboten werden sollte, mußte doch vor allen anderen Kirchgängern im Gotteshause erscheinen und auf dem Bänkchen gleich unter der Kanzel Platz suchen.

Entrüstete Gesichter wendeten sich nach dem unfrommen Kleeblatte um, und es war nur ein Glück, daß es dem Kinde gelang, sich loszureißen und in den liebvertrauten Hof des Jostihauses zu flüchten. Das elterliche Liebespaar mußte sich eilends weiter trollen, und Steffen Bürklin rief aus seinem geöffneten Fenster: »Ghita! Ghiteli! Komm herauf zu mir!«

Das Kind, dem seine nackten Füße froren, mühte sich vergebens mit der schweren Hausthür ab, die der Wind ins Schloß geworfen hatte. Zu weinen und zu betteln wagte es nicht, die hochhängende Schelle vermochte seine kleine Hand nicht zu erreichen. So trippelte es einstweilen, um die kalten Steinstufen der Doppeltreppe weniger empfindlich zu verspüren, von einem Beinchen aufs andere, und stemmte den Körper mit aller Gewalt gegen das mitleidlose Holz. Die Thür schlug nach innen; urplötzlich öffnete sie sich rasch, und Ghiteli, aus dem Gleichgewichte gebracht, stolperte heftig in den Hausflur, gerade gegen Frau Katharine. Die aber trat mit ihrem festen Absatzschuh unversehens hart auf den bloßen, kleinen Fuß, der sich ihr zur Unzeit in den Weg schob. Ghiteli klammerte sich, vor Schmerz laut aufgellend, in die Kleiderfalten der fremden Dame, und Steffen Bürklin, jetzt zur Kirchzeit der einzige im Hause, kam flugs treppab geeilt, seinem Lieblinge zu Hilfe.

Jedoch, als er den Flur erreichte, hatte sich das Kind schon wieder beruhigt. Es saß auf Katharinens Arm, ließ sich mit ihrem weichen Schnupftuche Thränen und Schmutz zugleich aus dem Gesichtchen tupfen und drückte den kalten, wehen Fuß gegen die warme, mütterliche Brust der großen Dame aus der » carozza,« die so liebreich zu trösten wußte.

»Was ist mit ihr geschehen? Ich bitte – verzeihen Sie, gnädige Frau,« sagte der Kommende und nahm des Kindes Händchen in seine Hand. »Diese arme Kleine wird überall vom Unstern verfolgt!« Und er wiederholte dem Kinde seine Frage nach dem neuesten Leide auf Italienisch. Ghiteli sprudelte die ganze Geschichte ihrer Kümmernisse hervor, von der Morgensuppe an bis zum schlimmen Fuß, aber sie umklammerte dabei Frau Katharinens haltenden Arm, schmiegte sich eng an ihre Schulter, das Füßchen sacht gegen das dunkelblaue Sergekleid reibend, und lachte schon wieder mit den sonnigen Augen: » È bene, Signor, fa caldo!«

»Ich bitte, nun bemühen Sie sich nicht länger,« warf Bürklin ein und bemächtigte sich des Kindes. »Erlauben Sie mir, gnädige Frau, daß ich das Recht des Hausgenossen in Anspruch nehme und mich Ihnen vorstelle: Doktor Bürklin. Komm, Ghita, jetzt darfst du mit dem Dottore hinauf in seine schöne Stube gehen – du weißt doch? und da hab' ich etwas für dich zu schnabulieren. Hernach sitzest du still bei mir am Ofen und schreibst ein bißchen, eh piccola? und morgen gibt's ein Paar neue Schuhchen für dich.«

»Aber nein doch! Die Schuhchen müssen Sie mir überlassen, darum bitte ich sehr,« entgegnete Katharine, und ihre Hand glitt über den schwarzen Lockenkopf der hübschen Kleinen. »Sie nannten sie Piccola, Herr Doktor, und es ist wahr, genau wie Helene Richters ›Piccola‹ sieht sie aus. Du armes Kleines, du! Fühlen Sie nur die Füßchen. Wie darf man ein so zartes Kind barfuß übers Eis laufen lassen!«

»Ja – es hat keine Mutter und einen Vater, der sein Amt weder verdient noch versteht. Man thut eben, was man in seiner Junggesellendummheit thun kann, gnädige Frau,« sagte Bürklin halb scherzend, halb wehmütig. Da er bemerkte, daß Katharine sich wieder zur Hausthür wandte, verbeugte er sich und ging treppauf, das Kind, das nur noch ein wenig hinkte, sorgsam an der Hand führend.

Droben im Zimmer erhielt es Bürklins zweites Frühstück, das Nonna schon vor ihrem Kirchgange auf dem bocksbeinigen Fenstertischchen bereit gestellt hatte. Nachdem es sich daran erlabt, kroch das Kind ganz dicht am heißen Ofen auf dem Bärenfell zusammen, zog die Füße unter sein dünnes Röckchen und bemalte einen halbbeschriebenen Papierbogen mit Kreuzen und Strichen, während Bürklin an seinem Feuilletonartikel: »Singen und Sagen im Ober-Engadin und Bergell« weiter schrieb.

Ganz gegen seine Gewohnheit – er pflegte, wenn er arbeitete, stets mit Geist und Herz völlig bei der Sache zu sein – fand er diesmal die rechte Lust und Sammlung nicht.

Unaufhörlich drängte es ihn, sich den Kopf über Frau Katharine Eschrodt zu zerbrechen, er mochte es wollen oder nicht. Während der kurzen Minuten ihrer heutigen ersten Unterredung mit ihm hatte ihr Gesicht merkwürdig rasch den Ausdruck gewechselt, als habe es dem Beobachter damit einen ganzen Romanstoff geben wollen! Zuerst diese impulsive Innigkeit in der Beschäftigung mit dem fremden Kinde, dann die Gewandtheit der liebenswürdigen Weltdame im kurzen Gespräch über Richters Piccola und Ghitas neue Schuhchen, und zuletzt unvermittelt ein Abwenden in herber Kühle, als er, Bürklin, scherzweise seine Junggesellendummheit der mutterlosen Kleinen gegenüber erwähnte. – In sein Sinnen hinein fragte bald das Kinderstimmchen vom Ofen her sein helles: » S'gnor?« und knüpfte irgend eine drollig-altkluge Bemerkung an die Frage, bald war's ihm, als ticke seit einer Stunde die Wanduhr einen ganz anderen Takt als sonst. Allgemach nickte das Kind am Ofen ein; das Gläschen Marsala und die Wärme des Zimmers thaten das Ihrige dazu, und nun war es sehr still um den Schreibenden, der nach und nach seine alte Aufmerksamkeit zurückfand.

Jetzt belebte sich draußen der Bürgersteig wieder. Die Kirche war aus. Langsam und tief schlug die Glocke an, einmal, zweimal, dann eine Weile schneller und schneller, bis sie leise vertönte. Nun pilgerten alle die Gruppen der Kirchgänger abermals am Jostihause vorbei und abermals Per Vian und Barbetta Tosio im Nachtrabe. Die Dirne glättete sich mit beiden Handflächen ihr widerborstiges Haar und gebärdete sich weit anständiger als zuvor. Der Herr Pfarrer mochte wohl die bösen Gewissen und lockeren Grundsätze vor dem Aufgebot derb geschüttelt und erschüttert haben. Am Jostihofe blieb Per stehen, während Barbetta nach ein paar Worten des Einverständnisses gemächlich weiter schlenderte; Per besann sich nämlich darauf, daß er Vaterpflichten hatte, und Nonna, die nach beendeter Andacht noch ein wenig unter der Hofthür stand und Umschau nach Wind und Wetter hielt, fuhr ihn an, wie sie es grundsätzlich immer that, wenn er sich vor ihr gestrenges Angesicht wagte:

»He! he! Per Bian! Du Trottel, du Nichtsthuer – was schafft mir die Ehre? Dafür, daß du Werkeltags drei Axthiebe in den Baum schlägst und dreihundert daneben fahren läßt – dafür, du trunkener Tagedieb, sollen ehrliche und ehrbare Leute dir dein Kind vom Halse halten? Während du die Frommen in der geweihten Gotteskirche mit dem Islaser Rotkopf ärgerst, soll etwa mein Signor Dottore deine Kindsmagd sein, he, du Lump? Den Erdboden bist du nicht wert, darauf du trittst! Möge dir dein Branntweinglas in der Kehle zu Scherben zerbrechen!«

Per Bian hob, ob des furchtbaren Wortschwalls, beide Hände in die Höhe, als müsse er den Teufel bannen. Mit seiner schweren Zunge kam er niemals weit, und heute erst recht nicht. Ehe ihm Giuditta, der kleinen Ghita schöne, aufgeregte Mutter, davongelaufen war, hatte er's schon genugsam gelernt gehabt, daß Schweigen in solchen Fällen Gold ist. Deshalb ließ er Zia Nonnas Philippika gelassen über sich ergehen und fragte nur mit dumm-störrischer Miene:

»Wo steckt die Ghita? Heimkommen soll sie mit mir – und jetzt gleich, Zia Nonna.«

»Heimkommen? Zu was? frag' ich! Zu ungekochten Erdbirnen und stinkend gewordenem Quellwasser aus dem Kruge? Bei der Mahlzeit, du Heide, lohnt sich dir's freilich nicht, unsern Herrn Jesum Christum zu Gaste zu bitten, das versteht sich! Daß du mir nicht treppauf polterst und meinen Signor störst in seiner guten Arbeit, davon er Tag und Nacht die Hände nicht läßt! Hier bleibst du stehen und gibst Geduld wegen des Ghiteli!«

Sie ging, eigens um Per recht scharf zu prüfen, langsam ins Haus und fand das Kind fest schlafend auf dem Bärenfelle vor Bürklins Ofen ausgestreckt. Bürklin legte zwar abwehrend und kopfschüttelnd den Finger auf die Lippen, allein Nonna hob das Kleine, das sich nicht einmal regte, sacht vom Boden auf wickelte ihre Schürze um die nackten, warmen Füßchen und trug dann ihre leichte Last zu Per Vian in den Hof hinunter.

»Da sieh dies Engelchen, das Gott dir Unwürdigem in Gnaden gelassen hat, und du jagst des Satans roten Fuchsschwänzen bis Islas nach zum Dank!« sagte sie eindringlich, wenn auch gedämpften Tones, und wies mit ihrer freien Hand geradeaus, wo Barbetta Tosio im Schatten einer Mauer stand, auf Per wartend und ungeduldig winkend. »Was wird aus deiner Seele, wenn du dieses unschuldige Schäfchen hier auf meinem Arme versäumst, und es bleibt dir in den Dornbüschen hängen und verblutet? Was wird dann aus dir, Per Vian, der du nicht wert bist, ein Vater zu sein! Nun, entsage für heute und morgen dem Branntwein und sorge, daß du dem Ghiteli für die Winterszeit rechtliche Schuhe schaffst; denn sie regnen dir nicht vom Himmel, um dich in deinem Sündenleben zu bestärken. Und meinen Signor Dottore lass' ich von euch Gesindel nicht mehr anbetteln! – Fai ch'el ti discha! Thu was ich sage!

Sie legte ihm die Kleine in den Arm, gab ihm einen wohlgemeinten Rippenstoß mit auf den Weg und kehrte in ihre warme Küche zurück unter brummenden Selbstgesprächen, während Per Vian ihr hinter dem Rücken die Faust ballte. Darauf schulterte er das Kind, dessen Lockenkopf schwer gegen seine bärtige Wange sank, als sei es ein Hausierpacken, und schlurfte durch die stille Dorfgasse seiner Behausung zu.

Dort hatte Barbetta auf ihn gewartet, und er kam vom Regen gewissermaßen in die Traufe. Denn jetzt hatte sie ihr Wort darüber, daß er sein Kind daher schleppen möge wie der Esel den Mehlsack. Sie nahm ihm das schlafende Päckchen auch flugs ab, stieß mit dem Fuße gegen die kleine Hausthür, daß sie aufsprang, und ihr niedergetretener Schuh flog ihr voraus in den dumpfigen Wohnraum.

Vergebens hätte man hier die Engadiner Behäbigkeit gesucht. Per selbst war der erste Schandfleck des Dorfes, sein Heimwesen der zweite. Öde und unsauber alles, was man erblickte. Die Schießschartenfensterchen geborsten und von Spinneweben überzogen, die Tünche der Mauern fast unsichtbar geworden unter der Schmutzkruste, über dem steinernen Herde lagerte eine schwere Rauchschicht, und die Thür des Wohnstübchens, das – ein aufgetrepptes, vorspringendes Viereck – wie ein Vogelkäfig an die längste Wand geklebt war, hing nur noch schief in einer rostigen Angel. Drinnen keine Spur von Arbeit oder sonntäglicher Erholung. Auf dem Tische die Branntweinflasche mit dem klebrigen Glase daneben; die Holzaxt lag auf dem zerschlissenen Strohpolster der Ofenbank, halb verdeckt von einem Haufen Kartoffeln und einem altbackenen Laib Grobbrot. Das einzig Anziehende in diesem häßlichen Wirrsal war ein breiter, bunter Vorhang um den Ofen. Der stammte noch aus der schönen Zeit Giudittas, von ihrer eigenen, kunstfertigen Nadel. Hätte der reinigende Besen aus seinen tiefroten Falten nur einmal den verjährten Staub gekehrt, so wäre die Seidenstickerei noch jedes Prunkzimmers würdig gewesen.

Per Vian schob all den Krimskrams von der Ofenbank, sodaß die Erdäpfel auf dem Fußboden umherkollerten, Barbetta legte das Kind zum Weiterschlafen behutsam nieder, das Gesichtchen gegen die Wand gekehrt, und sie deckte ihm noch ein altes Wolltuch über, das irgendwo im Winkel umher lag. Per setzte sich auf die freie Kante der Ofenbank, einen Ellbogen auf jedes Knie gestützt, müßig zuschauend, wie Barbetta sich daran machte, die Erdäpfel aufzusammeln und dann zum gemeinsamen Mittagsbrot in den verbeulten Eisentopf zu schälen. Nach dem heutigen Aufgebot in der Kirche betrachtete sie sich schon so halb und halb als Pers Frau und nahm sich des verwahrlosten Haushaltes im voraus an. Sie schälte die Kartoffeln sehr uneben, aber flink und ohne innezuhalten mit ihren spitzen Fingern, die kirschroten Lippen lachten und schwatzten ununterbrochen dazu, leichtfertiges Zeug und tolle Zukunftspläne, wie es dem krausen Kopfe gerade durch seine Gedanken lief. Nun die junge Dirne so dasaß, die brennenden Farben ihres Haares und ihrer schreiend gelben Schürze miteinander wetteifernd, die schneeweiße Kehle von der engen bunten Perlenkette umschlossen und sich schlank aus dem geblümten, bauschenden Brusttuche hervorhebend, war sie so sinnberückend und malerisch in ihrer unholden Umgebung anzuschauen, daß sie andere und bessere Männer als ihren Per hätte bethören können.

Was Wunder, daß Per schon vor der Hochzeit ganz und gar nach ihrer Pfeife tanzte! Heute hatte sie noch einen besonderen Zweck im Auge, und die umwölkte Stirn ihres Zukünftigen erschien ihr als das beste Hilfsmittel, um diesen Zweck zu erreichen.

»Wenn du dir einbildest, mio Per, daß ich in diesem Stalle für Hühner und Ferkel dein Weib sein mag, so irrst du dich!« begann sie, gleich mit der Thür ins Haus fallend. »Soll ich hier sitzen, mich räuchern lassen wie Dörrfleisch, mich mit dem Staube an den Wänden vergnügen und dem lieben Zuckerpüppchen dort die Spinnen zum Spielwerke haschen, eh, caro sposo? Und du nimmst dir derweil in Islas die Zeppa Barblan oder des Giovanni Ladèr Älteste mit zum Holzschage hinauf mir zum Tort –«

»Wenn ich dir nicht mehr ansteh', so sprichst du eben ›nein‹, und ich bind' der Ghita den Bettelsack um und schlag' mich über die Grenze,« fiel er ihr mürrisch in die Rede. »Was muß mir die Giuditta auch davonlaufen und sterben? Nun hab ich das Kind von ihr, und es hängt mir wie ein Blei am Halse. Unter die Erde zieht mich's noch, und das ist die Wahrheit! Hier in dem verfluchten Baselg' hat der Zia Nonna ihr Fremder das ewige Gepredige gegen mich aufgebracht – jeder Vogel wetzt den Schnabel an mir – und ich sage dir's, Barbettina, verleidet ist mir das ganze Nest! Möchte doch nur der Dottore das Kind mitnehmen und mir einen Hunderter oder zwei dafür geben, einmal für allemal, daß man etwas Rechtschaffenes zwischen den Fingern spürt. Aber so – – hier einen Franken und da einen Rappen, Kleingeld und Kleingeld! Das geht durch die Gurgel wie ein Brosamen, und das verdammte Predigen hilft es noch flinker hinunterspülen. Satt hab' ich mein Leben – schon lang, sag' ich dir, und willst du mir's nicht munter machen – sondern mir nachspionieren wie die anderen im Orte – so trink ich mich einfach zu Tode oder ich knüpfe mich auf, und du wirst Witwe, eh' du kopuliert bist!«

Sie hatte ihn ruhig reden lassen und keine der vielfachen Pausen zwischen den einzelnen Sätzen benutzt, ihn zu unterbrechen. Seine jämmerliche Litanei rührte sie spottwenig. Sie biß ihre weißen Zähne auf das Messer, mit dem sie soeben die letzte Kartoffel geschält hatte, lachte über ihr ganzes apfelrundes Gesicht und schaute den weltschmerzlichen Per von unten herauf lustig an.

»Sieh doch einer den zio miserabile, wie er dasitzt!« neckte sie. »Für Geld möchte man ihn zeigen! Das Dorf sollt' ich mir zusammenklingeln lassen und fünf Centesimi zum Eintritt fordern! Ei, in den See könntest du ja auch noch gehen und dir ein Steinchen an den Fuß binden, wenn du durchaus von hinnen willst! O, oimè! was thu' ich mit solch einem Manne, der gar keiner ist! – Nein, nein, wieder hergeben mag ich dich nicht,« unterbrach sie sich selbst und klopfte ihn leicht auf die Achsel. »Es hängt mir nun einmal bei den Leuten die Wildheit an, und das sitzt in mir fest wie Klettenhaar, man kann's nimmer abstreifen. Kein anderer als du, mio Per, nähme mich zum rechtlichen Weibe, und – einer Versorgung nachlaufen – das könnte mir fehlen! Mir kommt's just zu paß, daß dir dein Leben hier in Baselg' so leid ist, wie mir meines drunten in Islas bei Zia Menika. Dem einen und dem anderen wollen wir beide den Rücken kehren und den bösen Zungen unsere Zunge weisen. Ja, so macht man's und hat Frieden! Nun höre, Perrino! Du sollst diesen deinen verräucherten Schweinestall flugs verkaufen, und wir nehmen des Luigi Flisch' Häuschen in Silvaplana am See dafür an. Das ist zu haben, weil Luigi Flisch weiter nach Campfèr zu für die Fremden gebaut hat und mit Kind und Kegel dorthin zieht. Klein ist das Wesen, aber klein hält warm und destoweniger ist drin zu räumen. Es ist ein Bleichplan am See dabei, damit verdien' ich sommers ein wackres Stück Geld bei den Fremden. Schlag ein und geh noch heute zwei Thüren weiter zum jungen Badrutt, der hat seiner neuen Scheune wegen ein Auge auf deine Wohnstelle hier. Er hat mir's selbst verraten und zahlt dir gern bar in die Hand, was wir für den Luigi Flisch gebrauchen!

»Was hast du mit dem jungen Badrutt zu schaffen? fuhr Per ihr eifersüchtig in die Rede.

Sie lachte hell auf und nahm das Messer wieder zwischen die Zähne. »Je nun – dasselbe, was du gestern abend mit deinen Welschen in Maloja geschafft hast,« erwiderte sie schelmisch, spielte mit dem Messer und schlug die Füße übereinander. »Er hat mir von seinem heurigen Iva zu kosten gegeben und mich gefragt, ob es mir wirklich ernst um dich sei, und als ich ›ja‹ dazu sagte, hat er auf dein Wohl mit mir getrunken und mir's dann wegen deines Hauses hier vorgestellt.«

Per Vian schob die Stirn in lauter kleine Falten und rieb nachdenklich und langsam seine Handflächen gegeneinander. Der Engadiner haftet sehr zähe am angestammten Heim seiner Väter und veräußert es in der Regel selbst dann nicht, wenn ihm die bittere Not auf den Fersen sitzt. Lieber verläßt er es für eine Weile, wandert aus, arbeitet in der Fremde, wo ihn niemand kennt, sauer um sein Brot und kehrt erst zurück, um die teure alte Stätte mit dem Neuerworbenen sich und seinen Kindern wieder wohnlich zu machen. Allein Per Vians Energie, sein klarer Sinn und sein edleres Gefühl drohten schon seit langem ganz und gar in der unseligen Flasche zu versinken, und sein Gesicht, einst lebhaft und männlich, schaute schlaff und meinungslos drein, wie sein Charakter mit der Zeit geworden war.

Deshalb sagte er nur: »Ei ja – ei ja! Recht hast du wohl, Barbetta, mit dem, was du vorbringst, aber – wenn nur das Kind nicht wäre!«

»O, o! Du Muster von einem Vater!« höhnte sie, und ihre nußbraunen, langbewimperten Augen blitzten ihn an. »Zum Spatz aus der Gasse sollte man dich in die Lehre thun! Magst du denken wie dir's gefällt, mögen die bösen Mäuler über mich reden was sie wollen – die Ghita ist nun gerade mein Spaß, und, daß du's nur weißt, dich hätt' ich gar nicht genommen ohne dein Kind! Das will ich gut halten und ihm hübsch die Zeit vertreiben, damit es zum Sommer, wenn die Sankt Moritzer und Silser Gäste zu uns auf die Krestalta und hinüber nach Surlej gehen, flink auf den Füßen ist mit Alpenrosen und Genzian zum Verkauf. Schlag ein, Perrino mio, und dann troll dich vom Ofen fort, ich muß das Essen richten.«

Er schlug ein, stand auf und reckte mit breitem Schmunzeln seine Glieder. Solch eine Frau, die seinem verblödeten Hirne das Denken abnahm, die war wie gefunden für ihn! Ghita lag auf seinem Schlapphute; er weckte sie und stellte sie ohne weitere Umstände auf die Füßchen; schlaftrunken begann sie zu weinen und weinte sich in stürmischen Kinderzorn hinein.

Barbetta sprang flugs zu Hilfe, und bei dieser kritischen Wendung begab sich Vater Vian auf verschärfte Mahnung hin zum Nachbar Badrutt, um den Kaufvertrag womöglich fix und fertig zu machen, ehe ihm der rasche Entschluß dazu wieder leid wurde.

»Du bist ein zäher Brei, Per Vian, dich muß man mit dem scharfen Löffel rühren, solange du warm bist!« sagte Barbetta Tosio hinter ihm drein und stocherte in Ermangelung eines Schüreisens mit Pers Holzaxt das schwelende Reisig unter ihrem Kochtopfe, bis die Flamme hoch emporschlug.

Ghiteli durfte sich unterdessen damit vergnügen, die Kartoffeln zu waschen, und spritzte sich pudelnaß dabei. Barbetta saß neben dem Kinde, schnitt Brot für die Suppe und plauderte in ihrer lustigen Weise mit dem schwarzlockigen Nixchen am Zuber. Das hatte sein Ungemach von heute früh längst verschlafen und vergessen, und wer die beiden jetzt beobachtet hätte in ihrer Gemeinsamkeit, dem wäre dies Bildchen von »Mutter und Kind« in der verräucherten Küche sicher sehr lieblich und friedlich erschienen.


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