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Warum Heinz Lindt sein Zigarettenetui ausleert und in Schiller und Goethe blättert. – »Ins Geschäft!« – Von einem gebackenen Christkind mit Zuckerguß und von glitzernden Sternen. – Keine Nerven haben! – Was Eva unter Pflichten versteht, und wie Anni mit den Kindern in die Veilchen geht.
Weihnachten war da und mit ihnen Heinz. Peinlich, sehr peinlich war diesem das Kommen und das Wiedersehen mit den Seinigen nach all dem, was dazwischen lag. Schändlich war schon die ganze Zeit über das fast auf nichts gesunkene Taschengeld gewesen und die Schmach vor den Kameraden. Bei der Durchfahrt durch die alte Heimat hatte er die Zerstörung dessen gesehen, worauf er einst so stolz gewesen war, und nun stolperte er, Heinz Lindt, den sonst Diener und Gefährt an der Bahn abgeholt hatten, mit den Schwestern die dunkeln Stiegen eines elenden Miethauses hinauf, in dessen mehr als »spießigen« Räumen er die Eltern wiederfand.
Heinz war eigentlich von Natur aus weichmütig, und all das »ging einem so verflixt auf die Nerven«, daß er halb vor Jammer, halb vor Zorn über sich selber »flennen« mußte, wie er sagte. Die Mutter war so ... so unheimlich durchsichtig geworden und so viel älter, seit sie ihre weißen Gewänder nicht mehr trug, sondern ein schwarzseidenes Kleid, das Kathi ihr noch aus einem Gesellschaftsanzug gefertigt hatte. Die gnädige Frau in einem einfachen wollenen Hauskleide zu sehen, das wäre wohl keinem auch bei noch viel größerem Sparenmüssen möglich gewesen.
Den Vater fand Heinz auch so »riesig beengend« mit seinem forschenden Blick, seinen sofortigen so ernsten Fragen. Anni, das gute Dummerchen, war ja wohl nett wie immer und hatte sich eigentlich merkwürdig herausgemacht trotz ihrer Stumpfnase und dem großen Mund, die sie nun einmal besaß. Das Kind aber, das Mariechen, das war die einzige Unbefangene und Lustige von der ganzen Gesellschaft. Die hatte ihm sofort die Taschen untersucht, ob er ihr etwas mitgebracht habe. Daran zu denken, war ihm ja nicht eingefallen, aber zum Glück war noch ein Rest Schokolade von der Reise da. Mariechen bezeigte auch eine unbändige Freude über einen Kuchen, der ihm zum Empfang auf dem Kaffeetische stand. Ein höchst gewöhnlicher Hefenkuchen war's, ohne alle Zutaten, aber die Stücke wurden verteilt, als wären sie von einer Königstorte, und die Kleine verkündigte immer wieder: »Den hat meine Anni gemacht!«
Das war der erste Tag, aber die folgenden waren gräßlich. Daß Vater sein Geld verloren, wußte Heinz ja leider. Aber gewöhnlich verlor man doch nicht alles. Doch Vater hatte gleich am nächsten Morgen eine Unterredung mit ihm. Das schlimmste war, daß er Heinz sofort alle und jede Hoffnung nahm, je zur Kavallerie eintreten zu können, und daß er auch bei der Infanterie die allergrößte Sparsamkeit von seinem Sohn erwarten müsse. »Richtiger und klüger wäre es vielleicht, für dich einen andern Beruf zu suchen, aber ich weiß, wie schwer dir das fiele, – möchte dir's deshalb nicht antun.« Des Vaters Stimme klang unsicher, als er dies sagte, und er streckte Heinz bewegt die Hand hin: »Sei wacker und getrost! Manch tüchtiger Offizier hat in seiner Jugend entbehrt und gedarbt und hat es erst recht zu was gebracht.«
Entbehrt und gedarbt! Was für häßliche Worte waren das! Heinz brachte sie nicht mehr aus dem Sinn, und gedrückt und mißmutig verbrachte er seine Zeit, meist in der Sofaecke sitzend, in Witzblättern lesend, die er sich unterwegs gekauft hatte, oder notgedrungen die alten Schiller- oder Goethebände durchblätternd, da ja sämtliche andern Bücher mit »einigermaßen ordentlichem Inhalt« schändlicherweise auch verkauft worden waren. Heinz hätte aber auch das unterhaltendste Buch nicht fesseln können, denn fortwährend schwebte ihm seine armselige Zukunft vor. Er kannte eine Offiziersfamilie, wo der Bursche den Kinderwagen schob, die Frau selber plättete und rote, abgearbeitete Hände hatte. Der Vater – im übrigen tüchtig und geschätzt – vermied, wo er konnte, alle geselligen Zusammenkünfte, und bei Festen erklärte er ganz offen, er habe kein Geld, um Sekt zu trinken. Brrr! So was würde er (Heinz) gewiß nicht tun. Aber was dann? Es war doch ein geradezu peinlicher Gedanke, und dazu freute ihn der Soldatenstand erst nicht einmal gar so sehr, wie Vater meinte. Dieser fortwährende Zwang dabei und nun nicht einmal die Aussicht auf ein baldiges Freiwerden! Gelernt hatte er in letzter Zeit nicht gerade ungern, geschuftet nie, aber er war doch jedesmal durchgekommen, – da hatte der Ehrgeiz schließlich auch mitgeholfen. Und im letzten halben Jahr hatte er auch keine Streiche verübt, – die schändlichen Nachrichten von daheim benahmen einem ja allen Humor. Und hier kam er einem wahrhaftig auch nicht wieder!
»Wo hast du denn wieder die Zigaretten hingestellt, Anni? Tu doch nicht so furchtbar kostbar damit!«
Anni kam eben mit gerötetem Gesicht aus der Küche, wo sie im stillen mit Rosa Stollen gebacken hatte. Eine einzige kleine Überraschung mußte es ja doch geben für heute abend, – es war ja der vierundzwanzigste Dezember!
Sie holte Mutters Zigarettenschachtel, die in den paar Tagen von Heinzens Hiersein schon bedenklich leer geworden war.
»Schaff doch neue an!« sagte er und füllte sich sein Etui.
Annis Gesicht wurde noch röter. »Sie müssen diesen Monat für Mama reichen, – du weißt, es ist ihr einziges Vergnügen.«
»Dann rauch' ich doch lieber von Vaters Zigarren!«
Anni wurde noch verlegener. »Vater hat sich das Rauchen abgewöhnt.«
Nun wurde auch Heinz feuerrot und dann blaß im Gesicht. »Das kann doch aber gar nicht sein,« fuhr er auf. »Das ist ja einfach übertrieben! Ich weiß doch, daß Vater in diesem Geschäft hier ein ganz anständiges Gehalt hat, – ich weiß das von Eva. Ich glaube, ihr seid alle verrückt geworden mit eurer Sparsamkeit, bei der ihr euch und andern gar nichts mehr gönnt!« Heinz war vom Sofa aufgesprungen und lief erregt im Zimmer auf und ab.
Anni aber stand still, zerknüllte eine Ecke ihrer Schürze und kämpfte mit sich, ob sie dem Bruder genau sagen sollte, wie sehr Sparen geboten, wie schwer der Haushalt sei. Aber nein, das mochte Vater tun und ein andermal, – nicht gerade heute an Weihnachten. Sie sah den Erregten nur einen Augenblick ernst an, – ihre Augen hatten sich unwillkürlich mit Tränen gefüllt – und dann ging sie rasch, ohne ein Wort zu erwidern, hinaus.
Heinz aber sah starr nach. Die Sache fing doch an, recht unheimlich zu werden. Nach einigem Zögern nahm er sein hübsches Etui mit den Anfangsbuchstaben seines Namens von neuem aus der Tasche und leerte dessen Inhalt wieder in die Schachtel. Und dann – Mutter schlief, und niemand kam, mit dem er hätte reden können, – stand er lange, lange an dem Fenster mit den kleinen Scheiben. Er sah hinab in die enge Gasse, wo der Schnee unter den Füßen der Menschen zu Schmutz wurde. Und wieder sah er hinaus in das weiße Gewimmel und über all die Dächer hin, und dem jungen, haltlosen Menschenkind war zumute, als treibe es selber in all diesem Gewirbel, als gebe es auf der weiten Erde keinen einzigen festen Punkt mehr, – keine Zukunft und keine Freude!
Brief von Heinz Lindt an Eva Lindt.
Nun ist's entschieden, ich kehre nicht mehr ins Korps zurück. Vom zweiten Januar an werde ich mit Vater »ins Geschäft« wandern (o wie ich dieses Wort noch hasse!) und werde neben ihm am Pult sitzen und Buchführen lernen. Man hat mich doch angenommen, weil ich Französisch und Englisch verstehe und um Vaters willen. Seit ich erfuhr, daß Vater und Anni sich das Äußerste versagen, um von Vaters Gehalt so viel zurückzulegen, daß ich als Leutnant leben könnte, da biß ich die Zähne zusammen und sagte: Lieber alles andere als so! Vater wollte lange nicht, er meinte, wenn er mich doch wenigstens im Zeichnen ausbilden lassen könnte! Ja, wenn! Hei, ein Maler zu werden, dafür würde ich sofort den Leutnant hingeben. Aber so! Nee! – Eine unglückliche Familie sind wir nun eben einmal. Anni freilich, die strahlt mit dem ganzen Gesicht, daß sie mich auch noch auf dem Halse hat, und will mir weismachen, sie freue sich, und doch muß sie eigentlich Angst haben vor einem weiteren Kostgänger. Ich habe mir übrigens vorgenommen, so wenig als möglich zu essen. Ich werde tun, was Vater verlangt, und im übrigen hab' ich mit allem abgeschlossen. Eva, kannst Du Dir der Eltern Tisch nur mit Suppe und einem Gang denken? Und die Kleine – was würde die Kinderfrau sagen! – in einem karierten Kleide und einer Schulschürze mit Gassenkindern vor dem Hause spielend! Mama aber, unsere schöne, zarte, elegante Mama, dunkel gekleidet wie eine Nonne! Jämmerlich, nicht wahr? Ein Glück ist, daß sie die Lage nicht faßt, sie, die nicht erwarten konnte, bis ich Leutnant würde. Sie wundert sich kaum, daß ich da bin, sondern sagt nur beständig: »Heinz, unterhältst du dich auch? Geben sie dir auch gute Sachen zu essen, mein Junge?« Ich sage ja und habe noch den Geschmack der gebrannten Suppe im Mund.
Nun Schluß! Wünsche fürs neue Jahr auszusprechen, wäre für uns Hohn, – besser wird doch nichts mehr! Sei Du wenigstens froh, daß Du in derselben Luft weiterleben kannst!
N.S. Halte ich's nicht aus, so gehe ich nach Amerika und putze Schuhe an einer Straßenecke.
Brief von Anni Lindt an Gräfin Waldernberg.
Geliebte Tante!
Meine leider nur kurze Karte an Neujahr wirst Du erhalten haben. Du entschuldigst wohl, denn Du weißt ja, daß ich schwer zum Briefschreiben komme, und durch Heinz ist der Haushalt doch auch noch schwieriger geworden. Ach, Tante, was waren das für Tage, bis des armen Jungen Schicksal sich entschied! Ich glaube, Vater hätte es nie fertiggebracht, ihm zu sagen: »Besser jetzt ganz neu anfangen, als nachher ein Leben führen, zu dem du nicht erzogen bist!« Daß Heinz selber den Entschluß faßte, war doch sehr viel von ihm. Aber als er eines Morgens zum erstenmal in Zivil zu uns hereinkam, da hätte ich laut weinen können, und Vater stand auf und ging hinaus, sagen konnte er nichts. Heinz aber saß totenblaß vor seiner Tasse und schaute nur starr in den gegenüberhängenden Spiegel. Seinen Tee, den ich ihm eigens mache, – er liebt den Familienkaffee nicht, wie er sagt, – schob er von sich. Und die Kleine, die ahnungslos fragte: »Warum hast du denn heute einen schwarzen Rock und nicht die Uniform an?« fertigte er ab: »Weil ich von heute ab nicht mehr Heinz Lindt, sondern ein anderer bin!« Ganz ängstlich und leise fragte mich die Kleine: »Hat er sich denn maskiert, daß er so spricht?« Zum Glück hatte Heinz das nicht gehört. Nun ist ein halber Monat darüber hin, und es ist rührend, wie Vater sich Mühe gibt, Heinz anzulernen; aber ich merke, daß es schwer geht. Es ist das Rechnen und pünktliche Aufschreiben, was Heinz von jeher gräßlich gewesen, und Vater, dessen Arbeit stets darin bestand, kann diesen Widerwillen nicht recht begreifen. Hingegen leidet er und wir alle für den armen Heinz, daß wir ihm so gar wenig Vergnügen machen können und er gar keinen Umgang hat. Er vermag sich aber auch an nichts zu freuen! Weihnachten z. B. war ja ganz anders als sonst, aber es gab doch so viel Nettes und Unerwartetes. Zuerst Deine und Ruths Sendung, geliebte Tante, mit dem herrlichen Weihnachtsgebäck, dem Eingemachten, von dem Mama täglich mit Wonne ißt, und den so willkommenen Büchern, dann von Vater, durch Dich besorgt, die hübschen warmen Jacken, die Mariechen und ich so gut brauchen können. Der gute Vater, hat er auch nicht zuviel Geld dafür ausgegeben? Denk' Dir, Kathi, unsere brave Kathi, schickte einen ganzen Sack Mehl aus ihrer Mühle und Kletzenbrot und Honig von ihren Bienen und entschuldigte sich noch dabei, daß sie diese »Versucher« aus ihrem neuen Heim schicke. Bäcker Berger unten im Haus erlaubte, daß ich den Sack in seine Vorratskammer stelle, und seine Frau gibt uns dann in kleinen Teilen, was wir brauchen. Die Bergers sind überhaupt zu liebe Menschen, einfach, aber voll Takt! Sie ist aus einer Lehrersfamilie, und ihre zwei kleinen Mädel, von denen die eine mit der Kleinen zur Schule geht, erzieht sie recht folgsam und gesittet. Der älteste Sohn ist Architekt und soll sehr geschickt sein. Er könnte Heinz manches raten, aber das verschmäht dieser. Er fand es auch höchst unnötig, wo nicht unpassend, daß ich mit Mariechen am heiligen Abend für ein Viertelstündchen hinabging auf eine freundliche Einladung der Frau Berger hin, ob wir nicht ihren Baum sehen wollten. Der war nun wirklich schön, und in der guten Stube, wie die Mädchen sagen, wurde für alle beschert, auch für die Dienstboten, die sämtlich schon lange im Hause sind, und die Bäckergehilfen. Herr Berger, der bei der Arbeit eine weiße Schürze anhat, erkannte ich kaum wieder in seinem ehrbaren schwarzen Rock. Und wie alle versammelt waren, auch wir dabei, da setzte sich die Mutter ans Harmonium und spielte ein Weihnachtslied, das alle mitsangen. Die Kinder aber sagten das Evangelium her, und der Vater sprach zum Schluß den Segen. Rosa, die auch noch geholt worden war, meinte nachher: »Ja, wenn's überall so wäre!« und Mariechen freute sich furchtbar über ein großes, aus Teig gebackenes Christkindl mit einem Heiligenschein von Zuckerguß. Unsere Kleine wenigstens hat heuer gar nichts vermißt und war mit ihrer Papierkrippe unter dem kleinen Bäumchen, das wir hatten, und mit ihren neugekleideten paar alten Puppen glückselig. Mir hat die Feier unten das Herz auch weit und froh gemacht, und als wir wieder in unserem dritten Stock oben waren, da glitzerten die Sterne durch die Fenster so nahe wie noch nie. Aber Vater saß mit dem Rücken dagegen, Mama hatte ihre Kopfschmerzen, bekam Pulver und wußte nichts von einem Festabend. Mein Heinz aber mußte sich sehr unglücklich fühlen, denn er fand es abgeschmackt, daß wir vergnügt waren, unfaßlich, daß wir da unten mitgesungen, und das Glockengeläute, das volle, vom nahen Stiftskirchenturm behauptete er nicht zu ertragen, es greife ihm die Nerven an. Tante, weißt Du noch, wie Du immer sagtest: »Nervös sein, das gibt es nicht. Junge Leute besonders müssen ihre Nerven im Zaum halten wie ein Reiter sein Roß.« Weißt Du noch, wie ich's gewesen bin? Weißt Du noch den Kampf mit dem Sprechen, und wie Du mir geholfen hast, fest gegen mich selber zu werden? Jetzt zappelt's wieder gar oft an mir bei dem Vielerlei, das ich tun soll, und ich freue mich unsäglich, wenn an Ostern die Schule für mich vorüber ist. Noch eine Frage: Wißt Ihr auch nichts von Eva? Außer einem einzigen Brief hat sie seit Wochen nur kurze Karten geschrieben, und wir ängstigen uns, wie's ihr wohl geht.
In steter Dankbarkeit und Verehrung, liebe Tante, Deine und Ruths
Anni.
Brief von Eva Lindt an ihren Vater.
Ich verstehe vollkommen, lieber Vater, daß Du mir zürnst, weil ich so wenig von mir hören lasse. Aber wenn man nichts Erquickliches zu berichten hat, so schweigt man besser. Da Ihr aber doch wissen müßt, wie mir's geht, so teile ich Dir lieber mit einem Worte mit, daß ich nicht länger hier bleibe, sondern am 1. April da weggehe, wo man mich nicht würdig behandelt. Baronin Schlippen und ihre Töchter waren anfangs ja ganz liebenswürdig, was sich wohl von selbst verstand, denn ich bin eine Dame wie sie. Ich habe mich auch nur dazu hergegeben, Gesellschafterin bei ihnen zu werden, wenn sie mich vollständig als Dame behandelten. Das taten sie eine Zeitlang, und ich habe auch regelmäßig, wie es ausgemacht war, mit ihnen musiziert und gelesen. Aber dann ging's auf einmal aus einer andern Tonart: »Liebe Eva, würden Sie mir helfen diese Arbeit fertigmachen?« (eine gräßliche Stickerei!) »Liebe Eva, wir trocknen heute Pflaumen und dörren Apfelschnitze, – wollen Sie aussteinen oder schälen?« (Bei beidem bekommt man Finger wie ein Indianer!) »Liebe Eva, helfen Sie uns die Winterhüte stecken; Sie sind so geschickt darin, ja?« – »Liebe Eva, wo mag wohl meine Brille sein?« Und: »Wollen Sie mir bei den Armenhemden zu Weihnachten helfen?« und: »beim Kuchenbacken helfen?« und: »zu der kranken Mayern gehen und ihr vorlesen?« (Die Mayern hat offene Wunden, und gelüftet wird dort nie!) O wie ich dieses: »Liebe Eva« hasse! Dann, als die Bälle und Gesellschaften begannen im Schloß und in der Nachbarschaft und ich glaubte, mich ein wenig zerstreuen zu können, da hieß es erst recht: »Liebe Eva, nicht wahr, Sie geben ein bißchen acht, daß Ada nicht zu schüchtern und Feo nicht zu lebhaft ist, daß Feo sich nicht erkältet und Ada sich nicht erhitzt, daß die Diener den Tee richtig anrichten, daß die alten Damen sich nicht langweilen und die Jugend sich unterhält!« Als ich aber das letztere gründlich besorgte, denn das verstehe ich, und als ich mich schön machte, – ach, endlich kamen meine Kleider wieder zur Geltung! – da sagte die Baronin am andern Morgen: »Fräulein Lindt, Sie kleiden sich zu auffallend, und Ihr Benehmen ist kein Vorbild für meine Töchter!« Daraufhin habe ich ihr gesagt, daß ich keine Erzieherin sei und ihre Töchter von meinem Beispiel befreien werde. – Da ich nun aber keine Lust mehr habe, mich wieder mit jungen, dummen Dingern vergleichen und mich von hochadligen Menschen von oben herunter behandeln zu lassen, so nehme ich die Stelle bei einer alten Dame an, wo ich außerdem auch noch viel besser bezahlt bin. (Wie elend, daß ich darauf sehen muß!) Die Dame ist reich, etwas leidend, reist aber viel in Bäder, wozu sie eine Begleiterin braucht, und das ist's, was mich anzog. Adressiert also, bitte, vom ersten April an: Eva Lindt, Adresse Frau Berghus, Darmstadt. Daß ich künftighin Euch näher gerückt bin, gibt mir die Hoffnung, Euch einmal besuchen zu können. Arme Mama, wie geht's ihr? Hat unsere Boba auch das feine Verständnis, ihr das zu geben, was sie braucht? Heinz, der arme Junge, hat auch ein verpfuschtes Leben, aber es nützt ja nichts, darüber zu reden!
Eva.
Herr Lindt gab diesen Brief seufzend Anni zum Lesen. Es war beim Frühstück, wo die Zeit für alle immer etwas knapp war. Anni überflog die Zeilen, und Heinz erfuhr durch einzelne Ausrufe, um was es sich handle.
»Eva hat recht, wenn sie geht, wo man sie unwürdig behandelt,« sagte er kurz.
»Nein, sie hat unrecht! Sie war in einer guten Familie, und ein junges Menschenkind muß sich auch etwas sagen lassen können,« erwiderte der Vater. Seine und Heinzens Ansichten gingen manchmal auseinander. Seit dem Zusammenleben und -arbeiten trat dies öfter zutage.
Die beiden gingen ins Geschäft. Anni besorgte die Kranke und mußte dann eilen, in die Schule zu kommen. Die Einsegnung rückte nun heran. Heute wurde Umfrage gehalten, welche von den Mädchen nachher noch die sogenannten Kursstunden besuchen werde, eine Gelegenheit, die von fast allen Schülerinnen benützt wurde. Eine einzige nur sagte: »Ich nicht!« Sie war unbegabt und faul und mochte nicht weiterlernen. Es war daher ein allgemeines Erstaunen, als noch eine Stimme schüchtern sagte: »Ich wohl auch nicht!«
Alle sahen Anni an. Man kannte sie noch nicht genau, aber ihr feines, bescheidenes und besonders ihr gefälliges Wesen hatte ihr schon Freunde gemacht.
»Sie nicht, Anni? Sie wollen mit fünfzehn Jahren schon nicht mehr weiterlernen?« fragte der Lehrer kopfschüttelnd. »Das würde ich Ihnen nicht raten, um so mehr, da Sie noch vieles nachzuholen haben. Es taugt nichts, wenn ein junges Mädchen so früh schon keine Pflichten mehr hat!« Des Lehrers Stimme klang bei diesen Worten fast strenge, und die ganze Klasse sah auf Anni. »Ich habe eine k... kranke M... Mutter zu pflegen,« sagte Anni leise und in der Aufregung stotternd wie einst. Ihr Gesicht war glühend rot geworden, und in die Augen traten ihr Tränen, so daß der Lehrer kurz und wieder freundlich sagte: »Dann ist es etwas anderes. Anni, dann wird's auch so recht sein! und einen vorwurfsvollen Blick einer Schülerin zuwarf, die hörbar zu einer andern sagte: »Sie sind arm, die Lindts, deshalb muß die Anni so schaffen!« Der Lehrer aber erzählte nachher den Vorgang dem Herrn Pastor, bei dem Anni Unterricht hatte, und der meinte: »So, jetzt weiß ich doch, warum diese Schülerin manchmal so sehr ernst ist,« und nahm sich vor, die kranke Mutter einmal zu besuchen.
Als Anni heute im Vorübergehen das Mittagbrot wie immer mitnahm, kam Frau Berger, die durch ein Guckfenster vom Wohnzimmer aus den Verkauf im Laden beaufsichtigte, gerade für einen Augenblick heraus. Mit ihrem mütterlichen Blick sah sie der jungen Hausgenossin gleich an, daß irgend etwas nicht in Ordnung war. Da sie aber wußte, daß sie Anni nicht lange aufhalten durfte, sagte sie nur: »Wie wär's, Fräulein Anni, wenn Sie heute nachmittag nach der Schule einmal ein bißchen leichtsinnig wären und mit Mariechen in die Veilchen gingen? Es soll schon welche geben und auch Schlüsselblumen droben im Hasenwald. Und wenn Sie mir zutrauen, daß ich's recht mache, so würde ich gerne bereit sein, mich mit meiner Arbeit inzwischen ein bißchen zu Ihrer Frau Mutter hinaufzusetzen, dann kann Ihre Rosa die Wäsche aufhängen, – 's ist heut so schöner, blauer Himmel! – Freilich müssen Sie meine Mädel dafür in Kauf nehmen, die wären selig, wenn sie mitdürften; und sie können so viel von Ihnen lernen, Fräulein Anni!« Dieser stiegen bei den letzten Worten wieder die Tränen in die Augen. Von ihr irgend jemand etwas lernen! – Aber der Vorschlag klang doch gar zu herrlich, und indem sie sich die Augen wischte, flog ein glücklicher Ausdruck über ihr Gesicht.
»O wie gerne, Frau Berger, und ich hoffe, Sie werden mit Mama nicht viel Mühe haben. Meist liegt sie still da, und wenn sie ihre Zigarette hat, an die sie eben gewöhnt ist, so plaudert sie auch gerne ein bißchen, und sie macht sich nichts aus jemand Fremdem, im Gegenteil, da nimmt sie sich dann mehr zusammen.«
Als Anni voll froher Erwartung bei Tisch von dem so freundlichen Vorschlag erzählte und Mariechen jubelte, da schob Heinz heftig seinen Stuhl zurück und sagte: »Das wirst du doch nicht leiden, Vater, diese Freundschaft mit den gewöhnlichen Leuten da unten! Es ist wahrlich genug, daß die Kleine mit solchen Kindern spielt, aber daß nun auch noch diese Frau, die im Laden verkauft, zu Mama heraufkommen und sich breit bei uns machen will, das ist doch einfach ...«
»Eine sehr große Gefälligkeit von ihr,« unterbrach Herr Lindt mit Nachdruck die entrüstete Rede. Von jeher litt seine gerade, einfache Natur unter dem Hochmut seiner Familie, und er wurde Heinz gegenüber heute wirklich heftig, als er ihn darauf hinwies, daß er, der Vater, nichts anderes als ein einfacher Bauernsohn gewesen, der über seine Verhältnisse hinaufgekommen sei, und daß Hochmut nie, am allerwenigsten aber in der jetzigen Lage, in der sie sich befänden, am Platze sei.
»Aber wir sind anders erzogen und gewöhnt worden,« wollte Heinz leidenschaftlich erwidern, doch ein Blick auf das traurige Gesicht des Vaters, der eine solche Antwort erwarten mochte, ließ ihn schweigen. Aber um so mehr kochte und brodelte es in seinem Innern. Heute hatte einer der Gehilfen im Geschäft – er war kaum ein Jahr älter als Heinz – ihn gerüffelt, weil er ein paar lumpige Zahlen falsch geschrieben, und der Direktor in dem Saal, in dem Heinz arbeitete, war einfach grob geworden wegen einiger Witzzeichnungen, die er in Heinzens Pult ausgeschnüffelt hatte, und die noch dazu in einer freien Viertelstunde gemacht worden waren. Aber so etwas ließ sich ein solcher Mensch wie der ja gar nicht erklären, sondern nannte es Allotriatreiben und Pflichtvergessenheit, trotzdem ein zufällig anwesender Herr, der Besitzer einer Reklamebilderfabrik in München, der die kleinen Zeichnungen sich zeigen ließ, sie für erstaunlich talentvoll erklärte. Ob Heinz schon eine Zeichenschule durchgemacht habe, hatte er gefragt. Und als dieser antwortete: »Leider nein!« riet ihm der Herr, es zu tun, und gab ihm für alle Fälle seine Adresse. Ach, wer das befolgen könnte! Frei sein und alles zeichnen, was man sieht, und was einem durch den Kopf geht! ... Heinz hatte heute früh nochmals mit dem Vater darüber gesprochen und dann wieder die Antwort erhalten, das erfordere ein jahrelanges Studium, und der Erfolg sei dann erst noch unsicher. Heinz müsse suchen, möglichst bald sein Brot zu verdienen.
Anni war mit Mariechen und den zwei Mädchen von unten, Lydia und Martha, gleich nach dem Essen fortgegangen. Anfangs war noch der Mißton von Heinzens Gerede in ihrem Innern, aber als die Stadt hinter ihnen lag, als die Sonne sie wärmte, der Boden so frisch duftete und am Waldesrand im ersten Wiesengrün und aus dem Moos heraus die blauen und gelben Frühlingsblümchen schauten, da war Anni mit den Kleinen ein fröhliches, ausgelassenes Kind, das für ein paar Stunden wenigstens seine Schul- und Hausmuttersorgen vergaß. Die vier sangen und sprangen, haschten gelbe Falter und schmausten ihr mitgebrachtes Vesperbrot. Und als die Sonne hinter den Wald trat und zwischen den dunkeln Stämmen glutrot und dann wie lauteres Gold glänzte, da fielen Anni alle die alten Märchen ein, und die Kleinen lauschten andächtig, als sie ihnen erzählte. Sie hängten sich abwechselnd auf dem Heimwege fest bei ihr ein, und eine jede trug Blumen und Tannengrün.
In der Marktgasse war's schon düster, als sie heimkamen, aber oben bei Lindts schaute doch noch ein bißchen von dem Sonnengold über die Dächer. Frau Berger saß noch, wie sie es versprochen hatte, neben der Kranken. Ein ganzes Häufchen abgebrannter Zündhölzer zeigte, daß sie auch entgegen ihrem Gefühl, das sich gegen »so etwas Unweibliches«, wie sie's nannte, sträubte, redlich beim Zigarettenanzünden geholfen hatte. Bei so einer ausländischen Dame war's ja wohl zu entschuldigen.
»War's schön, Fräulein Anni?« fragte sie erwartungsvoll, faltete das Tuch, an dem sie genäht hatte, zusammen und schickte sich zum Fortgehen an.
Anni hatte erwartet, von der Mutter wie immer, wenn sie etwas länger fortblieb, mit Klagen und Jammern empfangen zu werden, aber das war heute nicht der Fall. Sie schien im Gegenteil angeregt zu sein und sagte in ihrer verbindlichen, feinen Art: »Die Dame war sehr liebenswürdig!
Ich möchte sie bitten, wiederzukommen ... Der Kaffee, den sie mir brachte, war auch viel besser als der deinige, Anni.«
Frau Berger sagte schnell, Fräulein Anni möchte das doch nicht für wahr nehmen, gewiß sei der Kaffee immer gleich gut. Und sie erzählte: »Frau Lindt hat es scheint's Freude gemacht, daß ich sie bat, mir zu sagen, wie und wo der Kaffee eigentlich wächst. Ich hoffe nur, das Sprechen hat ihr nichts geschadet. Sie hat nachher ganz ordentlich auch wieder ein Stündchen geschlafen. Die Arznei hab' ich ihr vorher gegeben ... Darf ich wohl einmal wiederkommen?«
Frau Berger fragte das so bescheiden und zurückhaltend, fast in einer Art, als erweise man ihr selber mit einem Ja einen Gefallen, so daß Anni nur wünschte, Heinz wäre dabei gewesen.
»Sie hat meine Palmen bewundert, die armen, kleinen, und hat nicht glauben wollen, wie groß und rauschend sie dort sind,« sagte die Mutter nachher. Mit »dort« bezeichnete sie seit ihrem Kranksein immer die ferne Heimat.
Anni ordnete rasch die mitgebrachten Blumen und stellte sie an das Bett der Kranken. Mochte ihr Duft noch zu weiteren schönen Träumen beitragen!