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Elftes Kapitel

»Wieder nichts, wieder nichts!« – Wo ist Heinz? – Warum Anni immer weiter lernt und Herr Lindt sich schämt. – Von Träumen unter Palmen, Stiefelputzen und Koffertragen und von einem jungen Menschenkind vor der Glastüre. – Der letzte Gruß. – »Verzeihung! Verzeihung!«

 

Kartenbrief von Eva Lindt an Anni Lindt.

Meinen Bericht aus Lugano habt Ihr erhalten und daraus ersehen, wie schmählich ich durch diese alte Dame getäuscht worden bin. Eine Reisebegleiterin hat sie gesucht, und eine Krankenpflegerin sollte es sein. Keine Jungfer ist da, sondern von mir verlangt sie, daß ich ihr ihren Gichtfuß einwickle, ihr beim Baden helfe, ihr die Hände reibe, wenn sie kalt sind, und ihr ungezählte Tücher nachtrage, wenn wir spazierengehen. Dazu dieser Geruch von Ameisengeist, Kamillen und andern Arzneien! Vor elf Uhr geht sie nicht zur Ruhe, und ich muß im Nebenzimmer bei offener Tür schlafen, weil sie Angst hat, allein zu sein. Gestern nun gab es einen Auftritt, weil ich Kopfweh hatte und nicht vorlesen konnte. Das nahm sie persönlich, wurde ungut, und ich kündigte ihr auf. Wie kann man in solchen Verhältnissen aushalten, wie Vater mir immer rät! Sage ihm das, und daß ich nun zu Russen gehe, die hier im Gasthof sind und eine Deutsche zu ihren zwei sehr schick und elegant aussehenden halberwachsenen Mädchen suchen. Eine Schmach ist es, daß die alte Dame mir mein letztes Gehalt vorenthält, weil ich unter der Zeit gehe. So kann ich Euch wieder nichts schicken, und Du, mein Dummerchen, hast nicht einmal ein Konfirmationsgeschenk von mir erhalten! Ach, das elende Leben!

Könnte ich Euch einmal sehen, könnte ich Mama küssen! Es geht ihr doch nicht schlechter, nicht wahr?

Eure Eva.

Diesen Brief bekam Anni an einem heißen Julimorgen. Vater quälten Kopfschmerzen, und trotzdem mußte Anni den Inhalt des Schreibens mitteilen, denn er hatte den Brief auf dem Frühstückstisch liegen sehen.

»Also wieder nichts, und anderswo wohl auch nichts,« sagte er kummervoll und stand auf, um ins Geschäft zu gehen. Er sah so müde aus, der Vater, und Anni hätte ihm so gern etwas Tröstendes gesagt. »Die arme Eva hat's doch am schwersten von uns allen,« entschuldigte sie. »Wir sind doch beieinander, und sie muß bei Fremden sein!«

»Ja!« sagte der Vater. Jammerte ihn doch dieses Kind, das verwöhnteste und enttäuschteste, selber am meisten. Und um seine Anni mußte er sich gegenwärtig auch sorgen. Die schwüle, dumpfe Witterung, die schon länger herrschte, setzte der Kranken sehr zu und äußerte sich in Herzschwäche und Angstgefühl. Unerwartet traten diese Zustände ein, und Rosa, wenn sie allein war, wurde nicht damit fertig. Frau Berger, die oft half, konnte das aber nicht immer tun, und so reifte in Anni der Entschluß, ihre weitere Ausbildung in der Anstalt endgültig aufzugeben. Diesmal hatte sie niemand gefragt, sondern selbständig mit dem Lehrer verhandelt und dann dem Vater gegenüber ihre Ansicht vertreten. Sei nicht böse, aber es muß so sein! Meine Mutter will ich pflegen, das überlaß ich keinem andern! Lernen ist schön, und viel wissen noch schöner. Eine Gelehrte wäre eure Boba ja doch nie geworden, und so tut sie halt eben einmal das Nächstliegende, und dann wieder und dann wieder. Alles auf einmal tun wollen, macht so müde und unglücklich!«

Das Dummerchen hatte wohl recht, es dachte vielleicht klüger und richtiger als tausend andere, und doch bedrückte den Vater dieser Entschluß. Was hätte er darum gegeben, eine Stellung zu finden, die sein Hausmütterchen etwas entlastete! Aber er als älterer Mann mußte froh sein, überhaupt eine gefunden zu haben ...

»Wo ist Heinz?« fragte er, nachdem er die Kranke noch geküßt und ihr einen guten Morgen gewünscht hatte.

»Wohl wieder voraus wie meistens,« sagte Anni, und Vater ging.

Aber »Wo ist Heinz?« hieß es, als Vater wieder nach Hause kam, als die Suppe und schließlich das Fleisch aufgetragen wurde, ohne daß der Sohn erschien. Und immer beunruhigter wurde die Frage.

War er denn am Ende noch im Geschäft zurückgehalten? Hatte er wieder nachlässig gearbeitet und mußte verbessern? Ohne das Ende der Mahlzeit abzuwarten, setzte der Vater wieder den Hut auf, um nachzusehen, aber nach zwanzig Minuten schon kam er in größter Aufregung zurück. »Heinz war heute gar nicht dort, – die Herren haben schon zu mir herübergeschickt, wo er wohl stecke!«

Anni wurde ganz blaß. Es fiel ihr ein, daß der Bruder gestern abend so elend ausgesehen, daß er merkwürdige Andeutungen gemacht, er könne es nicht mehr aushalten, und daß er ihr und der Kleinen vor dem Schlafengehen einen Kuß gegeben, was sonst selten der Fall war. Und noch etwas: Heute in aller Frühe traf ihn Anni vor Mutters offener Schlafzimmertür stehen, und es war, als wische er sich die Augen.

Annis Herz krampfte sich zusammen, als draußen die Glastürklingel ertönte und eine gedämpfte Männerstimme fragte: »Ist der junge Herr Lindt zu Hause?«

Vater und Tochter eilten hinaus. Da stand Herr Berger, der Sohn, und wiederholte ziemlich aufgeregt dieselbe Frage. Ins Zimmer genötigt, erzählte er, daß Herr Heinz gestern abend ihn um ein Darlehen von dreißig Mark gebeten habe, die er notwendig geschwind brauche, daß er ihm dies nicht habe abschlagen wollen, und nun finde er eben auf seinem Schreibtisch diesen Zettel.

Mit bebender Stimme las Herr Lindt:

»Sie haben mir geholfen, und ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich meine Schuld von meinem ersten Verdienst tilgen werde. Ich hab' es nicht mehr ertragen, mich daheim füttern zu lassen. Kaufmann kann ich nicht sein, so probier' ich's mit etwas anderem. Sagen Sie Vater, daß ich arbeiten werde. Anni soll für mich einstehen, wenn er's nicht glaubt. Ihr hab' ich manches abgesehen!

Heinz Lindt.«

»Nur nicht das, die nächste Pflicht zu erfüllen!« sagte der Vater voll Bitterkeit. Er hatte sich auf einen Stuhl sinken lassen und bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen.

»Ich schäm' mich so, – ach, ich schäme mich so!« Solche Worte hatte Anni selbst in den schlimmsten Zeiten nicht aus des Vaters Mund vernommen, nun sagte er sie seines Sohnes wegen, und zum erstenmal hatte auch sie die Fassung verloren. Anni weinte bitterlich.

Da war es Wilhelm Bergers vernünftiger Zuspruch, dem es gelang, die beiden nach und nach wenigstens einigermaßen zu beruhigen. Er bat, für Herrn Lindt die Schritte tun zu dürfen, um Heinzens Aufenthaltsort ausfindig zu machen. Es war schon hart genug, daß den Herren im Geschäft die Wahrheit gesagt werden mußte.

»Ihr Herr Sohn ist noch jung und unerfahren, und mit dem wenigen Geld kann er auch nicht weit gekommen sein. Meine Arbeit führt mich ohnedies am Bahnhof vorbei, da werde ich gleich nachforschen und, wenn Sie erlauben, heute abend wieder vorsprechen.«

Das war ein trauriger Tag, und auch die folgenden brachten keine Beruhigung. Wohl hatte Wilhelm, dem Herr Lindt natürlich sofort die Schuld bezahlte, erfahren, daß ein auf Heinzens Beschreibung passender junger Mensch den Frühzug nach Dresden benützt habe. Daß er sich dorthin wenden würde, leuchtete ein, hoffte er doch wahrscheinlich Erfolge von seinem Zeichentalent, das der junge Architekt an etlichen noch vorhandenen Proben aufrichtig bewunderte.

»Hätte ja so gerne seinen Wunsch erfüllt und ihn Maler werden lassen, aber mir fehlen jetzt die Mittel, einen Sohn jahrelang studieren zu lassen, was ja auch beim Kunstgewerbe nötig ist!« Herr Lindt sagte diesen schon oft wiederholten Satz so betrübt, daß Wilhelm Berger voll Mitleid war und sich bei den Nachforschungen ganz zur Verfügung stellte. Sie waren aber alle vergeblich. Wochen vergingen, und man hätte wohl, was Herrn Lindt entsetzlich gewesen wäre, die Polizei in Anspruch nehmen müssen, wenn nicht kleine Beruhigungen gekommen wären. Einmal war es ein Zettel an Herrn Berger mit dem Postzeichen eines kleinen bayrischen Ortes.

... Ich bin nur einen Tag hier. Bitte, entschuldigen Sie, daß ich noch kein Geld schicken kann, und sagen Sie meinem Vater, daß ich gewiß nicht schlecht bin.

Heinz Lindt.

Ein anderer, ein paar Wochen später an Anni gerichteter Brief, auf sehr schlechtem Papier mit schlechter Tinte geschrieben, aus einer norddeutschen Stadt, lautete:

... Ihr sollt Euch nicht um mich ängstigen, ich will das nicht! Es ist mir gräßlich, daß ich noch nichts schicken konnte, sag' das Herrn Berger. Es war mir unerträglich, Dich für alles sorgen zu sehen! Das muß doch einmal anders kommen, es muß mir doch gelingen wie so vielen andern auch. Küsse Mama! Fragt sie wohl nach mir?

Heinz.

Ja, sie fragte, die Mutter, des Tages wohl ein dutzendmal: »Wo ist Heinz? Hat der Junge auch Vergnügen? Gebt ihr ihm auch von meinen Zigaretten?« Aber es wurde keine Antwort verlangt und darum auch keine gegeben. Die Kranke wurde zusehends auch geistig schwächer, dabei litt sie beständig an Atemnot. »Wenn man mit ihr aufs Land könnte, irgendwohin in frischere Luft!« meinte der Arzt, aber das war unmöglich. Der Vater hätte keinen Urlaub bekommen, und wohin gehen mit einer Schwerkranken?

Sie selber gab solchem Verlangen keinen Ausdruck. In ruhigen Stunden bewegten sich ihre Gedanken jetzt meist in der alten Kinderheimat. Und während Anni und der Vater unsäglich unter der Hitze der Tage und der Schwüle der Nächte litten, redete die Kranke von Zedern und Lorbeer, von Orangenbäumen und von murmelnden, mit Farnen umgebenen Quellen im tiefen Urwald. Aber wenn die Anfälle kamen, die Angst vorher, die Aufregung nachher, da verschwanden diese Bilder mit einem Schlage, und andere traten an ihre Stelle. Es war manchmal, als ob plötzlich ein Schleier zerrisse, der alles verhüllte, und die Vergangenheit mit Glanz und Zusammenbruch erstände, riesengroß in Ursache und Wirkung, verwirrend und quälend.

Das waren die Stunden, besonders bei Nacht, wo Anni voll Dank des alten Fräulein Gotthelf gedachte. Kein Trösten und kein Zureden half da. Nur das Vorsagen der ewig kräftigen Worte aus der Heiligen Schrift wirkte lindernd und legte sich, wenn auch meist unverstanden, beruhigend auf das erregte Gemüt.

»Fräulein Anni, es geht so nicht weiter, Sie müssen jetzt eine Pflegerin haben,« sagte heute Frau Berger, die alle Morgen heraufkam, aufs nachdrücklichste. Anni hatte wieder ein paar Stunden gegen Morgen an Mutters Bett gesessen und räumte nun still ein bißchen auf. Frau Berger begann wieder: »Fräulein Anni, jetzt gleich, sowie er zum Frühstück herüberkommt, spreche ich mit Ihrem Herrn Vater, – jawohl! Sie sehen zu elend aus, und ...«

»Nichts sagen, o bitte, nichts sagen!« flehte Anni hastig, denn eben trat der Vater ein mit der Morgenpost und der Zeitung in der Hand.

»Hier ein Brief für dich, Anni, mit ganz fremder Handschrift!« Er händigte ihn ihr ein und sah dann nach der Kranken.

»Rosa sagt, die Nacht sei schwer gewesen. Warum hat man mich nicht geholt, wie ich schon so oft gebeten?«

»Väterchen, du brauchst so notwendig deine Nachtruhe!« Anni sagte es mit rührendem Ausdruck.

»Sie aber auch!« wollte Frau Berger jetzt ernstlich mahnen, da aber fing Herr Lindt selber an: »Ich möchte Sie um einen großen Gefallen bitten. Wir müssen nun entschieden jemand zur Hilfe haben, – würden Sie uns suchen helfen?«

Ob Frau Berger das wollte! Nun war's recht, und alle Einwände Annis, sie zwinge es gewiß allein, wurden einfach nicht mehr gehört. Frau Berger empfahl sich rasch.

Seufzend nahm nun Anni ihren Brief und öffnete ihn. Er war von Kathi, der Frau Müllerin, und sein Inhalt machte die Herzen nicht leichter.

 

Frau Kathi Groth an Anni Lindt.

Verehrte Fräulein Anni!

Schon länger wollte ich schreiben, aber wir haben einen großen Umtrieb mit dem Geschäft, und dann war auch die Ernte. Jetzt aber drängt es mich, Ihnen etwas zu sagen, in das ich mich vielleicht nicht mischen sollte, aber ich tu's doch. Zufällig hab' ich erfahren, daß unser Fräulein Eva ganz hier in der Nähe weilt, und zwar bei einer Familie, in der ich sie, mit Verzeihung, nicht gern sehe. Mir ist's überhaupt schrecklich, mein gnädiges Fräulein in abhängiger Stellung zu wissen, und nun auch noch gerade dort! Die Leute sind heraufgekommene polnische Kornhändler, nach außen mit Schliff, nach innen, mit Verlaub, ganz ungebildet. Ich weiß es von unserm alten Fräulein Gotthelf, deren Mutter nun endlich gestorben, und die im dortigen Städtchen einem Bruder haushält. Sie gab den Kindern im fraglichen Herrenhause – es sind sechse in allen Altersstufen – Unterricht, wurde aber verabschiedet, weil ein Fräulein komme, das Unterricht und Körperpflege in einem übernehme. Na, sagten wir zusammen, das arme Ding! Und nun war's unser gnädig Fräulein! Von mir weiß sie noch gar nicht, daß ich in der Nähe bin, es ist besser so. Aber Fräulein Gotthelf hat sie zufällig auf einem Spaziergang mit all den ungezogenen Rangen getroffen. Sie sehe zum Erbarmen schlecht aus, habe von einer russischen Familie gesprochen, bei der sie nur kurz gewesen, und daß sie sich hier ganz wohl fühle, auch einen Vertrag für längere Zeit eingegangen sei, dabei sei sie aber bald rot, bald blaß geworden und habe sich sehr rasch verabschiedet, was Fräulein Gotthelf nicht übelnahm. Nun wollte ich Ihnen nur sagen, liebe verehrte Fräulein Anni, daß wir auf unser gnädiges Fräulein aus der Ferne, so gut es halt geht, schon achtgeben werden.

Hoffend, daß die gnädige Frau gegenwärtig erträgliche Zeit haben, und mit herzlichen Grüßen an Mariechen, verbleibe ich, auch mit Empfehlungen von meinem lieben Mann, Ihre stets getreue

Kathi.

Anni wollte den Brief rasch vor dem Vater verbergen, aber es gelang ihr nicht.

»Du wirst doch kein Geheimnis vor mir haben, Kind?« sagte er ernst, und Anni gab ihm den Brief.

»Wieder nichts, wieder nichts!« Das war alles, was Vater sagte, aber es war ärger als die längste Rede, – es klang so hoffnungslos.

»Könnte man Ihre Schwester nicht statt einer Pflegerin kommen lassen, Fräulein Anni?« fragte nachher Frau Berger voll inniger Teilnahme. Sie war nachgerade in alle Lindtschen Familienverhältnisse eingeweiht, und Anni war, nachdem Vater fortgegangen, in ihres Herzens Not zu ihr gelaufen. »Wenn sie wahrscheinlich auch nicht viel versteht, so gehört sie doch sozusagen her. Sie ist die Tochter, und, Fräulein Anni, ich fürchte, sehr viel Zeit haben wir nicht mehr zu verlieren, wenn sie der Mutter noch etwas sein will!«

Frau Berger fiel es nicht leicht, dies anzudeuten, aber sie hielt's für ihre Pflicht. Und nachdem auch der Arzt so gesprochen, ging abends ein Brief an Eva ab unter Kathis Adresse mit dem nötigen Reisegeld.

Umgehend schrieb Eva hierauf verzweifelt:

... Sie wollen mich nicht gehen lassen, sie wollen ein ärztliches Zeugnis und dann Entschädigung und dann, – ich weiß nicht was! Schickt das sofort, wenn Ihr könnt! Ach, diese hartherzigen Menschen! Keine Teilnahme, kein Mitleiden, nur ihr eigenes Interesse, und ich vermag doch nichts anderes zu denken, bis mir der Kopf brennt, als Mama, Mama! ... Unsere alte Kathi ist gestern plötzlich hier aufgetaucht. Sie wohnt in der Nähe, und ich mußte laut aufweinen, als ich sie sah. Ohne sie wäre ich durchgegangen, einfach fort, trotz einem dummen Unwohlsein, das ich habe. Ich sehne mich nach Euch, – ich will heim!

Eure unglückliche Eva.

Nach Empfang dieses Briefes schickte Herr Lindt umgehend des Arztes Zeugnis ab und schrieb an die Leute, er werde, bei sofortiger Abreise seiner Tochter, selbstverständlich für alle Kosten einstehen. Aber trotzdem kam Eva nicht, und es mußte doch eine Pflegeschwester genommen werden, denn Kathi sandte etliche Tage darauf folgende Karte:

Nun ist unser Fräulein Eva krank geworden, und wir haben sie, mein Mann und ich, mit Verlaub zu uns genommen, da ich doch am besten weiß von früher her, wie sie zu pflegen ist. Oben in unserm Haus ist ein stilles Zimmer, wo der Kinderlärm nicht hindringt. Freilich ist's nicht so schön wie unser einstiges Krankenzimmer, aber ich will's gewiß an nichts fehlen lassen. Der Arzt sagt, es seien die Nerven, die Dame müsse viel durchlebt haben. Mit dem Fieber hofft er bald fertig zu werden. Ihr steter Jammer ist eben, nicht reisen zu können, aber das geht nicht. Es ist mir so arg, daß die Herrschaften nun noch mehr Sorgen haben!

Kathi.

In der fernen Mühle Sorge, denn Eva wurde sehr krank, und daheim die Sorgen um sie neben den alltäglichen!

Aber trotz allem gab es Lichtpunkte. Die Krankenschwester, die nun regelmäßig kam, war geschickt und angenehm, hatte Erfahrung und Kraft und bestand darauf, daß Anni, deren Wangen recht blaß und mager geworden waren, ihre täglichen Gänge mit den Kindern wieder aufnahm. Das Gehen und das Geplauder wie auch die netten Fortschritte, die die drei Mädchen machten, erfrischten. Dann war Anni so dankbar, daß Mariechen in ihrer freien Zeit unter Frau Bergers mütterlicher Obhut sein durfte. Freilich hörte sie da unten in der Mundart sprechen und wurde in Art und Bewegungen vielleicht etwas weniger fein, aber dafür lernte sie eine echt bürgerliche, durch und durch gediegene Familie kennen, in der Gehorsam, Achtung vor den Eltern und Gottesfurcht herrschten.

Noch war keine Spur von Heinz gefunden worden, aber daß er noch lebte und nicht zu weit entfernt war, das wußte man nun doch. Einmal waren, als Muster ohne Wert, in Moos verpackte Feldblumen an Mutter gekommen und dann wieder eine kleine Zeichnung – buntblumige Lianen, in malerischem Gewirr herabhängend, mit Affen und Papageien, die sich darauf schaukelten. An demselben Tage kamen auch drei Mark an, adressiert an Herrn Architekt Berger, aber dann waren wieder Wochen vergangen, ohne daß ein Lebenszeichen eintraf.

Und nun ging es wirklich mit der Kranken zu Ende.

Ein großer Trost für alle war, daß Eva endlich erschien. Sie war zwar noch elend und angegriffen, aber sie war doch da und hielt fest die Hand der Mutter, keine Minute mehr vom Krankenbette weichend. Zuviel hatte sie schon versäumt. Aber auch den Vater und die Geschwister schaute sie mit so ganz andern Augen an, als wären sie etwas Neugeschenktes. Und – was Anni am meisten Sorge gemacht hatte – die Dürftigkeit der jetzigen Verhältnisse schien wenig Eindruck auf sie zu machen; das Glück, überhaupt da sein zu können, überwog alles.

Frau Lindt hatte keine sonderliche Überraschung über Evas plötzliches Dasein gezeigt. Sie war auch zu schwach, um viel zu reden. Nur manchmal gingen ihre Augen wie vergleichend von einer der Töchter zu den andern, und wenn Eva immer wieder mit Tränen sagte: » Minha querida mamae!« (»Meine geliebte Mama!«) so erwiderte diese jedesmal mit der unsichern Frage: » Vosse me queo?« (»Hast du mich lieb?«)

Anni blieb bis zuletzt Mutters Boba und Bobinha, und Mariechen das Kindchen. Für Heinz schien sie augenblicklich das Gedächtnis verlassen zu haben. Aber in der Nacht, als das Ende herannahte, als Vater schluchzend an ihrem Bett kniete und die andern auch, da war's, als ob die weit geöffneten Augen noch etwas suchten.

»Heinz!« Der Name klang wie ein Hauch.

»Heinz ist in Gottes Hand wie wir alle!«

» Lembranças ... desculpa ... desculpa!« (»Grüße ... Verzeihung ... Verzeihung!«) ... Das letztere war kaum verständlich, und die Kranke hatte ausgelitten. Galt es dem Sohne, – war es eine Bitte für die eigenen Verfehlungen, – wer mochte das wissen?«

Am Tage darauf schlich jemand die Treppen herauf, langsam und immer wieder zögernd, als trage er eine schwere Last. Das Aussehen oben im Scheine der kleinen Ganglampe war nicht vertrauenerweckend: abgenützte Kleider, ein Hut, tief ins Gesicht gedrückt, hagere Wangen, ängstlich spähende Augen nach dem, was etwa innerhalb der Glastüre war. Dann endlich ein zaghaftes Berühren der elektrischen Klingel. Rosa kam aus der Küche, aber sie sah niemand. Der junge Mann hatte sich hinter einen Vorsprung gedrückt. Ihn fror, und dann ging er wieder die halbe Treppe hinab. Nach einiger Zeit aber sagte Herr Lindt: »Anni, sieh doch einmal nach, mir ist, als habe es zum zweiten Male geklingelt.«

Das Abendbrot stand fast unberührt auf dem Tisch, die Familie saß beisammen, die Tote lag nebenan aufgebahrt.

Anni war hinausgegangen. Und dann wurde ein Geflüster und ein lautes Aufschluchzen hörbar, und Anni riß die Türe auf und rief: »Vater, o V... Vater, H... Heinz ist da, – Vater, o Vater, ... sag, daß er hereinkommen soll!«

Und Heinz wurde hereingeholt, und niemand fragte, warum und woher. Mutter war gestorben, da war alles andere Nebensache. Und vor Mutters Sarg kniete er und weinte herzbrechend, und immer wieder schluchzte er laut auf: »Ich glaubte ja helfen zu können, ... ich glaubte es ganz, ganz gewiß!«

Durch eine Zeitung hatte er erfahren, was geschehen war, – das, aber nur das trieb ihn wieder heim. Er hatte geglaubt, bei dem Herrn in Dresden gleich als Zeichner ankommen zu können, und die Hälfte des Weges war er gegangen. »Wenn Sie mehr gelernt haben, kommen Sie wieder!« war der abweisende Bescheid. Und so hieß es überall. Andere sagten: »Gehen Sie nach München, da ist der richtige Boden!« Ach ja, München, aber wie dahin kommen, wie leben? Ausläufer war er eine Zeitlang gewesen und dann Fremdenführer. Und ein Handlungsreisender, dem er die Koffer trug, nahm ihn vor Wochen bis hierher. Da hatte er in der Nacht vor dem Haus gestanden, aber die Schande und die Angst vor dem Kontor trieben ihn wieder weiter ... Zu Fuß sei er dann nach München gekommen, aber auch dort sei dasselbe gewesen: überall Zeichner genug und keine Arbeit. Da habe er gehungert und Straßen gekehrt, schließlich aber durch einen Herbergsvater Verdienst durch Abschreiben bekommen. Daher die drei Mark ... daher die Möglichkeit hierherzureisen. Aber er bleibe nicht, nein, gewiß nicht, – es werde ihm schon noch gelingen ... Vater möge doch nur Herrn Berger das fehlende Geld einstweilen zahlen, ... gewiß und wahrhaftig, er ersetze es wieder!

All das kam stoßweise heraus, und dabei verzehrte Heinz trotz allem inneren Jammer das ihm von Anni hingestellte Nachtessen, Fleisch und Kartoffeln, Brot und wieder Kartoffeln, ganz wahllos. Die junge Natur und der Hunger brachen sich Bahn.

Nachher aber, als die ganze Familie beisammen saß und alle sich im gemeinsamen Leid und Erlebten so vereint fühlten wie noch nie, da richteten sie Heinz der Mutter letzten Gruß aus, und der Vater reichte ihm die Hand: »Wir müssen alle ein neues Leben versuchen!«


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