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Drittes Kapitel.

Der »Geigenlobele«. – Warum Frau Maier sich den Kopf zubindet und Gertrud Reinhardt »Freut euch des Lebens!« spielt. – Wie Herr Direktor Janauschek sich bei Nane einführt, und wie ein Kind sich müht, »feurig« zu geigen. – Herr Steiner seufzt.


Es geschieht nichts ohne Gottes Willen, aber wie selten geht es dabei nach unserem Wunsch und nach unseren Plänen!

Während Angelika und ihre Freunde sich in den nächsten Wochen eifrig bemühten, irgendwo eine Stelle für sie zu finden, wo sie, die eine so große Kinderfreundin war, lehren und erziehen und das anwenden konnte, was sie mit Fleiß und Liebe gelernt hatte, bereitete sich ungesucht etwas ganz anderes vor, und es mußten Entschlüsse gefaßt werden, die weitab von Angelikas Hoffnungen und Wünschen lagen.

Herr Steiner, der Organist an der Stadtpfarrkirche, auf deren Turm seither die Wohnstätte der Familie Lindenmaier gewesen, und wo auch die beiden Kinder geboren und aufgewachsen waren, fühlte sich nachgerade zu alt und müde für sein Organistenamt und für die Leitung der alljährlichen musikalischen Aufführungen. Jetzt im Herbst wollte er das letzte Konzert geben, um sich dann in Gottes Namen, wenn auch schweren Herzens, in die Ruhe und Stille seines kleinen Häuschens draußen vor der Stadt zurückzuziehen. Eins aber wollte er sich noch vorbehalten, das war die weitere Ausbildung des kleinen Gottlob, des »Geigenlobeles«, wie er schon seit längerer Zeit von alt und jung genannt wurde. Sein ganzes Herz hing an dem talentvollen Knaben. Ihn nach und nach all das zu lehren, was er selber wußte, und dazu nun Zeit und Muße zu haben, erschien ihm so recht als eine schöne, beglückende Feierabendaufgabe, die in dem gipfelte, Gottlob so viel ernstes, gediegenes Können beizubringen, als nötig war, um als tüchtiger Musiker einst seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er hatte in diesem Sinne erst kürzlich mit Stadtpfarrers und Frau Nane gesprochen, die es als großes Glück ansahen, daß der Knabe einen so selbstlosen, treuen Lehrer gefunden. Herr Steiner betonte dann immer wieder, daß vor allem andern Gottlob sich eine tüchtige Schulbildung erwerben müsse, die die Grundlage zu jedem Berufe sei. Erst wenn die Schulaufgaben gemacht waren, durfte der Junge geigen, meist zwei Stunden täglich, aber gründlich.

Dazu hatte Angelika den Bruder bis jetzt am Klavier drüben bei Stadtpfarrers und nun unten bei Frau Maier begleitet, die von einer verstorbenen musikalischen Schwester her in ihrer Wohnstube ein Klavier stehen hatte. Jahrelang war dieses, mit einem weißen Tuch bedeckt, zum Trocknen der Nudelkuchen benützt worden, aber Frau Maier brachte das Opfer, das so bequeme Möbel zu seinem eigentlichen Gebrauch herzugeben, ja sogar es stimmen zu lassen. Das war gut, denn die Frau Stadtpfarrer litt neuerdings an Kopfweh und konnte das Musizieren nicht mehr ertragen.

Als beschlossen wurde, daß Angelika fortginge, hatte sich Frau von Werder angeboten, mit Gottlob zu üben.

»Ich frische dabei meine eigenen Klavierkenntnisse wieder auf, und wenn ich keine Zeit habe, so kann das Kinderfräulein so viel, um für mich einzutreten,« meinte sie.

Aber schon als Angelika ihre Vorbereitungen zur Abreise traf und diese neue Ordnung angefangen wurde, erwies sich, daß Frau von Werder eben viel öfter, als sie gedacht, keine Zeit hatte, und das Spiel des Kinderfräuleins war derart, daß Gottlob einigemal weinend und ganz außer sich nach Hause kam.

»Wenn ich schon beinahe fertig bin, fängt die erst an, und was sie spielt, ist Holz, anstatt Töne!«

Wie war der kleine Mann nun doppelt glückselig, daß sein Engele vorderhand wieder mit ihm übte, sie, die ihn verstand wie kein anderer! Sie dachte musikalisch in allem wie er. Was ihm gefiel, gefiel auch ihr. Das Erfassen, das Einsetzen, das Notenlesen, alles das ging herrlich zusammen, und auch für Angelika war Musik das größte Vergnügen. Daß sie es noch nicht weiter gebracht, lag daran, daß sie bis jetzt nie genügend Zeit und auch nie ganz innere Ruhe dazu gehabt hatte.

Das Ueben in den immerhin fremden Räumen bedrückte sie gewaltig, und der Gedanke an die fremden Menschen, die da notgedrungen zuhören mußten, war ihr von jeher peinlich. Wie herrlich mußte es sein, ein eigenes Klavier zu besitzen und nicht beständig jemanden belästigen zu müssen! Wenn Angelika danach trachtete, hinauszugehen und Geld zu verdienen, so schwebte ihr auch immer dieser glühende Wunsch vor. Aber nun war ja alles wieder in die Ferne gerückt.

Jetzt galt es, in der allernächsten Zeit mit Gottlob das Largo von Händel zu üben, das Herr Steiner den kindlichen Geiger in einer Pause seines Kirchenkonzerts vortragen lassen wollte. Lange hatte er überlegt, ob er's wagen dürfe, und ob es Gottlob nicht eitel machen würde. Aber der Junge neigte so gar nicht zu Eitelkeit und Ueberhebung. Das Lob, das er hier und dort schon bekommen hatte, schien ihn gar nicht zu berühren. Wenn er seine Geige im Arm hatte und seiner Sache sicher war, vertiefte er sich sofort so in das Spiel, daß er gar nicht beachtete, ob mehr oder weniger Menschen oder auch niemand ihm zuhörte.

Bei diesem ersten Auftreten dünkte ihm vor allem wichtig, daß Herr Steiner mit ihm zufrieden war.

»Wir müssen immer wieder die schweren Stellen probieren, daß sie auch ganz rein klingen,« sagte Gottlob zu der Schwester, die geduldig Tag für Tag mit ihm wiederholte und feilte und das nicht ganz Glatte peinlich genau durchnahm. Ihr feines Ohr erkannte auch stets, wo es noch nötig war.

Aber etwas mehr Geduld verlangte dieses Ueben von der guten Frau Maier, die sich das Musizieren ganz anders gedacht hatte.

»Früher hat man doch auch Lieder und dann und wann einen Ländler gespielt und nicht alleweil so unverständliches Zeug,« äußerte sie manchmal höchst unbefriedigt, und wenn ihr Angelika ab und zu solche Wünsche erfüllte, so ging's zu Frau Maiers Entsetzen gleich wieder los mit dem dummen Zählen und Ueben. Daß aus dem Gottlob je einmal etwas Rechtes werden würde, das glaubte sie jetzt nun ganz gewiß nicht mehr, nachdem sie dieses »Abgequäle«, wie sie's nannte, mit angehört hatte.

»Ich meine wahrhaftig, jetzt solltet ihr's zusammen endlich einmal können, da ich es sogar am Schnürle heruntersingen könnte, wenn meine Stimme nicht ganz verrostet wär'!« sagte sie eines Mittags und brummte als Beweis dafür die schöne Melodie vor sich hin, während sie mit einigem Geräusch umständlich das Ofentürchen öffnete und nach dem Feuer sah, dem ersten, das diesen Herbst angezündet wurde, und das nicht recht brennen wollte. Gottlob zuckte zusammen. Jedes Geräusch und jede kleine Störung war ihm höchst peinlich beim Musizieren. Angelika ging es heute fast ebenso, und doch mußten sie noch weiter üben, denn morgen nachmittag sollte die Generalprobe drüben in der Kirche sein. So wiederholten die Geschwister eben die schwierigen Stellen noch öfter in der ihnen eigenen Gewissenhaftigkeit.

»Was ist denn mit Ihnen, Frau Maier, haben Sie Zahnschmerzen oder ein geschwollenes Gesicht?« fragte Gertrud Reinhardt, die gleich darauf mit einem Körbchen in den Laden trat, um frische Butter zum Nachtessen zu holen. »Ein halbes Pfund frische Butter, bitte!« wiederholte sie, so laut sie konnte, denn Frau Maier hatte sie das erste Mal gar nicht verstanden. Sie saß da, ein dickes, grobes Mundtuch um die Ohren gebunden, und darüber war ein lila wollener Schal turbanartig geschlungen.

»Eier, Fräulein Gertrud? Wie viel wollen Sie denn?« klang es in mattem Ton. Als aber diese auf ihrem ersten Begehren laut brüllend beharrte, da wog sie das Gewünschte ab und sagte dabei mit ergebungsvollem Tone:

»Ich weiß mir nicht mehr anders zu helfen! Ich halt's nimmer aus! Immer dasselbe trübselige Gespiele, daß man ganz dumm wird! Das Klavier steht jetzt einmal hier, und ich kann die Kinder doch nicht hinausjagen! Aber das muß ich sagen, da ist mein Luisle selig anders musikalisch gewesen! Die hat ihre Stücke flott heruntergespielt, oft sogar auswendig, und brauchte nicht in einem fort zu üben, aber dies Gemühe mit anzuhören, halte eins aus! Und so hab' ich mir denn die Tücher herumgebunden!«

Ganz erschöpft war Frau Maier auf einen Stuhl gesunken, der sonst nur von den Kunden benützt wurde, und aus dem Verband sahen ein paar unendlich wehmütige Aeuglein und ein fast zum Weinen verzogener Mund.

»Ich weiß nicht, wie das werden soll, und ich hab' mir's doch so schön gedacht!«

»Aber so stellen Sie doch das Klavier hinauf ins Zimmer zu den Lindenmaiers und dafür den alten Schrank von dort herunter,« riet Gertrud. »So ist's doch viel praktischer, und das Geklimper, das ich auch schwer ertragen würde, hören Sie ja dann nur aus weiter Ferne!«

Frau Maier horchte erstaunt auf.

»Fräulein Gertrud, aber so was! Sie sind wirklich grundgescheit!« Das vermummte Gesicht hatte plötzlich wieder einen ganz andern Ausdruck bekommen. »Grundgescheit, sage ich, und ich bodenlos einfältig, daß mir die Idee nicht selber gekommen ist. Aber wissen Sie, es ist bei mir in vierzig Jahren kein Möbel in der Wohnung unten anders gerückt worden, als meine Mutter selig es einstens stellte, und da denkt man an so etwas gar nicht.«

»Aber jetzt haben wir daran gedacht, Frau Maier, und wenn's Ihnen recht ist, bestelle ich gleich ein paar Männer, die's ausführen, vielleicht am besten heute nachmittag, wenn die zwei drüben in der Probe sind. Was wird das für eine Freude und Ueberraschung für mein Engele werden, wenn sie nichtsahnend heimkommt!«

Gertrud hatte sich ganz in Eifer hineingeredet und machte die Sache auch gleich fest, denn ganz zu trauen war Frau Maier nicht, daß sie dieser unerhörte Entschluß nicht wieder reuen würde. Darum kam Gertrud des Nachmittags sofort, als sie die zwei Geschwister in der Kirche wußte, selber herüber mit zwei Packträgern von der Marktecke. Wilhelm, der neue Turmwächter und Mesner, welcher gerade unten war, half auch mit, und so wurde der Wechsel anstandslos vollzogen, obgleich Frau Maier von neuem Bedenken kamen, ob's auch recht sei, wenn man etwas, was so lange neben einem gestanden, nun so ohne weiteres forttue.

»Oben ist nicht fort, und dann freut's den alten Schrank vielleicht auch, wenn er einmal ein bißchen zu Ihnen hinunter darf,« sagte Gertrud lachend und half Frau Maier den Staub vorkehren, der sich seit undenklichen Zeiten hinter dem schweren Möbel angesammelt hatte. Und als der schöne, eingelegte Schrank mit dem glänzenden Messingbeschlag an der Wand stand, da hatte die Stube entschieden sehr gewonnen, und Frau Maier strahlte. Als dann Gertrud mit ihrem Schönheitssinn zwei Leuchter und eine Vase mit gemachten Blumen daraufstellen wollte, da wehrte die alte Frau ab, bereitete ein frisches, vierfach zusammengefaltetes Tischtuch auf die Schrankfläche und sagte mit größter Befriedigung:

»So, jetzt hab' ich doch wieder einen Platz für meine Nudeln!«

Nicht minder groß war die Freude über die Veränderung oben und zwar zunächst bei Frau Nane, die ordentlich zitternd vor Aufregung dem Umzug die Treppe hinauf zusah.

»Daß nur ums Himmelswillen kein Unglück geschieht!«

»'s wäre auch nicht viel schad' um den alten Klimperkasten,« murmelte einer der Männer, aber Frau Nane erschien dieses Stück, das nun in ihr Zimmer hineingeschoben wurde, augenblicklich als das Kostbarste, was es auf der Welt gab. Wußte sie doch, wie glückselig Angelika und Gottlob über das allerdings nicht mehr neue Instrument in der eigenen Stube sein würden. Doch ohne Schrecken sollte die Aenderung nicht vor sich gehen. Das Klavier erwies sich oben als zu groß für die Wand.

»Dann stellt man's schief in die Stube hinein! Das tut man immer bei Klavieren, sie tönen dann viel besser,« bestimmte Gertrud sachkundig. Und wie nun alles zurechtgerückt war, die Abendbeleuchtung vom Fenster her so schön hell auf das Notenpult fiel und die verhallenden Orgeltöne drüben in der Kirche verkündigten, daß die Probe zu Ende sei, da setzte sich Gertrud an das Instrument und spielte so laut und kräftig, als sie es vermochte, das Lied: »Freut euch des Lebens!« Es war eines der wenigen Stücke, die sie überhaupt konnte. Der Anschlag war höchst mangelhaft, die Finger griffen oft daneben, schon deshalb, weil die Spielende nicht auf die Tasten schaute, sondern nach der Tür sehen mußte. Aber die zwei, die da ohnedem erregt hineintraten, und in deren feinmusikalischen Ohren noch Händel und Bach nachklang, erklärten nachher doch unter Staunen und Jubel und Umarmen, so was Schönes wie Gertruds Leistung hätten sie doch eigentlich noch nie gehört. »Nicht wahr?« sagte Frau Maier, die die urkräftigen Töne heraufgelockt hatten. »Nicht wahr, die Gertrud, die kann's halt doch besser als ihr? Aber jetzt klimpert meintwegen da oben, soviel ihr mögt. Ich bin eigentlich froh, daß ich nun ein Möbel mit Schubladen habe. Der Platz unter dem Klavier war doch die ganze Zeit über vollständig verloren gewesen!«

Ueber den letzteren Umstand vermochten sich die Anwesenden mit dem besten Willen augenblicklich keine Gedanken zu machen. Sie hatten auch gar keine Zeit dazu, denn kaum hatten die Kinder ihrer Freude Ausdruck verliehen und dann erzählt, daß alles bei der Probe gut abgelaufen sei, daß Herr Steiner dem Gottlobele nach dem Largo auf die Schulter geklopft und »brav!« gesagt habe, was er doch fast nie tue, als jemand an die Türe klopfte und auf Mutters »Herein!« ein Herr über die Schwelle trat. Er war noch jung, hatte pechschwarze Haare und Augen, einen eleganten Überzieher und sprach ausländisch. Er stellte sich als Musikdirektor Janauschek, Nachfolger von Herrn Steiner, vor und entschuldigte sich, daß er seinen Besuch zu einer so späten Stunde mache.

»Ich konnt's aber nicht verschieben, da ich morgen in aller Frühe nach Wien zurückfahre, wo meine Frau mit dem Umzug auf mich wartet. Wollte nur noch meinen kleinen Kollegen begrüßen und der Frau Mutter die Hand drücken und glückwünschen. Ich kann nur sagen: einfach großartig, wie das Buberl das gemacht hat, und ich freue mich schon riesig, bis auch meine Frau ihn hört. Fräulein Schwester nicht wahr?« und er verbeugte sich gegen Angelika, die ihrerseits Gertrud und Frau Maier vorstellte. Und nachdem Nane rasch das grüne Tuch, das zum Schutz auf dem Sofa gelegen, weggenommen, setzte man sich in einem Halbkreis. Herr Janauschek hatte sofort Gottlobele an sich genommen und mit ihm zu plaudern begonnen.

»'s ist ja nicht möglich, daß du schon sieben bist, du schaust ja wie fünfjährig aus. Aber wenn auch, ein ganz famoser Kerl bist du!«

Und nun fing er an, ihn auszufragen, welche Stunden er habe, ob er denn wirklich »bloß« bei Herrn Steiner oder doch sonst irgendwelchen andern Unterricht gehabt, und wie viel Stunden er täglich übe.

»Zwei,« sagte Gottlob.

Er stand so nett und bescheiden da, und Mutter Nanes Auge ruhte mit Stolz auf dem ehrlichen Gesichtchen, auf den geordnet zurückgestrichenen Haaren, und sie freute sich des tadellos weißen Hemdkragens und des guten, neuen Anzugs, den sie ihm für heute hatte machen lassen. Sehr künstlerisch sah das Wämschen und die zum Wachsen eingerichteten Hosen nicht aus, aber fest und gediegen, und das war doch die Hauptsache.

Herr Janauschek hatte sich höchlich verwundert über das nur zweistündige tägliche Ueben.

»Das ist zu wenig, das ist viel, viel zu wenig, um rasch vorwärts zu kommen. Vier Stunden wären das Allermindeste, was du leisten müßtest bei deinem hervorragenden Talent!«

»Herr Steiner sagt, solange ich in die Schule gehe, sei das genug und das Lernen die Hauptsache,« antwortete Gottlob schüchtern, und die Mutter meinte, zwei Stunden seien doch recht viel und manchmal schwer herauszukriegen, besonders für Angelika, die den Bruder begleiten müsse.

»Ah, Sie spielen Klavier, Fräulein?« fragte der Herr, sich an Angelika wendend. »Da werden Sie auch verstehen, daß es ein Jammer ist, daß dieses Kind, in welchem wirklich etwas Hervorragendes steckt, bis jetzt noch so weit unten gehalten wurde!«

»Herr Steiner meint –«

»Herr Steiner, Herr Steiner! Natürlich meint es dieser Herr sehr gut, und die Grundlage ist ja eine immerhin anerkennenswerte, die der alte Herr gelegt hat!« Herr Janauschek sagte dieses Wort ärgerlich mit etwas nervöser Ungeduld. »Aber leider ist die Schule, die er hat, eine veraltete, und es wäre die höchste Zeit, daß ein neuer Lehrer mit anderer Unterrichtsweise dieses Genie in die Hände bekäme.«

»Wir sind Herrn Steiner zu großem Dank verpflichtet, und er will auch künftig sich noch mit dem Gottlob plagen,« sagte Nane etwas ängstlich. Sie wußte nicht, was der lebhafte Herr eigentlich wollte. Der aber war inzwischen aufgestanden und hatte die Noten, die neben dem Kleinen lagen, flüchtig durchgeblättert.

»Hm!« meinte er und legte ein paar Sachen beiseite. »Komm her, Bubele, mach mir die Freud' und spiel mir noch ein bisserl vor. Bin begierig, was in deiner Geig'n außer dem Largo noch drinnen steckt.« Herr Janauschek setzte sich ohne weiteres ans Klavier und legte ein Heft mit einer Mozartschen Sonate auf das Pult.

Gottlob nahm seine kleine Geige, sprach aber eifrig in Angelika hinein.

»Er ist gewöhnt, daß ich oder Herr Steiner ihn dazu begleite,« sagte diese, auch etwas ängstlich.

»Um so besser, Fräulein, um so besser,« rief Herr Janauschek, seinen Platz sofort freigebend.

»Sie gestatten, daß ich mich ein wenig in den Hintergrund begebe, um besser hören zu können.« Er setzte sich tief in die dunkle Sofaecke, von wo aus er die beiden Musizierenden hell beleuchtet vor sich hatte.

Es war ein anmutiges Bild, das sich da bot, Bruder und Schwester; er ganz dunkel, fast wie ein kleiner Zigeuner, sie rosig und frisch, die dicken, blonden Zöpfe um den Kopf gelegt, die schlanke Gestalt leicht vorwärts zu den Noten gebeugt. Das Büblein war unbefangen und geigte, wie es eben konnte und empfand. Angelika hingegen fühlte sich unsicher vor dem Kenner und spielte vielleicht schlechter als sonst. Sie war ja überhaupt keine Künstlerin. Aber immerhin mußte Herr Janauschek zufrieden sein, denn nach der Sonate legte er einfach eine zweite von einem andern Tondichter auf, und dann noch ein Stück und noch eines. Und als bei dem vierten ihm der letzte Satz zu langsam ging, da sprang er auf, schlug den Takt, trieb an und rief: »Feuriger, schneller!«

Die beiden Musizierenden empfanden sofort, was er meinte. Sie steigerten sich selber, taten ihr Aeußerstes, und wenn auch mit mancher Ungenauigkeit und hinuntergefallener Note brachten sie das Stück doch zu Ende, so wie der Musikdirektor es gewünscht hatte.

»Das Mädel ist kein Genie, aber musikalisch ist es doch und weiß sich anzupassen,« murmelte Herr Janauschek vor sich hin. Dann aber schüttelte er mit seiner großen Lebhaftigkeit den beiden die Hände.

»Wollte euch nur ein wenig aus dem Angelernten rausbringen und schauen, was Eigenes in euch steckt!« sagte er, und indem er sich nun nach Hut und Handschuhen umsah und sich zum Fortgehen rüstete, sprudelte er noch heraus: »Gott sei Dank, daß bei dem trockenen Unterricht die Hauptsache da drinnen, das Feuer, nicht erstickt ist! Meinen Glückwunsch, gnädige Frau,« – er wandte sich zu Nane, die die ganze Zeit über harrend der Dinge, die da kommen würden, in ihrem Stuhl gesessen hatte und nun ordentlich erschrocken über die vornehme Anrede in die Höhe fuhr. »Meine Hochachtung, Fräulein … bitte, wie ist Ihr Name? … Ah, Fräulein Angelika! Wie gut der zu Ihnen paßt! – Und du, mein Buberl, hast einen ganz roten Kopf bekommen. Wart nur, das wollen wir noch oftmals zustande bringen, wenn wir erst hier sein werden, meine Frau und ich! Hoffe sehr, Fräulein Angelika, auf Ihre Freundschaft und auf gemeinsames Musizieren oder gütiges Begleiten, das Sie famos verstehen. Meine Frau hat eine prachtvolle Stimme, ist früher Konzertsängerin gewesen und wird glücklich sein, wenn ich ihr von Ihnen erzähle. Vielleicht gelingt es uns vereint, einen etwas frischeren Zug in die hiesigen Musikverhältnisse hineinzubringen!«

Herr Musikdirektor Janauschek hatte sich empfohlen, und Gottlob war in einer Weise aufgeregt, wie ihn die Seinen noch nicht oft gesehen hatten. Frau Nane konnte durchaus nicht verstehen, was da Verdienstliches dabei sein sollte, daß der fremde Herr den Buben so weit gebracht hatte, daß sein Kopf glühte und ihm alle Pulse schlugen, wo er doch so nett und ruhig und unaufgeregt aus der Konzertprobe nach Hause gekommen war. Wie sollte das nur morgen werden, wo es galt! Was würde Herr Steiner dazu sagen, dessen Hauptbestreben es immer war, Gottlob so recht ruhig und gleichmäßig zu behandeln?

Frau Nane hatte die größte Mühe, den Jungen ins Bett zu bringen. Immer wollte er nur einen Takt noch und wieder einen probieren, und Angelika war diesmal gar nicht die Vernünftige; sie war zu selig über das erstmalige unumschränkte Benützendürfen eines Klaviers, und wenn es auch »dünn wie eine alte Harfe« klang, wie Herr Janauschek sagte, ihr dünkten die Töne heute doch prachtvoll und wunderschön.

Nicht so ganz wunderschön und tadellos, wie Herr Steiner und Angelika es erwartet und gewünscht hatten, verlief am nächsten Tage das Konzert. Für Fremde war es unauffällig. Die Tageszeitung brachte auch einen äußerst lobenden Artikel über die ganz hervorragende Leistung des kleinen Gottlob Lindenmaier, die zu den schönsten Erwartungen berechtige, aber Herr Steiner hatte die unbewußte Sicherheit im Spiele seines Schülers vermißt und hatte gegen den Schluß hin mit seiner Begleitung gewaltig zu bremsen. Der Bub' wollte plötzlich in ein so rasches Tempo verfallen, wie es zu der Komposition gar nicht paßte.

»Was zum Kuckuck ist dir denn eingefallen, Gottlob, so auf einmal wie ein wilder Gaul durchzugehen?« fragte er nach dem Konzert seinen Schüler.

»Ich wollte es feuriger machen,« erwiderte Gottlob in einem Ton, den Herr Steiner gar nicht an ihm gewöhnt war.

»Wer hat dir denn so was Dummes in den Kopf gesetzt? Werde du erst einmal so sicher, daß du von innen heraus erwärmen kannst, mit dem feurigen Spiel hat es noch lange seine Zeit!«

Angelika hoffte von Tag zu Tag auf irgend eine Nachricht in Betreff einer Stelle. Sie studierte eifrig alle Anzeigen, schrieb Briefe ins Ausland und wechselte Briefe mit Fräulein von Thadden. Dazwischen sah sie sehnsüchtig am lieben, alten Turm empor, wenn die Tage da unten oft so heiß, die Nächte so schwül waren, wenn in ihr Zimmerchen trotz der geöffneten Fenster so gar keine Kühle, hingegen Düfte aller Art, die sie vorher gar nicht gekannt hatte, aus all den Winkeln und Höfchen hereinkamen. Wie war die Luft da oben immer so frisch und erquickend gewesen, wie beruhigend und erhebend war der Blick von ihrem Bett aus mitten in den Sternenhimmel hinein! Und der gute, brave, so gescheit und richtig denkende Vater! Bei ihm hatte Angelika nie den Unterschied des Bildungsgrades so empfunden wie bei der Stiefmutter. Er hatte trotz redlicher Werktagsarbeit etwas Sonntägliches in seinem Wesen da oben bekommen, ein Verstehen der Dinge von innen heraus, ein klares, stilles Anschauen und Beurteilen der Verhältnisse und Menschen. Frau Nane mit ihrer praktischen Tüchtigkeit hatte ihm wohl angestanden, und Angelika wußte genau, was sie alles dem Fleiß der Mutter verdankte, und vergaß ihr auch gewiß nie, wie viel Mühe sie sich mit ihr gegeben, wie rührend sie ihr einstens verziehen, als sie auf das ihr anvertraute Brüderchen so schlecht geachtet. Immer wieder überkam es sie heiß, wie es nicht ihr Verdienst, sondern Gottes Gnade war, daß der Bruder, ihr liebes, herziges, geliebtes Gottlobele, nicht das Leben oder doch den Gebrauch seiner Glieder verloren hatte. Schmerzlich genug und demütigend war ihr das hinkende Füßchen, aus dem der Kleine selber sich aber nichts machte, und worüber er sein Engele stets zu beruhigen suchte.

»Fangenspielen kann ich freilich nicht, aber 's ist ja doch bloß der Fuß und nicht die Hand. Wenn's ein Fingerle wäre, das würde mir tausendmal mehr lästig fallen!«

Und das wäre auch wirklich viel, viel verhängnisvoller für Gottlob gewesen, der nun außer der Schule und den Lehr- und Uebungsstunden bei Herrn Steiner fast täglich mit den nun seit einigen Wochen hier wohnenden Janauscheks musizierte.

Der neue Herr Direktor, das mußte man sagen, war rührig, hatte glänzende Zeugnisse von einer höheren Musikschule aufzuweisen, verfaßte selber Tonstücke und hatte in der kurzen Zeit schon einen ganz anderen Zug, was das Musikalische anbelangt, in die Stadt hereingebracht. Herr Steiner, der nichts von Eitelkeit und Eifersucht kannte, sah mit Interesse sich die Sache aus der Ferne an, wenn er auch zu manchem den Kopf schüttelte.

»Die Jungen haben auch ihre Berechtigung, und jeder Geschmack und jede Zeitrichtung hat auch wieder ihr Gutes!«

Aber daß der »Neue« sich seines Lieblings bemächtigte, daß er das Kind unsicher machte, und daß er dem zarten Buben nach seiner Ansicht viel zu viel zumutete, das konnte er fast nicht mehr ertragen, und er beschloß, da energisch einzugreifen.

Herr Janauschek hörte ihn sehr höflich, aber doch ein bißchen von oben herab an. »Sie mögen ja in vielem recht haben, Herr Steiner, aber was das Buberl anbetrifft, so wäre es geradezu eine Sünde, nach allgemeinen Regeln zu verfahren. Das Kind ist so etwas Außerordentliches, daß es von selber nicht ruht, und daß es nach richtiger Anleitung und Betätigung lechzt!«

Herr Steiner schluckte – als wenn er das Kind nicht richtig angeleitet hätte! – und setzte, ein bißchen empfindlich, dem Herrn auseinander, aus welchen Gründen Gottlob geschont werden müsse.

»Das weiß ich alles schon längst, habe, ehe ich mich mit dem Buben eingelassen, mit einem Freunde von mir, einem Arzte, darüber gesprochen. Der riet aufs dringendste, das Kind aus der Schule zu nehmen und ihm in diesem Ausnahmefalle Privatstunden geben zu lassen. Auf diese Weise würde Zeit und Kraft gewonnen und das Ziel, das wir uns mit ihm gesteckt haben, in möglichster Kürze erreicht.«

»Ja, was ums Himmelswillen ist denn das Ziel, auf das Sie mit solchem Hochdruck hinarbeiten?« fragte, gänzlich aus der Fassung gebracht, Herr Steiner.

»Das Ziel, das uns in diesem ganz ausnahmsweisen Falle doch wohl allen als das einzig richtige vorschwebt, ist, daß Gottlob möglichst bald fähig gemacht wird, seine glänzende Begabung auch in größeren Kreisen zu betätigen.«

»Also ein Wunderkind wollen Sie aus dem Kleinen machen, eine frühreife Treibhauspflanze, ein Geschöpf ohne Wurzeln und Schulbildung?«

»Ich bitt' Sie, Herr Steiner, ereifern Sie sich nicht, nehmen Sie die Sache doch nicht so tragisch!« beschwichtigte Herr Janauschek, dem die Unterredung peinlich wurde, und der es durchaus nicht mit dem alten Herrn verderben wollte. »Ereifern Sie sich nicht! Alles das sind ja nur meine persönliche Ansichten, und die Ausführung liegt in weiter Ferne. Inzwischen bleibt das Buberl ja ruhig unter Ihrer bewährten Leitung. Daß aber meine Frau und ich – schon als Nachbarn – eine Freude an dem kleinen Kerl haben und ihn uns manchmal zum Musizieren holen, werden Sie, verehrter Berufsgenosse, wohl am besten verstehen!«

Ach ja, Herr Steiner verstand es! Wer kannte auch besser den ganzen Reiz, der von Gottlob, seinem geliebten, kleinen Freund, dem Geigenlobele, ausging? Wie durfte er andern verbieten, sich gleichfalls an dem Kinde zu freuen, sich seiner anzunehmen? Er vermochte nur noch mit gepreßter Stimme zu sagen: »Wenn's angeht, wollen wir beide unser Bestes an dem Jungen tun, aber gründlich, nicht wahr, gründlich?« worauf Herr Janauschek mit einem: »Aber natürlich, das ist doch einfach selbstverständlich!« antwortete, was ihm auch ernst war, nur in anderer Weise.


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