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Fünftes Kapitel.

Nun geht's auf Reisen! – Von waschledernen Offiziershandschuhen und aufgespartem Nachtisch. – Die Sorge im Stadtpfarrhaus, und was beim Himbeerpflücken alles geschehen kann. – Warum Nane ihr Kaffee bitter schmeckt und sie wegen des schönen Namens Benedikt Herzweh bekommt.


Karte von Gottlob an die Mutter:

W…bad, den 10. Aug. 19..

L. M. Wie geht's Dir? Wir sind sechs Stunden lang in der Bahn gefahren. Das war schön, und wir sind an den Bergen, die vom Turm aus ganz hinten am Himmel liegen, vorbeigekommen. In der Nähe sind sie aber grün und nicht mehr blau. Und jetzt sind wir in sie hineingefahren, und da sind lauter Wälder, und aus dem Boden kommt warmes Wasser. Da baden die Menschen, und es sind viele da. Und sie sehen uns an, weil sie wissen, daß wir morgen spielen. Und man muß deshalb schön mit Messer und Gabel essen, sagt Herr und Frau Direktor. Wie geht's Dir, bist Du auch nicht traurig?

Dein treuer Sohn Gottlob.

 

Brief von Angelika an Gertrud:

Geliebte Trude!

Mein erster Brief hätte der Mutter gegolten, da aber Gottlob und Frau Janauschek an sie schreiben wollen, so adressiere ich diese Zeilen an Dich, und Du wirst sie nachher drüben vorlesen. Bis jetzt ist es uns ausgezeichnet gegangen. Ach, Trude, das Reisen ist doch was Wunderschönes, und jetzt, wo ich erwachsen bin, schaue ich Gegenden und Menschen mit ganz anderen Augen an als damals, wo mir mit meinen Engländern das fortwährende Reisen so zur Last wurde. Jetzt ist es auch etwas anderes. Wir genießen nicht nur, wir arbeiten auch und haben einen ernsten Zweck, schon einen recht ernsten, und Du glaubst nicht, welche furchtbare Angst ich gestern den ganzen Tag über auf den Abend hatte, während unser Lobele harmlos und vergnügt all das Neue sich ansah. Nur von Zeit zu Zeit wurde er ernst und sagte:

»Glaubst du, daß Mutterle heut schon Heimweh hat?«

Wir wurden an der Bahn von einer sehr musikalischen Familie empfangen, welche mit Direktors befreundet ist, und von ihr ins Hotel geleitet. Am andern Morgen war Probe. Es ist ein sehr gutes Kurorchester hier und ein schöner Saal. Alles war vorbereitet, und außer ein paar Stellen, die wir wiederholen mußten, ging es glatt. Frau Janauschek hat früher schon oft hier gesungen, und jedermann schüttelte ihr die Hand vor Freude, daß sie wiederkam.

Gegen uns war der Herr Dirigent und die andern Herrn auch sehr freundlich, und sie schienen sichtlich erstaunt über das, was unser Gottlob kann. Wir speisten bei der Familie, und dann machte man in zwei Wagen eine herrliche Spazierfahrt hinaus durch Tannenwälder und Wiesen bis zu einem Wasserfall und wieder zurück. O Trude, Du glaubst nicht, wie köstlich die Luft war nach der letzten Hitze, die wir daheim hatten! Ich atmete wieder auf wie einstens auf unserem Turm, und der Gottlobele bekam ganz glänzende Augen. Als er dem Wasserfall eine Zeitlang zugehört hatte, sagte er: »Der tut aus Moll!« worüber sich die Gesellschaft furchtbar belustigte. Alles ist für ihn eben Musik. Und nun vom Konzertabende, von dem ich Euch das Programm beilege. Mir schlug das Herz bis an den Hals herauf, und ich war sehr froh, daß nur ungefähr die Hälfte des Saales besetzt war, was die übrigen nicht freute. Vielen war es eben zu heiß im Saal, und sie zogen einen Abend im Freien vor. Aber die Leute, die da waren, nahmen die Sache ernst. Frau Janauschek sang aber auch so schön, wie ich sie selten gehört. Gottlob sah süß aus und hatte gar keine Angst.

»Warum denn auch? Ich kenn' ja die Leute alle nicht!« Mir zitterten am Anfang die Hände, und es war gut, daß jedermann auf den Kleinen sah. Der …

… »Jetzt laß mich weiterschreiben, Angelika!« sagt Frau Janauschek, die eben dazu kommt, wie ich so weit war. »Du hast den Anfang gemacht, Herzerl, und ich schildere das Konzert, und so geht's in einem Briefe hin für alle, die daheim was von uns wissen wollen,« sagt sie und nimmt mir die Feder weg.

… Also jetzt schreibe ich, die Poldl, und kann sagen, daß wir mit dem Anfang recht zufrieden sein dürfen. Sobald das Wetter wechselt, kriegen wir voll, und die Hauptsache ist, daß die Leute, die da waren, sich schon gewaltig über das Buberl verwundern. Morgen wird das alles in den Zeitungen stehen, und die Leute am nächsten Ort wissen's dann schon. Mein Mann läßt mit Handkuß sagen, daß er zufrieden gewesen ist. Auch Angelika hat ihre Sache recht gemacht, und dabei sah sie in ihrem weißen Kleid mit Rosenknosperln, die wir ihr vorgesteckt, entzückend am Klavier aus. Dem Buberl, liebe Frau Nane, haben wir – zu Ihrer Beruhigung sei's gesagt, – bei der Hitz'n das Blausamtne nicht angezogen, sondern ein gleichfalls weißes Jackett mit Hosen, was wir geschwind hier kauften. Der liebe, kleine Schatz macht seine ohnedem schon großen, schwarzen Guckerln noch viel weiter auf bei all dem Neuen, das er hier sieht.

Wie wird er erst aufschauen, wenn's einmal in die großen Orte geht und in die riesigen Kursäle. In den nächsten vierzehn Tagen sind noch Konzerte an mittelgroßen Orten, daß die Kinder sich daran gewöhnen, aber dann geht's an die bedeutenden Badeplätze, wo's auch der Mühe wert ist, und wo auch der Dina Janauschek ihre Stimme nicht vergessen ist. Mein Mann wird, sobald er alles Geschäftliche besorgt hat, in der nächsten Woche wieder heimkommen und berichten. Ob er schon etwas Klingendes mitbringen kann, ist unsicher, denn wir haben noch gar viele Ausgaben. Aber später, Frau Nane, da werden wir schon sorgen, daß Sie sich nicht mehr so arg abplagen müssen. Eine schöne Empfehlung der Frau von Werder und desgleichen eine ins Stadtpfarrhaus. Der guten Frau Maier aber einen schönen Gruß, und sie soll fein darauf Obacht geben, daß ihre Hausfrau über dem Handschuhwaschen das Suppenkochen nicht versäumt, und daß auch in der Suppe Knödl und ein Stück Fleisch drin liegt.

Herzlich grüßt
Leopoldine Janauschek.

N.S. Angelika wollte noch einen Schluß beifügen, aber mein Mann will noch üben. –

 

Acht Tage nach diesen Briefen war der Herr Direktor nach St. zurückgekehrt und hatte sofort Frau Nane seinen Besuch gemacht. »Es steht vortrefflich!« sagte er und rieb sich die Hände.

Frau Lindenmaier hatte diesmal vor lauter Aufregung und Erwartung ganz vergessen, das leinene Tuch vom Sofa wegzunehmen, was aber dem Herrn Direktor vollständig gleichgültig war. Sie befand sich mitten in der Arbeit, und der ganze Tisch war voll Handschuhe und Fläschchen aller Art. »Also, sitzen und hören und das Geschäft ein bisserl ruhen lassen!« bestimmte er.

Nane folgte gehorsam und hörte auf zu reinigen, behielt aber einen waschledernen Offiziershandschuh übergezogen, den sie gerade bearbeitet hatte, und die zweierlei Hände, die sie andachts- und erwartungsvoll ineinandergefaltet, sahen urkomisch aus, aber niemand achtete darauf.

»Also,« begann Herr Janauschek, »das Büberl macht seine Sache gut, und die Leute sind wirklich vor Staunen ganz weg, was ich ihnen da gebracht. Daß meine Frau sich wieder hören läßt, ist auch ein Ereignis, und die Angelika mit ihrem hübschen Gesichterl läuft so mit.«

»Ja, genügt denn auch ihr Klavierspiel?« fragte Nane zaghaft. Das Lob vom hübschen Gesicht schien ihr nicht das Wichtigste.

»Aber natürlich, sonst hätt' ich sie doch nicht drangelassen. Ein bisserl schülerhaft wird's ja bei ihr immer klingen, das bringen wir nicht weg, man spürt noch alleweil das gewissenhafte Zählen bei ihr durch, wenn sie auch jetzt zum Glück nicht mehr die Lippen dabei bewegt wie am Anfang, wo sie aus dem Unterricht vom Herrn Steiner kam. Das Buberl hat's ja auch immer noch getan, aber jetzt haben wir es doch so weit, daß Genie und Feuer und Eigenes in sein Spiel hineinkommt. Ich sag Ihnen, Mutterl, an dem werden's noch was Großes erleben!«

Herr Janauschek war aufgesprungen und lief lebhaft im Zimmer auf und ab.

»Wenn er nur fein gottesfürchtig und brav und demütig bleibt,« sagte Nane und zog, nachdem sie nun so lange gewartet, den andern Handschuh doch auch über, um am Geschäft weiterzumachen. Es war in ihr Arbeiten etwas Rastloses gekommen, seit sie ihr Erspartes auf der Sparkasse hatte holen müssen. So arm wie gegenwärtig war sie eigentlich nie gewesen, und an das viele Geld, das die Kinder verdienen sollten, konnte sie vorderhand noch nicht glauben. Es sah auch nicht danach aus, denn Herr Janauschek sagte, nachdem er in seiner Lebhaftigkeit das Klavier aufgemacht, rasch ein paar Läufer darauf gespielt hatte und wieder an den Tisch zurückgekommen war: »Aber was ich noch sagen wollte, Mutterl, also mit dem Geldverdienen im ersten Konzert sah's schlecht aus, da haben wir im Gegenteil noch drauflegen müssen, aber das ist immer so! Erschreckens nur nicht! Die drei andern Konzerte, wo wir Regenwetter gehabt haben, sind schon ganz nett einträglich gewesen, und in vierzehn Tagen, in Baden-Baden, da werden Sie schauen, da fliegt's Geld nur so herein.«

Frau Nane mußte lachen, obgleich's ihr eigentlich gar nicht lächerlich zumute war, so lustige Faxen machte der Herr Direktor mit seinen Händen, als flögen die Goldstücke jetzt schon herum und er finge sie ein. Doch er mußte es ja wissen! Er und sie waren gute, liebe Menschen, die's wirklich treu mit den Kindern meinten, und sie stimmte ihm darum auch bei, als er sagte: »Jetzt, Mutterl, muß ich Ihnen aber auch noch den weiteren Plan mitteilen. Ganz unzweifelhaft könnten Ihnen die Kinder in ein paar Wochen ein nettes Sümmchen heimschicken, aber wir möchten's gern anders machen. Angelika sieht ein wenig blaß aus, und das Buberl hat halt doch das Eindrillen und scharfe Arbeiten ein bisserl mitgenommen. Da täten wir gerne alle vier mitsammen uns irgendwo noch an einem stillen, billigen Platz, wo's grün ist und Wald hat, erholen, solange es hier in der Stadt noch heiß ist. Die drei müssen halt doch recht viel Kraft haben, wenn's im Winter ihre Sach' recht machen sollen!«

Die Mutter nickte, das leuchtete ihr ein, das nahm ihr eine Sorge vom Herzen, daß die Kinder sich noch recht gründlich erholen sollten, ehe die Hauptanstrengungen anfingen. Und obgleich Nane für den ersten Oktober auf eine kleine Beisteuer zum Hauszins gehofft hatte, gab sie doch ihre volle Einwilligung zu dem Plan.

»Sie sind halt eine gescheite Frau, Mutterl,« sagte der Herr Direktor erfreut, und nachdem er freundschaftlichst ihr die Schulter geklopft, denn an die Hände traute er sich nicht hin, schickte er sich zum Gehen an. Aber unter der Tür fiel ihm noch was ein, und er kramte in seinen Rocktaschen herum.

»Ja so, bald hätt' ich ja eine Hauptsach' vergessen,« und er legte auf den Tisch kleine Häufchen von Krachmandeln, Schokolade und Zuckergebäck.

»Das hat sich unser Buberl alle Tage am Mund abgespart, daß ich's dem Mutterl mitbringen soll. Ich glaub' wirklich, der kleine Kerl hat sich gar nichts von all den guten Sachen gegönnt, denn er hat sofort beim Nachtisch alles in seine Tasche schlüpfen lassen.«

Herr Janauschek ging, um Stunden zu geben und Probe zu halten, und Nane hätte, besonders nach dem neuen Plan mit der Sommerfrische, nun schnell doppelt fleißig sein sollen. Aber einen Augenblick mußte sie nun doch aussetzen und sich das ansehen, was ihr Kind, ihr Gottlobele, ihr geschickt hatte. Achtsam wusch sie sich vorher die Hände, trocknete sie an einem reinen Tuch ab, und dann ließ sie die gelben, schwarzen und roten Stückchen fast wie liebkosend durch ihre knochigen Finger gleiten. Jedes einzelne Stück sah sie an – das Bubele hatte ja dabei an seine Mutter gedacht – und als Frau Maier etwas keuchend heraufkam, – sie hatte den Herrn Direktor fortgehen sehen und hätte doch auch gerne etwas erfahren, – da mußte auch sie die leckern Dinge bewundern, und Nane nötigte ihr eine Makrone auf, die für Frau Maiers Kauvermögen ein etwas mühseliger Genuß war. Die Mutter begnügte sich mit einem Schokoladeplätzchen, und alles andere verschloß sie dann sorgfältig in eine Blechbüchse.

»Wenn er nach Haus kommt, ißt's der Bub doch vielleicht gerne selber!« –

Der Sommer war besonders heiß, und auch noch im September lag eine drückende Schwüle über der Stadt, so daß sogar Nane, der es nicht leicht zu warm wurde, manchmal sehnsüchtig nach der alten Wohnung auf dem Turme hinaufsah. Sie hatte leider ein bißchen viel Zeit zum Denken, denn die meisten ihrer Kunden waren verreist, und wer sie besuchte, traf sie manchmal mit dem Strickstrumpf dasitzend. Wohl war ja dies auch nötig, sie und die Kinder mußten ja Strümpfe haben, aber es trug nichts ein. Es trug nichts ein, und das war für den Augenblick eine schwere Sorge. Wenn die Kinder Anfang Oktober auf vier Wochen heimkämen, so mußte doch gelebt sein, und vorher kam der Hauszins! Die Hälfte hatte sie beisammen, und sie wußte ja auch wohl, daß Frau Maier sie nie drängen würde, aber es wäre das erste Mal in ihrem Leben gewesen, daß sie hätte Schulden machen müssen, und dieser Gedanke war sehr quälend für sie.

»Lieber Gott, hilf mir, und zeig mir doch einen Ausweg!«

Diese Bitte entrang sich eines Abends Nanes Brust. Solange sie tüchtig zu schaffen gehabt hatte, fühlte sie sich nicht gar so einsam. Aber heute, wie jetzt manchmal, überkam sie ein bitteres Gefühl von Bangigkeit und Verlassensein. Sie holte ihr altes Gesangbuch mit dem silbernen Schloß, das noch von ihrer Mutter her stammte, setzte die Hornbrille auf und fing an zu lesen. Da schellte es auf einmal laut und heftig am Hause.

»Wer ist unten?« fragte Nane erschreckt und beugte sich weit hinaus.

»Ich bin's, Willi Reinhardt,« scholl eine Stimme von unten herauf, und Nane erkannte die Umrisse des jungen Mannes, den sie als Kind nebst Gertrud im Stadtpfarrhause jahrelang mit aufgezogen.

»Ist etwas bei euch geschehen?« fragte Nane ängstlich.

»Ja, Vater hat einen seiner Herzanfälle gehabt, und Mutter läßt dich bitten, ob du nicht kommen und ihr beistehen wolltest,« rief Willi mit gedämpftem Ton.

»Wart' nur, ich komme gleich,« scholl es ebenso zurück. Man mußte leise sprechen, um die Nachbarn nicht zu wecken. Kurz darauf erlosch das Licht oben, und nach ein paar Minuten rasselte der Schlüssel innen, und Nane trat heraus. Sie hatte ein leichtes Umschlagtuch um die Schultern und trug in der Hand ein Paar bequeme Schuhe »von wegen dem Wachen«.

»Was ist's denn, Willi, hat man den Doktor holen müssen?« fragte sie, und dieser berichtete, daß Vaters Herz diesmal länger als sonst schon ausgesetzt und dann wieder so heftig geschlagen habe, daß ihnen allen ganz angst geworden sei. Den Doktor habe man geholt, der nehme es nicht gerade schwer, aber man müsse doch wachen und Umschläge machen; da habe sich Mutter nach Nane gesehnt.

Diese nickte. Es tat ihr stets wohl, wenn man sie begehrte, und jetzt doppelt, wo sie sich so unnütz vorkam. Und da ihre liebe alte Frau Stadtpfarrer selber nicht ganz wohl war, so tat's not, daß eine erfahrene Person Gertrud und dem ganz jungen, unerfahrenen Dienstmädchen beistand.

Nane griff sofort an, sie war ja im Krankenpflegen bewandert, und mit Verständnis und geschickten Händen richtete und machte sie die Wickel und Umschläge, sorgte für kühlende Getränke und schüttelte die Kissen höher, daß der Kranke viel freier atmen konnte. Gegen Morgen trat Ruhe ein, und der Arzt, der in aller Frühe kam, war zufrieden, obgleich er durchblicken ließ, daß die Anfälle sich in nächster Zeit wohl wiederholen könnten, aber nicht unbedingt gefährlich seien.

»Jetzt legen sich aber die Frau Stadtpfarrer hin, daß das Kopfweh sich nicht wieder festsetzt wie so oft, – das können wir nicht brauchen,« ermahnte Nane. »Wenn's Ihnen recht ist, bleib' ich bis Mittag da, und Gertrud hilft mir, wenn's nötig ist. Nach Tisch will ich nach meinem Geschäft drüben sehen, da ist gegenwärtig in ein paar Stunden viel getan, und am Abend bin ich wieder da.«

»Du kannst aber doch nicht die zweite Nacht wachen,« beunruhigte sich die Frau Stadtpfarrer, die sich kaum mehr aufrecht halten konnte.

»Die zweite und noch etliche andere, wenn's sein müßte. Ich lieg' auch drüben in meinem Bett gar manche halbe Nacht, ohne zu schlafen,« beschwichtigte Nane. Und als sie ihre einstige Frau im kühlen hinteren Gastzimmer zur Ruhe gebracht, ihr die Tropfen zurechtgerückt und die grünen Vorhänge zugezogen hatte, setzte sie sich mit ihrem Strickstrumpf sachte an den Eßtisch, von wo aus sie in das Schlafzimmer und zu dem Kranken sehen konnte, während Gertrud in der Küche dem jungen Mädchen beim Kochen half.

Tiefe Stille ruhte draußen auf dem Kirchplatz und innen in den Räumen. Dann und wann ging Nane leise zu dem Kranken ins Nebenzimmer, der schlief, und kehrte dann ebenso leise wieder zurück. Dann, als die Turmuhr allmählich gegen Mittag rückte, stand sie auf und deckte geräuschlos den Tisch. Wie tat's ihr wohl, hier an der alten Stätte wieder einmal schalten und walten zu dürfen, wo sie einstens so ganz mit allem verwachsen war! Gertrud streckte ab und zu den Kopf herein, und als die Suppe fertig war, trug sie einen Teller voll der Mutter hinüber, brachte ihn aber wieder mit dem Bescheid, diese wolle lieber noch warten. Der Vater trank gerne und fast mit Gier die besonders kräftige Fleischbrühe, die man ihm bot, und verlangte dann auch wieder nach Ruhe. Man konnte für den Augenblick nicht viel tun. Nane machte die Türe so weit zu, daß nur noch ein kleiner Spalt offen blieb, und sie, Willi und Gertrud sowie der junge Herr Vikar, der wegen des leidenden Zustandes des Herrn Stadtpfarrers schon fast ein Jahr im Hause war, aßen nun zusammen zu Mittag. Der Schrecken der Nacht lag noch in aller Gliedern, doch begann er sich langsam zu lösen, und mit gedämpfter Stimme unterhielt man sich: »Mir ist's doch gerade, als wäre es gestern, und es sind doch schon über zehn Jahre, daß ich bei euch gewesen bin,« sagte Nane.

»Mir kommt's sehr lange vor,« meinte Willi. »Aber doch erinnere ich mich noch genau, wie böse wir über den Turmpeter waren, daß er gerade uns unsere Nane wegholte!«

Gertrud fiel ein: »Und ich war bös über mein dummes Engele, das sich nicht einmal freute, daß es die Nane als Mutter bekam, und das auf und davon lief, als man's ihm sagte!«

»Und weißt du noch, Gertrud, wie wir sie dann, laut aufschluchzend, in der Kirche im hintersten Winkel bei den alten Grabstätten fanden und so große Mühe hatten, sie mit nach Hause zu bringen, trotzdem wir ihr von dem herrlichen Verlobungskaffee und Gugelhupf sagten? Aber jetzt versteh ich's: das Kind hatte eben sein verstorbenes Mutterle über alles lieb gehabt!«

Willis Stimme klang bei diesen Worten ganz weich und entschuldigend, und Nane nickte zustimmend: »Ja, und ich war auch so ganz anders, und für Engele war's schwer, besonders als der Gottlobele kam und sie sich mit dem Brüderlein in die Liebe der Eltern teilen mußte!«

Gertrud nickte etwas wehmütig. »Wie viel hat mein Engele überhaupt schon erfahren, und wie wird's weiter in ihrem Leben?«

Es war dem schlichten Pfarrkind ein wahrer Kummer, daß die Freundin nicht auch wie sie fest und ohne solche merkwürdige Unterbrechungen zu Hause blieb.

»Hoffentlich gut!« erwiderte Willi rasch und stand auf.

Der Herr Vikar erkundigte sich dann noch eingehend bei Nane nach dem Befinden des Herrn Stadtpfarrers und bot sich dringend zur Pflege an, aber Nane meinte, so ein junger Herr, der mitten im Studieren stehe, müsse seine Nachtruhe haben; wenn's aber nötig würde, was Gott verhüten wolle, dann würde sie von seinem freundlichen Anerbieten gern Gebrauch machen.

Gertrud räumte ab, und der Herr Vikar half ihr die Stühle wieder an ihren Platz stellen, wobei Nane mahnend den Finger an den Mund legen mußte, denn der junge Mann stolperte in seinem Eifer über den Fußteppich, wobei es nicht ohne Poltern abging. Da mußten alle lachen, obgleich sie heute gar nicht dazu aufgelegt waren. Etwas verlegen fragte der höfliche Hausgenosse, ob er nicht im Garten helfen dürfe Himbeeren zum Einmachen pflücken, was Gertrud gerne annahm, denn es mußte heute sein, weil sie schon überreif waren. Nane lüftete dann noch, bettete den Kranken, der einen frischen Umschlag bekommen hatte, von neuem hoch und gab ihm wieder etwas Kräftigendes. Dabei war es zwei Uhr geworden. Sie trat ihren Platz an Willi ab, der nun den Wärterdienst übernahm und sich mit ein paar Büchern an den Tisch setzte.

»Also Willi, – du meine Güte, jetzt vergesse ich's wieder! – Herr Willi, in anderthalb Stunden muß der Herr Stadtpfarrer die Tropfen wieder haben, und dann gucken Sie manchmal …«

Nane konnte den Satz nicht vollenden, denn zwei Arme packten sie von rückwärts, und eine Hand legte sich so fest auf ihren Mund, daß sie kaum Atem holen konnte.

»Willst du gleich schweigen, du böse Nane du, mit deinem dummen, lieblosen › Herr Willi‹ und ›Sie‹? Wenn du dir das noch einmal einfallen läßt, so sage ich nie mehr anders als ›Frau Christiane Lindenmaier‹, und ich glaube dann aufs bestimmteste, daß du deinen alten Willi, den du doch auf den Armen getragen, und dem du Hunderte von Butterbroten gestrichen hast, kein bißchen mehr lieb hast!«

Nane war, nach Luft schnappend und den stürmischen jungen Mann mit Winken nach dem Nebenzimmer beschwichtigend, auf einen Stuhl gesunken. Willi aber sagte nun in wirklich eindringlichem, herzlichem Ton: »Im Ernst gesprochen, Nane, das darfst du mir nie antun, das täte mir zu weh, und ich hoffe, ich bleibe für alle Zeiten dein – euer Willi.«

Er verbesserte sich schnell, denn er dachte wohl auch dabei an die Jugendfreundin.

Nane aber gab ihm schlicht und einfach die Hand. »Also, wenn du's durchaus haben willst, ja! Aber ich bleibe dabei, passen tut sich's nicht, wenn ein so feiner junger Herr mit seiner alten Kindsmagd auf du steht!«

»Wenn aber der feine junge Herr vorderhand hobelt und sägt und tapeziert und durchaus nicht weiß, ob er's sein Lebtag über den Arbeiter hinauf bringt?«

»Dann ist er alleweil noch der Sohn des Stadtpfarrers und mit dem, was er gelernt hat, weit, weit über solch einem einfachen Handschuhwaschweiblein!« Aber Nane mußte jetzt selber ein bißchen lächeln dabei und machte darum, daß sie möglichst schnell, soweit es die Vorsicht vor einem erneuten Gerumpel gestattete, aus der Stube kam, denn sie traute Willi nicht, der schon wieder drohend den Finger erhoben hatte.

Als Nane draußen war, nahm Willi ein Buch und las scheinbar darin, aber nach einiger Zeit merkte er, daß er's verkehrt gehalten hatte, und es umdrehend, murmelte er unmutig:

»Wie man auch nur so zerstreut sein kann!«

Drüben, über der Straße, harrte Frau Maier schon unter der Ladentür auf Nane und wollte wissen, wie es stehe. Diese berichtete, daß der Anfall zwar wieder vorüber sei, aber daß wohl für einige Zeit noch Fürsorge und Pflege nötig sein werde.

»Da hat man Sie einmal wieder geholt,« sagte Frau Maier etwas verstimmt, aber sie war zu gutmütig, als daß der Aerger lange angehalten hätte. »Ließ mich auch lieber von Ihnen pflegen als von so einer fremden Schwester, die nicht gix und nicht gax bei einem weiß. Aber jetzt trinken Sie einen Kaffee mit mir, ehe Sie hinaufgehen. Die Läden bei Ihnen oben habe ich heute früh geschlossen, daß die Sonne nicht reinscheint. Die aufgehängten Handschuhe hätt' ich Ihnen gern vom Seil genommen, daß sie nicht hart werden, aber das konnt' ich nicht, sonst hätten nachher alle mein Nudeln nach Benzin gerochen. Aber kommen Sie jetzt nur herein und setzen Sie sich, 's gibt noch eine Ueberraschung.«

Nane nahm erwartungsvoll Platz an dem Tisch mit der rot und blau gewürfelten Decke, und Frau Maier goß aus der braunen, dickbauchigen Kaffeekanne in die bereitgestellten weißen Tassen ein. Dann, als Zucker und Milch genommen war und Nane die angebotene Brezel gehorsam einzubrocken anfing, zog Frau Maier aus ihrer großen Schürzentasche triumphierend eine zusammengefaltete Zeitung heraus.

»Jetzt passen Sie einmal auf!«

Nachdem Nanes Geduld noch auf eine harte Probe gestellt worden war, da Frau Maier ihre Brille nach unsagbar langem Suchen an allen erdenklichen und unerdenklichen Orten schließlich auf ihrer Nase schon bereit sitzend entdeckte, ward endlich das Blatt entfaltet, und sie las:

 

»Wiesbaden, den 1. September 19..

Die heurige Herbstkurzeit wurde durch ein Konzert eingeleitet, das uns des Erfreulichen mancherlei brachte. Nach einer Unterbrechung von drei Jahren hatten wir wieder das Vergnügen, Frau Dina Janauschek hier zu begrüßen, und erquickten uns, wie einst, an ihren perlklaren Tönen und Liedern und ihrer so unendlich frischen und sicheren Auffassung. Sie teilte den Erfolg des Abends aber mit einem von ihrem Gatten und ihr entdeckten und von ihnen ausgebildeten jungen Geigenkünstler, der wirklich Hervorragendes leistete. Der erst achtjährige Peter Benedikt Linden … Linden …«

 

Frau Maier räusperte sich und nahm die Brille ab, denn sie glaubte nicht richtig zu sehen.

»Was lesen Sie? O bitte noch einmal! Es wird doch nicht wirklich so dastehen?«

Nane sah ganz ängstlich auf die Vorlesende, die, nachdem sie ihre Brille wieder aufgesetzt, von neuem begann: … »Der erst achtjährige Peter Benedikt Linden beherrscht seine Geige in einer Weise, daß man nur staunen muß. Dabei ist Wärme und Seele in dem Spiel, die nicht nur aus den Saiten, sondern auch aus den merkwürdigen tiefen, dunkeln Augen des schmächtigen kleinen Künstlers spricht, so daß, unterstützt von dem sicheren und braven Spiel seiner ihn begleitenden Schwester, einer auffallend hübschen Blondine, den beiden Geschwistern ein rauschender und wohlverdienter Beifall zuteil wurde. Wir sehen dem baldigen Wiederkommen und der Weiterentwicklung des Benedikt Linden mit Spannung und Freuden entgegen.« –

»Benedikt Linden, Benedikt Linden!« Nane saß, anstatt sich über die vorzüglichen Nachrichten zu freuen, vollständig geknickt da.

»Jetzt haben sie mir's doch angetan, daß sie einen andern Namen angeben, als unsern alten, ehrlichen, und mir ist's, als ob mein Kind gar nicht mehr mir gehörte.«

Sie blieb dabei, auch als Frau Maier sie damit trösten wollte, ›es sei ja nur ein bißle vorne was hingesetzt und hinten was weggelassen worden‹, obgleich gerade sie im Grunde des Herzens sich am gekränktesten fühlte, daß man die Endsilben »maier« gestrichen hatte. Nane war auch außerdem noch darüber unglücklich, daß man den Buben um ein Jahr jünger gemacht hatte. »Nichts als Lug und Trug und Unwahrheit! Dabei kann kein Segen sein!« sagte sie tief traurig.

Den beiden Frauen war ein dicker Wermutstropfen in den Kaffee gefallen, und die inzwischen recht weich gewordenen Brezelbrocken dünkten Nane hart und schmeckten ihr gar nicht mehr. Nachdem sie bei Frau Maier sich bedankt, ging sie hinauf in ihre Stube. Wie einsam kam ihr diese heute vor! Trotz des heißen Wetters draußen fröstelte es sie. Es war ihr auf einmal, als seien die Kinder ihr viel, viel weiter entrückt als bisher, als habe sich etwas dazwischen geschoben, was vorher nicht dagewesen. Auch das eifrigste Arbeiten vermochte nicht die trüben Gedanken zu verscheuchen, so daß sie ganz froh war, abends wieder abschließen und ins Stadtpfarrhaus hinübergehen zu dürfen.

Die nächsten Tage verflossen dort ziemlich ruhig. Der Kranke hatte sich wieder erholt, aber doch gab es immer noch zu pflegen und acht zu geben, denn der Anfall konnte stündlich wiederkehren, und es war für alle eine große Beruhigung, daß Nane bei ihnen schlief, und zwar aus verschiedenen Gründen, denn die Frau Stadtpfarrer litt noch immer an Kopfweh und zeitweiliger Schwäche. Sie war deshalb auch so dankbar, daß Nane ihr gerade jetzt, in der Einmachzeit, wo es in Garten und Haus besonders viel zu tun gab, half, und Gertrud war doppelt froh darüber. Es gab Dinge, von denen sie gerade gegenwärtig mit Vater und Mutter nicht sprechen konnte, und die doch ihr ganzes Herz erfüllten. Sie und der Herr Vikar hatten sich lieb, und neulich beim Beerensammeln, als er ihr wieder seine Hilfe angeboten, hatte er ihr's gesagt und sie gefragt, ob sie wohl seine Frau werden wolle. Und die beiden waren darüber mit ganz leeren Körben heimgekommen, und Nane hatte doch schon den Zucker geläutert, um möglichst rasch die Früchte einkochen zu können. Das war recht ungeschickt. Gertrud war doch sonst so zuverlässig. Aber Nane brauchte nicht mehr zu fragen, wo die Beeren geblieben seien. Gertrud fiel ihr um den Hals, und der Korb flog in eine Ecke. Der Herr Vikar, der den seinigen mit einigen kümmerlichen Früchten noch krampfhaft in der Hand hielt, war verlegener als je, und um möglichst rasch in seine Stube gelangen zu können, stellte er ihn auf den Herd, weil ihm dieser am nächsten lag. Die gute Nane aber kam in den folgenden fünf Minuten in heiße Bedrängnis zwischen braun gewordenem Zucker, angekohlten Weiden und einem Geständnis.

»O Nane, ich hab' ihn so furchtbar gern!«

»Ja ja, Kind, er ist auch brav, und ich hab's ja kommen sehen, und ich freue mich, weiß Gott, darüber, aber ich meine, wir warten noch ein paar Tage, bis es dem Vater wieder besser geht, ehe wir weiter davon sprechen. Gelt?«

Gertrud nickte ein bißchen beschämt: »Ich weiß gar nicht, wie das so schnell gekommen ist. Aber Vater geht es ja gottlob jetzt viel besser, und er hat Fritz ja auch so lieb.«

Sie und Nane öffneten nun aber vor allem die Fenster, um den Rauch hinauszulassen, und als der Zucker mit Wasser gelöscht war und sie den angebrannten Korb ins Freie gestellt hatten, da setzten sich die beiden zusammen, Nane auf den Küchenstuhl, Gertrud auf einen Schemel, und stellten fest, daß man erst in etlichen Tagen, wenn mit Gottes Hilfe wieder alles gut gehe, mit den Eltern von der Sache sprechen wolle.

Nane kam's fast wie ein Unrecht vor, daß sie eingeweiht war und Vater und Mutter noch nicht. Aber die jungen Leute waren so glücklich, jemand zu haben, der um ihr Geheimnis wußte, mit dem sie sprechen konnten, und der es in treuem, gutem Herzen bewahrte.

»Nane ist uns fast wie eine zweite Mutter,« sagte Gertrud zu ihrem Fritz, und Willi nickte dazu. Gertrud wollte Engele von dem Vorfall schreiben, aber das litt Nane nicht.

»Jetzt sind die Eltern die nächsten, die's erfahren müssen, 's ist so schon ein großer Fehler, daß ihr's so weit kommen ließet, ohne daß man es ihnen sagen kann!«

»Daran sind die Beeren schuld,« sagte Gertrud etwas schmollend. »Warum sind diese auch gerade jetzt reif geworden?«


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