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Donum mansit – lanam fecit.
Alte römische Grabschrift.
Sie bleibet fein zu Haus und drehet an dem Rad.
Gawan Douglas.
Die Zeit, welche so unmerklich über unsere Häupter dahin zieht, ändert eben so allmählig Gewohnheiten, Sitten und Charactere, wie die Gestalt einer Person. Je nach Ablauf von fünf Jahren findet der Mensch, daß er ein anderer geworden und doch derselbe geblieben ist. Das was wir vor Augen haben, ist nicht mehr das Frühere, und eben so wenig das Licht, in welchem wir es betrachten. Beweggründe sowohl wie die Handlungsweise wechseln. Beinahe das Doppelte dieser Zeit war über den Häuptern von Halbert Glendinning und seiner Gemahlin dahingegangen zwischen dem Augenblick, wo unsere vorige Erzählung, in welcher sie eine ausgezeichnete Rolle spielten, schließt, und zwischen demjenigen, wo unsere gegenwärtige Geschichte beginnt.
Nur zwei Umstände hatten ihr häusliches Glück verbittert, welches außerdem so groß war, als wechselseitige Zuneigung es machen konnte. Der erste dieser Umstände war das gemeinsame Unglück Schottlands, die Spaltungen, in welchen Jedermanns Schwert wider seines Nächsten Busen gerichtet war. Glendinning hatte den Erwartungen Murrays entsprochen, hatte sich als einen standhaften Freund, einen tüchtigen Krieger und einen weisen Rathgeber bewährt, als Einen, der aus Dankbarkeit auf seiner Seite stand in Fällen, wo er außerdem auf keiner oder auf der entgegengesetzten Seite gestanden haben würde. Daher kam es, daß bei Annäherung der Gefahr (und sie war selten fern) der Ritter Halbert Glendinning immer aufgeboten wurde, um seinen Gönnern auf fernen Heerfahrten oder bei gefährlichen Unternehmungen zu begleiten, oder ihm mit seinem Rathe beizustehen unter den bedenklichen Ränken eines halb wilden Hofes. Und so war er oft und lange von seiner Burg und von seiner Frau entfernt. Dazu kam zweitens, daß ihre Verbindung nicht mit Kindern gesegnet war, so daß die Frau von Avenel Niemand hatte, der ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, wenn sie so die Gesellschaft ihres Gemahls entbehrte.
Bei solchen Gelegenheiten lebte sie fast ganz abgeschieden von der Welt in den Mauern ihrer väterlichen Behausung. Von Besuchen bei Nachbarn war keine Rede, ausgenommen an hohen Festtagen und auch dann nur bei nahen Verwandten. Diese waren aber von Seiten der Frau von Avenel ausgestorben. Die Damen der benachbarten Freiherren gaben sich das Ansehen, als betrachteten sie Frau Marien weniger als die Erbin von Avenel, denn als die Gattin eines Bauers, des Sohnes eines Kirchhintersaßen, eines durch die launenvolle Gunst Murrays emporgekommenen Glückspilzes. Zu diesem Ahnenstolz des Landadels, welchen die Frauen keineswegs verhehlten, kam noch die politische Feindschaft. Die meisten Häuptlinge im Süden hingen der Königin an und waren eifersüchtig auf Murray's Macht. Schloß Avenel war aus all' diesen Gründen für eine Frau der trübseligste und einsamste Wohnsitz, der sich nur denken ließ. Dagegen hatte es den wesentlichen Vortheil großer Sicherheit. Der Leser der früheren Erzählung weiß, daß die Burg auf einem Eilande in einem kleinen See erbaut und nur auf einem, durch zwei Zugbrücken vertheidigten, Damm zugänglich war, so daß es, falls keine Feuerschlünde dagegen angewandt wurden, als uneinnehmbar gelten konnte. Man mußte sich nur vor einem Ueberfall wahren, und einen solchen zu verhüten, dazu reichten sechs Mann in der Burg hin. Drohte eine ernstere Gefahr, dann ward das Schloß stärker besetzt durch die Bewohner eines Weilers, welcher unter Halbert's Obsorge emporgestiegen war auf einem ebenen Fleck zwischen dem See und dem Berg in der Nähe des Dammes. Einwohner hatte der Herr von Avenel leicht dazu gefunden, weil er nicht nur ein freundlicher, wohlwollender Oberherr, sondern auch vermöge seiner Waffenfertigkeit, Weisheit und Redlichkeit, und durch die Gunst, in welcher er bei dem mächtigen Grafen von Murray stand, vollkommen geeignet war, diejenigen zu schirmen, welche unter seinem Banner wohnten. Wenn er also seine Burg auf längere Zeit verließ, so hatte er wenigstens den Trost, daß sein Dorf jeden Augenblick dreißig handfeste Männer stellen konnte, welche mehr als hinreichend waren, es zu vertheidigen. Trat ein solcher Fall wirklich ein, dann suchten die Familien der Bauern Zuflucht in den Bergen, nahmen ihr Vieh an diese sicheren Orte mit und überließen dem Feind, mit ihren elenden Hütten zu machen was er wollte.
Nur einen gewöhnlichen, wenn nicht ständigen, Gast gab es auf Schloß Avenel, nämlich den Prediger Heinrich Warden. Er fühlte sich nicht mehr stark genug für die schwere Aufgabe, welche den Reformatoren oblag. Ueberdem hatte er durch seinen Eifer manchen großen Herrn beleidigt, so daß er sich nicht anders sicher glaubte, als innerhalb der Mauern des festen Hauses eines sicheren Freundes. Doch unterließ er nicht, seiner Sache noch immer eben so eifrig mit der Feder zu dienen, wie früher mit der Zunge, und auf diesem Wege führte er einen hitzigen Streit über das Meßopfer mit dem Abt, ehemals Subprior, Eustachius von Kennaquhair. Antworten, Repliken, Dupliken, Tripliken, Quadrupliken folgten ununterbrochen aufeinander und entfalteten, wie es bei solchen Streitigkeiten gewöhnlich ist, eben so viel Eifer wie christliche Liebe. Dieser Streit machte bald eben so viel Aufsehen, wie der Federkrieg des Johann Knox mit dem Abt von Crosraguel, war beinahe eben so wüthend und förderte Werke zu Tage, welche in den Augen von Bibliographen vermuthlich eben so werthvoll sind Die Abhandlungen, welche in dem Streit zwischen dem schottischen Reformator und Quentin Kennedy, dem Abt von Crosraguel, erschienen, gehören zu den seltensten Stücken in der schottischen Bibliographie. Siehe Mac Crie's Leben von Knox S. 258.. Eine solche Beschäftigung aber machte den Theologen nicht zum angenehmsten Gesellschafter für eine einsame Frau, und ein ernstes, rauhes, gedankenvolles Wesen, wobei er selten an irgend Etwas Antheil nahm, was nicht mit seinem Beruf in Verbindung stand, vermehrte eher die Düsterheit, welche auf Schloß Avenel ruhte. Die Arbeiten einer großen Zahl von Mägden zu überwachen, war die Hauptbeschäftigung der Frau von Avenel, außerdem beschäftigte sie der Spinnrocken, die Bibel und ein einsamer Spaziergang hinter den Brustwehren des Schlosses oder auf dem Damm, oder – was seltener der Fall war – am Ufer des kleinen Sees. Die Unsicherheit war damals so groß, daß, wenn sie sich über das Dörfchen hinauswagte, der Burgwart auf dem Thurm Befehl hatte, genau nach allen Richtungen hin zu spähen, und daß vier oder fünf Mann bereit sein mußten, auf das geringste Anzeichen einer Gefahr hin aufzusitzen und auszureiten.
So stand es auf dem Schloß, als einst der Ritter von Avenel (wie Herr Halbert Glendinning gewöhnlich genannt wurde) nach einer Abwesenheit von mehreren Wochen zu Hause erwartet wurde. Ein Tag nach dem andern verging, und er kehrte nicht zurück. Briefe wurden damals selten geschrieben, und hätte der Ritter auf diesem Wege eine Mittheilung machen wollen, so hätte er einen Schreiber zu Hülfe nehmen müssen. Ueberdem waren Wege und Stege unsicher, und Jedermann hütete sich Zeit und Ziel einer Reise bekannt zu machen, weil er dann immer darauf rechnen durfte, unterwegs mehr Feinde als Freunde anzutreffen. Eben darum war der Tag von Herrn Halberts Rückkehr nicht bestimmt; derjenige jedoch, auf welchen die Zärtlichkeit seiner Gemahlin gerechnet hatte, war längst verstrichen, und getäuschte Hoffnung begann ihr Herz krank zu machen.
Es war am Abend eines heißen Sommertages, um die Zeit, wo die Sonne eben hinter den fernen westlichen Bergen von Liddesdale untergehen wollte, daß die Frau von Avenel ihren einsamen Spaziergang an den Brustwehren einer Reihe von Gebäuden machte, welche die Vorderseite der Burg bildeten, und auf deren geplattetem Dach man bequem umherwandeln konnte. Die Spiegelfläche des Sees, nur selten durchfurcht von einer Kriechente oder einem Wasserhuhn, war von den Strahlen der Abendsonne vergoldet und warf das Bild der Berge zurück, von welchen er eingeschlossen war. Die übrigens einsame Scene war belebt durch die Stimmen der Kinder in dem Dorfe, welche, durch die Entfernung gemildert, das Ohr der Frau erreichten, oder durch den Ruf des Hirten, der sein Vieh aus der Schlucht, wo es den Tag über geweidet hatte, um größerer Sicherheit willen für die Nacht in die Nähe des Dorfes trieb. Das Brüllen der Kühe schien die Milchmädchen herbeizurufen, die mit lustigem, gellendem Gesang, jede ihren Eimer auf dem Kopf, herauskamen, ihr Abendgeschäft zu besorgen. Die Frau von Avenel schaute und horchte. Die Töne welche sie vernahm, erinnerten sie an frühere Tage, wo ihr wichtigstes Geschäft und zugleich ihre größte Lust gewesen war, der Dame Glendinning und der alten Tibb Tacket zu helfen, die Kühe zu Glendearg zu melken. Diese Erinnerung erweckte in ihr schwermüthige Empfindungen.
»Warum war ich nicht,« sprach sie, »das Bauermädchen, wofür mich Jedermann ansehen mußte! Halbert und ich, wir hätten dann unser Leben friedlich in der Schlucht hingebracht, wo er geboren war, ungestört durch die Trugbilder der Furcht und des Ehrgeizes. Sein größter Stolz wäre dann gewesen, die schönste Heerde im Stift aufzuweisen; seine größte Gefahr, einen diebischen Schnapphahn von der Grenze zurückzutreiben, und die größte Entfernung, welche uns getrennt hätte, wäre durch die Jagd eines verlaufenen Stücks Wild veranlaßt worden. Was hilft das Blut, welches Halbert vergossen? wozu nützen die Gefahren, welchen er sich aussetzt, um einen Namen und Rang zu behaupten, der ihm theuer ist, weil er ihn von mir hat, den wir aber nie auf eine Nachkommenschaft bringen werden! Denn mit mir hört der Name Avenel auf.«
Sie seufzte bei diesen Betrachtungen. Indem sie nach dem Seeufer hinsah, ward ihr Blick durch eine Gruppe Kinder von verschiedenem Alter gefesselt, welche versammelt waren, die erste Fahrt eines kleinen, von einem Künstler des Dorfes verfertigten Schiffes mit anzusehen. Es wurde vom Stapel gelassen unter dem Jauchzen und Händeklatschen der Kleinen und segelte rasch dahin mit einem günstigen Wind, welcher es auf die andere Seite des Sees zu bringen versprach. Einige der größeren Knaben liefen längs dem Ufer her, um es am jenseitigen Ufer in Empfang zu nehmen und in Sicherheit zu bringen, und suchten sich einander zuvorzukommen, indem sie wie Hirschkälber am steinigen Rand des Sees hin sprangen. Die Uebrigen, denen eine solche Reise zu beschwerlich war, blieben zurück und beobachteten die Bewegungen des Feenschiffchens von dem Ort aus, wo es in's Wasser gelassen worden war. Der Anblick dieser Lust fiel der kinderlosen Frau von Avenel schwer aufs Herz.
»Warum gehört keiner dieser unschuldigen Plauderer mir?« fuhr sie im Lauf ihrer schwermüthigen Betrachtungen fort. »Ihre Eltern können kaum die ärmlichste Nahrung für sie auftreiben, und ich, die ich ihnen Speise die Fülle geben könnte, ich bin verurtheilt, nie ein Kind mich Mutter nennen zu hören!«
Dieser Gedanke fiel ihr aufs Herz mit einer Bitterkeit, welche fast Neid war, so tief ist der Wunsch nach Kindern der weiblichen Brust eingepflanzt. Sie drückte ihre Hände zusammen, als ränge sie dieselben im Uebermaß von Trostlosigkeit, wie Eine, von der im Buch des Schicksals geschrieben stand: »kinderlos.« In diesem Augenblick kam ein großer schlanker Hund herbei, leckte ihr die Hand und drückte seinen langen Kopf gegen dieselbe. Er erhielt dafür die begehrte Liebkosung, allein die Beschäftigung mit dem Thier verscheuchte bei Frau Maria nicht die traurigen Empfindungen.
»Wolf« sagte sie, als ob das Thier ihre Klagen verstehen könnte, »du bist ein herrliches Thier, aber die Liebe und Zuneigung, welche ich geben möchte, sind höherer Art, als dir zu Theil werden kann, obwohl ich dich sehr gern habe.«
Und als wollte sie sich gegen Wolf entschuldigen, daß sie ihm einen Theil ihrer Zuneigung vorenthalte, streichelte sie einen stolzen Kopf und Hals, und er, ihr in die Augen sehend, schien zu fragen, was ihr fehle, oder was er thun könne, um seine Anhänglichkeit zu zeigen. In diesem Augenblick ward ein Nothschrei vom Ufer gehört aus dem Häuflein der spielenden Kinder, welche eben noch so lustig gewesen waren.
Das Schiffchen, der Gegenstand des Entzückens und der Aufmerksamkeit der Kinder, war in den Büschen von Wasserlilien auf einer Untiefe einen Pfeilschuß weit vom Ufer festgefahren. Ein verwegener kleiner Knabe, welcher der Vorderste gewesen war unter denen, die um den See herumliefen, besann sich keinen Augenblick, zog seinen Rock aus, stürzte sich in's Wasser und schwamm auf den Gegenstand der allgemeinen Sorge zu. Die erste Regung der Frau von Avenel war, um Hülfe zu rufen. Allein da sie sah, daß der Knabe sicher und furchtlos schwamm, und daß zwei Dorfbewohner, welche von ferne zusahen, seinetwegen keine Besorgniß blicken ließen, glaubte sie, er sei seiner Kunst Meister, und fürchtete weiter keine Gefahr. Aber sei es, daß der Knabe mit der Brust wider einen verdeckten Felsen gestoßen war, oder daß er den Krampf bekommen, oder daß er seine Kraft überschätzt hatte – genug, als er das Spielzeug aus dem Schilf los gemacht hatte, daß es weiter fahren konnte, und einige Schritte zurückgeschwommen war, richtete er sich plötzlich im Wasser auf, schrie laut und schlug in Angst und Schmerz die Hände zusammen.
Frau von Avenel rief erschrocken ihren Dienern zu, sie sollten den Kahn nehmen. Aber dies erforderte einige Zeit. Der einzige Kahn, welcher auf dem See fahren durfte, lag angebunden in dem zweiten Durchstich des Dammes, und es dauerte einige Minuten, bis er losgemacht war und fortruderte. Frau Maria sah mit Angst die Anstrengungen, welche der Knabe machte, um sich über dem Wasser zu halten, und wie dieselben in ein schwaches Zappeln übergingen, welches bald ein Ende genommen haben würde, wäre nicht schnelle und unverhoffte Hülfe gekommen. Wolf, der, wie manche große Hunde seiner Art, ein guter Schwimmer war, hatte den Gegenstand der Besorgniß seiner Herrin bemerkt, lief von ihr weg und suchte die nächste Stelle, von wo aus er sicher in den See springen konnte. Mit dem wunderbaren Instinct, welchen diese herrlichen Thiere bei so vielen Gelegenheiten bewährt haben, schwamm er geradeswegs auf den Fleck zu, wo seine Hülfe so sehr nöthig war, faßte des Knaben Unterkleid und hielt ihn nicht nur über dem Wasser, sondern zog ihn auch nach dem Damm hin. Der Kahn mit zwei Männern besetzt, begegnete dem Hund auf halbem Weg und nahm ihm seine Bürde ab. Man landete am Damm dicht beim Burgthor, an welchem Frau von Avenel mit zwei Mägden bereit stand, dem bewußtlosen Kind die nöthige Hülfe zu leisten.
Der Knabe wurde ins Schloß gebracht, auf ein Bett gelegt, und alle Mittel ihn ins Leben zurückzurufen angewendet, welche die Kenntnisse jener Zeit und die Geschicklichkeit von Heinrich Warden an die Hand gab. Einige Zeit lang war Alles vergebens, und Frau von Avenel betrachtete mit unaussprechlicher Sorgfalt das blasse Gesicht des schönen Kindes. Es schien zehn Jahre alt zu sein. Seine Kleidung war von der geringsten Art, aber sein langes Lockenhaar und seine edeln Züge stimmten nicht zu dieser Aermlichkeit. Der stolzeste Landherr Schottland's würde noch stolzer gewesen sein, hätte er dies Kind seinen Erben nennen können. Während Frau von Avenel, vor Angst kaum athmend, ihren Blick auf dem wohlgebildeten ausdrucksvollen Gesicht ruhen ließ, kehrte ein leichter Anflug von Röthe auf dasselbe zurück, das unterbrochene Athmen begann sich wiederherzustellen, das Kind holte einen tiefen Seufzer und öffnete die Augen, was beim menschlichen Antlitz dieselbe Wirkung hervorbringt, wie das Licht auf eine Landschaft, streckte seine Arme nach der Edelfrau aus und flüsterte das Wort »Mutter,« das theuerste für ein weibliches Ohr.
»Gott,« sagte der Prediger, »hat das Kind nach Eurem Wunsch in's Leben zurückgerufen. An Euch ist es, dasselbe zu erziehen, damit es nicht dereinst wünschen muß, es möchte in seiner Unschuld umgekommen sein.«
»Das werde ich auf mich nehmen,« versetzte die Edelfrau, umarmte den Knaben und erstickte ihn fast mit Küssen und Liebkosungen, so aufgeregt war sie durch den Schrecken über die kaum überstandene Gefahr und durch die Freude über die unverhoffte Rettung.
»Ach, Ihr seid ja nicht meine Mutter,« sprach der Knabe, als er wieder ganz zur Besinnung gekommen war, und suchte sich den Liebkosungen der Frau von Avenel zu entziehen. »Ihr seid nicht meine Mutter. Ach, ich habe keine Mutter, – ich habe bloß geträumt, ich hätte eine.«
»Ich will deinen Traum auslegen, liebes Kind,« erwiderte die Edelfrau; »ich will deine Mutter sein. Sicherlich hat Gott meine Wünsche erhört und mir in einer wunderbaren Weise einen Gegenstand meiner zärtlichen Gefühle zukommen lassen.«
Sie sah bei diesen Worten den Prediger an. Warden wußte nicht recht, was er auf einen Ausbruch leidenschaftlichen Gefühls entgegnen sollte, welches ihm heftiger vorkam, als der Anlaß erforderte. Mittlerweile saß Wolf, der von Wasser triefend seiner Herrin in das Gemach gefolgt war, neben dem Bett und hatte ruhig den Bemühungen zugesehen, welche gemacht worden waren, das von ihm gerettete Wesen ins Leben zurückzurufen. Da man aber, auch nachdem dies gelungen war, ihn noch immer keiner Aufmerksamkeit würdigte, ward er ungeduldig und begann zu winseln und mit seinen großen Pfoten an der Edelfrau hinaufzuspringen.
»Ja, guter Wolf,« sagte sie, »du sollst auch bedacht werden für dein heutiges Werk. Ich will um so mehr an dich denken, da du das Leben eines so schönen Geschöpfes gerettet hat.«
Aber Wolf war nicht zufrieden mit der Aufmerksamkeit, die ihm so zu Theil ward. Er fuhr fort zu winseln und an seiner Herrin hinaufzuspringen, wobei sein durchnäßtes zottiges Haar seine Schmeicheleien noch unangenehmer machte. Endlich hieß Frau von Avenel einen ihrer Diener, mit welchem das Thier vertraut war, es hinauslocken. Wolf widerstand allen Lockungen und ging nicht von der Stelle, bis seine Herrin ihm zornig befahl, sich zu entfernen. Da wandte der Hund sich gegen das Bett, auf welchem der Knabe mit halbem Bewußtsein lag, knurrte grimmig, zog die Nase und die Lefzen in die Höhe, zeigte das volle Gebiß seiner weißen scharfen Zähne, welches dem eines wirklichen Wolfes wenig nachgegeben haben möchte, drehte sich dann um und folgte mürrisch dem Diener aus dem Gemache.
»Sonderbar!« sagte die Edelfrau zu Warden. »Das Thier ist sonst nicht nur überhaupt so gutmüthig, sondern es hat auch besonders die Kinder so gern. Was kann er gegen das kleine Kerlchen haben, dem er das Leben gerettet?«
»Die Hunde,« antwortete der Prediger, »gleichen nur zu sehr den Menschen in ihren Schwächen, obwohl ihr Naturtrieb sie weniger irre leitet, als die Vernunft den armen Sterblichen, wenn dieser sich auf die eigne Kraft verläßt. Eifersucht, gnädige Frau, ist eine denselben nicht fremde Leidenschaft, und oft legen sie dieselbe an den Tag nicht nur, wenn Wesen ihrer Art von ihren Herren bevorzugt werden, sondern auch, wenn Kinder ihre Nebenbuhler sind. Ihr habt das Kind viel und stürmisch geliebkoset, und der Hund betrachtete sich als einen bei Seite gesetzten Günstling.«
»Ein sonderbarer Naturtrieb!« sprach die Edelfrau. »Aus dem Ernst, mit welchem Ihr, ehrwürdiger Freund, von der Sache redet, möchte ich fast schließen, daß Ihr die sonderbare Eifersucht meines Lieblings Wolf für wohlbegründet, ja sogar für gerechtfertigt haltet. Doch ihr scherzt vielleicht?«
»Ich scherze selten,« antwortete der Prediger. »Das Leben ist uns nicht verliehen zu eitler Lust, welche dem Knistern von Dornen unter dem Topf gleicht. Ich wünschte nur, daß Ihr Euch gefallen ließet, aus dem, was ich gesagt habe, die Lehre zu ziehen, daß unsere besten Gefühle, wenn wir ihnen im Uebermaße nachhängen, für Andere peinlich werden können. Nur eins ist, dem wir vollkommen freien Lauf lassen dürfen, ohne je ein Uebermaß zu befürchten – ich meine die Liebe zu unserm Schöpfer.«
»Aber derselbe Wille, welcher diese von uns fordert, gebietet uns doch auch, unseren Nächten zu lieben?« wandte die Edelfrau ein.
»Freilich, werthe Frau,« versetzte Warden. »Aber der Liebe zu Gott sind keine Grenzen gesetzt, ihn sollen wir lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und aus allen Kräften. Das Gebot der Nächstenliebe ist mit einer deutlichen näheren Bestimmung und Beschränkung gegeben: wir sollen unseren Nächsten lieben, als uns selbst, so wie es anderwärts erklärt ist durch das große Gebot, daß wir ihm thun sollen, was wir wollen, daß er uns thun möge. Hier ist eine Grenze und Schranke selbst unsern preiswürdigsten Neigungen gesetzt, insofern sie auf irdische Gegenstände gerichtet sind. Wir sollen unserem Nächsten, von welchem Rang und Stand er auch sein mag, so viel Zuneigung erweisen, als wir vernünftiger Weise an seiner Stelle wünschen könnten. Demnach kann weder Gatte noch Gattin, weder Sohn noch Tochter, weder Freund noch Verwandter erlaubter Weise zum Gegenstand unserer Anbetung gemacht werden. Der Herr unser Gott ist ein eifriger Gott; er duldet nicht, daß wir dem Geschöpf diejenige Hingebung erweisen, welche Er, der uns gemacht, als seinen Antheil verlangt. Ich sage Euch, gnädige Frau, selbst in den schönsten, reinsten, ehrenhaftesten Gefühlen unserer Natur findet sich der ursprüngliche Flecken der Sünde, welcher uns veranlassen sollte, innezuhalten und zu überlegen, bevor wir denselben nachhängen.«
»Ich verstehe das nicht, ehrwürdiger Herr,« sprach die Edelfrau, »und ich kann nicht errathen, was ich so eben gesagt oder gethan haben sollte, das mir eine nach Tadel schmeckende Ermahnung zuzieht.«
»Gnädige Frau,« versetzte Warden, »ich bitte um Verzeihung, wenn ich mehr gesagt habe, als wozu meine Pflicht mich verbindet. Ueberlegt indeß, ob Ihr mit dem Gelöbniß, diesem armen Kind nicht nur Beschützerin sondern auch Mutter zu sein, den Wünschen des edlen Ritters, Eures Gemahls, entsprechet. Die Zärtlichkeit, welche Ihr an das unglückliche und allerdings sehr liebenswürdige Kind verschwendet habt, hat in dem Benehmen Eures Haushundes eine Art Tadel gefunden. Erregt nicht das Mißfallen Eures Gemahls. Menschen sowohl wie Thiere sind eifersüchtig auf die Zuneigung derer, die sie leben.«
»Das ist zu arg, ehrwürdiger Herr,« rief die Edelfrau beleidigt, »Ihr seid lange unser Gast gewesen und habt bei dem Ritter von Avenel und bei mir diejenige Ehre und Achtung genossen, auf welche Euer Ruf und Euer Stand Euch gerechten Anspruch geben. Allein davon weiß ich Nichts, daß wir Euch je die Befugniß gegeben hätten, Euch in unsere Familienangelegenheiten zu mischen, oder daß wir Euch zum Richter unters wechselseitigen Benehmens gesetzt hätten. Ich bitte, dies künftig zu unterlassen.«
»Gnädige Frau,« entgegnete der Prediger mit der den reformierten Geistlichen jener Zeit eigenen Kühnheit, »wenn Ihr meiner Ermahnungen überdrüssig werdet, wenn ich sehe, daß meine Dienste Euch und dem edlen Ritter, Eurem Gemahl, nicht länger wohlgefällig sind, so möchte ich daraus abnehmen, daß mein Meister will, ich soll nicht länger hier weilen, und in diesem Fall will ich, um seinen Segen über Euer Haus betend, hinausziehen in jene Wüstenei, wäre es auch im tiefen Winter oder um Mitternacht, und durch diese wilden Berge wandern so einsam, aber hülfloser wie damals, wo ich zuerst mit Eurem Gemahl in der Schlucht Glendearg zusammentraf. Aber so lange ich hier bin, will ich Euch nicht von dem wahren Weg abweichen sehen, auch nicht ein Haar breit, ohne des Greises Stimme und Vorstellung vernehmen zu lassen.«
»Nein,« sagte die Frau, welche den guten Mann liebte und achtete, obwohl sein in ihren Augen übertriebener Eifer für sie zuweilen verletzend war, – »auf diese Weise wollen wir nicht von einander gehen. Weiber sind lebhaft und stürmisch in ihren Gefühlen. Aber glaubt mir, meine Wünsche und Absichten mit diesem Kind sind von der Art, daß Ihr und mein Gemahl dieselben billigen werdet.« –
Der Geistliche verbeugte sich und zog sich auf sein Zimmer zurück.