Heinrich Seidel
Die goldene Zeit
Heinrich Seidel

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

II. Wieder daheim.

Nichts ist der rührenden Sorgfalt und Ausdauer zu vergleichen, mit welcher eine Mutter ihren Sohn betrachtet, wenn er längere Zeit von ihr getrennt gewesen ist. Es scheint, als wolle sie das in Jahren Versäumte nun in kurzem desto gründlicher nachholen. Als wir nun bei dem duftenden Extrakaffee sassen, zu dem die Mutter, wie sie scherzend sagte, mir zu Ehren eine Bohne mehr genommen hatte, während ich es mir nicht nehmen liess zu behaupten, es müssten mindestens zwei gewesen sein, wurde sie nicht müde mich anzusehen und zu fragen und zu erzählen, während ich meine Augen im Zimmer umhergehen liess, wo alles so wohlvertraut und bekannt mich anlächelte und selbst die Bilder an den Wänden auf mich hinsahen, als freuten sie sich meiner Heimkehr. Ja, die prachtvollen Nelken auf den Fensterbrettern schienen mit rothen und gelben Gesichtern sich nach mir umzublicken und schienen die Köpfe zusammenzustecken und zu flüstern: »Da ist er ja, unser Sohn.« Dann kam die »sanfte Doris« herein, unser ältliches Dienstmädchen, das meine Mutter schon acht Jahre hatte. Sie lächelte sehr verschämt und reichte mir die Hand, knixte und ward roth und meinte, der junge Herr wäre so braun geworden, das käme wohl weil es in Spanien so heiss wäre. Die Dienstmädchen meiner Mutter wurden immer Doris genannt, weil sie sich an diesen Namen gewöhnt hatte, und da schon eine lange Prozession derselben durch unser Haus gewandelt war, gleich der Erscheinung im Macbeth, so wurden sie durch ein bezeichnendes Beiwort unterschieden, wenn man ihrer gedachte. Da war die »schreckliche Doris,« an deren kurze Anwesenheit sich greuelvolle Erinnerungen knüpften, und die am Arme eines Vertreters der irdischen Gerechtigkeit unser Haus verlassen hatte, um eine Zeitlang in einer Staatsspinnanstalt dem öffentlichen Wirken entzogen zu werden; da war die »donnernde Doris,« deren kräftiger Schritt das Haus erzittern machte, und deren Denkmal ein Monte Testaccio von zerbrochenem Geschirr bildete; da war die »gefühlvolle Doris,« welche weinen konnte, wann sie wollte, und eine Tyrannin war; die »schöne Doris,« welche sehr bald dem einträglicheren Ammenberufe sich zuwandte; die »geschwätzige,« die »lange,« die »dumme,« die »Soldaten-Doris,« und wie sie sonst noch hiessen. Alle aber an Ausdauer hatte unsere letzte, die »sanfte Doris« übertroffen, obwohl von ihr bis zu einem Ideale auch noch einige Siriusweiten Entfernung vorhanden waren. Insbesondere scheute sie jede anstrengende Arbeit und suchte sich einer solchen gern durch eine stets bereitwillig sich einstellende Krankheit zu entziehen. Sie pflegte dann meine Mutter etwa durch folgende, im sanftesten Tone gesprochene Erklärung zu überraschen: »Wie es nu mit die Wäsche werden soll, Frau Doctorin, das weiss ich nich – ich geh zu Bett.« Aber sonst war sie eine Seele.

Plötzlich sagte meine Mutter: »Denke mal, beinahe hätte ich unser Haus verkauft, schon vor fünf Jahren, gerade als du fortgegangen warst nach England. Ich habe dir gar nichts davon geschrieben, weil ich weiss, wie du an dem Hause hängst, und ich fürchtete, du würdest mir dennoch zureden, weil das Gebot so ausserordentlich gut war. Zwölftausend Thaler konnte ich bekommen; denke nur, als dein Vater es erwarb, hat er nur fünftausendsechshundert gegeben.«

»Wie ist das möglich?« fragte ich verwundert.

»Nun, der Amerikaner nebenan, der damals hierherzog, wollte es mit Gewalt haben, hauptsächlich des Gartens wegen. Die Zaunnachbarschaft war ihm unangenehm, und da unser kleiner Garten an der anderen Seite von dem fensterlosen Hintergebäude des Nebenhauses begrenzt ist, so hätte er sein Reich ganz für sich gehabt. Er war bei mir und wurde sehr ungnädig, als ich nicht wollte. Er konnte es absolut nicht begreifen, dass ich das Geschäft ausschlug. Zuletzt gerieth er förmlich in Wuth und lief fort. Seitdem verachtet er mich. Ich bin Luft für ihn, und wenn er in seinem Garten herumpusselt, wie es den ganzen Tag der Fall ist, denn er hat ja weiter nichts zu thun, da sieht er mich nicht. Dieses kleine Stück der Welt, welches uns gehört, ist für ihn überhaupt nicht mehr vorhanden, es könnte ebensogut in Neu-Guinea liegen oder sonstwo.«

Dies machte mich neugierig und ich fragte: »Was ist er denn eigentlich für ein Mann, der Amerikaner?«

Meine Mutter antwortete: »Ein Ungethüm ist er und zwar ein höchst sonderbares. Er stammt aus unserer Stadt und ist der Sohn des alten, längst verstorbenen Registrators Rodekamp, den du nicht mehr gekannt hast. Er war der einzige und sollte studieren, darauf hatte sein Vater sich ganz versessen, obwohl der Junge lieber zur See gegangen oder Landmann geworden wäre. Mit grosser Noth hat er denn auch das Gymnasium absolviert und ist auf die Universität gegangen. Dort hat er nun immerfort studiert und ist nicht fertig geworden, acht Jahre lang, bis ihm sein Vater nichts mehr hat geben können, weil er um diese Zeit gestorben ist. Mit dem geringen Erlöse aus dessen Nachlasse ist der junge Rodekamp, dem natürlich an dem eigentlichen Studieren gar nichts lag, nach Amerika gegangen, und da hat man lange Zeit nichts wieder von ihm gehört. Er ist übrigens einer der berühmtesten Studenten von Deutschland gewesen, soll dreiundsiebzig Duelle gehabt haben und schamlos viel Bier haben trinken können. In Jena erzählt man noch von ihm als von einem Heros der alten Zeit. Wie er sich dann in Amerika sein grosses Vermögen erworben hat, das weiss man nicht recht, darüber sind allerlei verschiedene Legenden verbreitet; die einen sagen mit Fabrikation von Stiefelwichse, ein anderer, der in Amerika war, behauptet, er habe in allen Zeitungen, ja an den Häuserwänden und selbst an Felsen, die an der Eisenbahn liegen, John Rodekamps Hühneraugenwasser angezeigt gelesen, und ein dritter wieder will wissen, er habe Geld gemacht durch einen schwungvollen Handel mit Schweineschmalz. Das Wahre aber ist, dass er vor fünf Jahren mit einer hübschen kleinen zwölfjährigen Tochter und einem, wie es scheint, ansehnlichen Vermögen aus Amerika zurückkehrte und sich hier das Nachbarhaus mit dem grossen Garten kaufte. Dort lebt er ganz allein mit seiner Tochter, einer Köchin und einem alten Diener, denn mit keinem kann er sich vertragen, und schimpft auf alles Deutsche, das Gute mit eingeschlossen. Den ganzen Garten hat er mit Zwergobstbäumen und Beersträuchern, Wein, Pfirsichen, Aprikosen und Schattenmorellen an Spalieren angepflanzt und nur am Rande einige von den schönen alten Obstbäumen von früher stehen lassen. Es ist merkwürdig, wie unter seinen Händen alles gedeiht, obwohl er ein so widerborstiger alter Geselle ist; aber das muss ich sagen, es ist eine Pracht! Diese idyllische Neigung und dieses Geschick sind mir bei seinem Charakter ein Räthsel, und dann hat er noch eine andere Gewohnheit, welche mir sehr zuwider ist. Des Abends nämlich nach vollendeter Arbeit sitzt er in seinem Gartenzimmer und trinkt unmenschlich viel starken Grog, und dabei überkommt ihn zuweilen die Erinnerung an seine langjährige Studentenzeit und deren ruhmvolle Tage. Dann muss ihm die arme Eveline das Kommersbuch holen und ihn auf dem Klavier begleiten, wenn er mit fürchterlicher Stimme seine alten Studentenlieder abgröhlt. Jetzt, da es warm geworden ist, geschieht dies bei offenem Fenster, und ich kann dir sagen, lieber Hans, wenn er so recht in Begeisterung geräth, dann ist diese ganze Gegend eigentlich unbewohnbar!«

»Das ist doch ein ganz netter und eigentümlicher Zug von ihm,« sagte ich.

»O, pfui,« sagte meine Mutter, »denke doch an das arme Mädchen, welches dabei sitzen muss, wenn er singt:

›Bayrisch Bier und Leberwurst
Und ein Kind mit runder Brust
Und ein Glas Krambambuli,
Donnerwetter Parapluie!‹

Und das ist noch nicht mal das schlimmste von allen. Aber ich glaube, das gute Mädchen hört gar nicht danach hin.«

Als ich mich nun des Näheren nach Eveline erkundigte, da ward meine Mutter ganz begeistert: »Das ist ein hübsches sanftes und gutes Kind,« sagte sie, »sie muss das von der Mutter haben, die schon in Amerika gestorben ist, vom Vater hat sie nur die Nase, welche das einzig Hübsche an ihm ist und in seinem Gesichte wohnt wie ein Einsiedler in der Wüste. Wenn der Alte nicht zu Hause ist, was aber selten der Fall ist, da kommt sie gleich an das Geländer, wenn ich im Garten bin, und da plaudern wir miteinander. Ihre Mutter hat sie kaum noch gekannt, und als wir neulich mal beide recht herzlich miteinander waren, da beugt sie sich mit einemmal auf meine Hand und küsst sie. ›Kind,‹ sage ich, ›was machen Sie?‹ Da sieht sie mich mit einem Paar von Thränen verschleierten Augen an und sagt: ›Ach, ich möchte Sie zur Mutter haben!‹ Lieber Hans, da wurde mir ganz seltsam zu Muthe, und da küssten wir uns und haben ein bischen zusammen geweint.«

Ich schwieg eine Weile, aber zuletzt prickelte mich ein neckischer Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, so sehr, dass ich ihn aussprechen musste: »Dem Mädchen könnte ja vielleicht geholfen werden!« sagte ich.

Meine Mutter gab mir einen kleinen Klaps auf die Hand, dann aber nickte sie mir ernsthaft einigemal zu und sagte mit einem kleinen Seufzer: »Ja, das wäre schon gut, aber das alte Ungethüm!«

Als ich am Abend hinaufging in das kleine Giebelzimmer, in welchem ich meine Knabenzeit verlebt hatte, strömten neue Erinnerungen mit Macht auf mich ein, denn hier war noch alles in derselben Ordnung wie vor fünf Jahren, als ich nach der Aufgabe meiner Stellung und vor dem Antritte der anderen, welche mich ins Ausland führte, einige Wochen in der Heimath verbrachte. Das Zimmer war ein richtiges Hans Beinhart-Museum. Den Obertheil der Thür zur Schlafkammer einrahmend, hing dort immer noch die bogenförmig ausgestopfte Riesenschlange, die mir ein Onkel Seekapitän vor Zeiten mitgebracht hatte, einstmals der grösste und vielbeneidete Schatz meiner Kindheit. Dort auf dem schiebladenreichen Schranke für die Steinsammlung stand die selbsterbaute Elektrisiermaschine nebst anderen physikalischen Apparaten, an den Wänden hingen, sauber in Glaskästen gereiht, selbstgefangene Schmetterlinge und dazwischen andere Raritäten, nebst einer Reihe von Pfeifen aus der Zeit meines Studiums, gekreuzte Schläger mit Cerevis und Verbindungsband, und in Gruppen geordnet die Bilder von »Freunden,« deren Namen ich schon zum Theil wieder vergessen hatte. Und wie sauber und in Ordnung war das alles. Meine Mutter hielt Zimmer und Bett jederzeit so im stande, dass ich kommen konnte, wann ich wollte, und immer alles zu meiner Aufnahme fertig fand. Auf dem Arbeitstische lag Papier und Mappe bereit, das sonderbare, alte Bronzeschreibzeug war frisch mit Tinte gefüllt, Schere, Papiermesser, Roth- und Blaustift, Federhalter und Radiergummi waren sorgfältig geordnet, und als ich prüfend den Deckel des Tabakskastens öffnete, fand ich ihn voll Varinaskanaster von Saniter & Weber in Rostock. Wahrhaftig auch, daran hatte sie gedacht. Seit fünf Jahren hatte ich keine lange Pfeife mehr geraucht. Ich stopfte mir eine, ein ungeheures Renommierinstrument aus meiner Studienzeit mit farbigen Quasten und dem Verbindungswappen, setzte mich an den alten, lederüberzogenen Lehnstuhl ans offene Fenster und rauchte die Pfeife der Erinnerung. Es war eine warme und etwas wolkenverhangene Mainacht, aus den Gärten stieg ein würziger Duft jungen Lebens zu mir empor und hier und dort war in dem dunstigen Dunkel ein matter weisslicher Schein von blühenden Kirschbäumen bemerklich. In einiger Ferne, wo der Schimmer von erleuchteten Fenstern durch die Zweige glomm, ward jetzt ein Klavier angeschlagen, und bald liess sich eine rauhe, fürchterliche Berserkerstimme vernehmen, welche mit gewaltiger Inbrunst das Lied anstimmte:

»O alte Burschenherrlichkeit,
Wohin bist du verschwunden?
Nie kehrst du wieder, goldne Zeit,
So froh und ungebunden!
Vergebens spähe ich umher,
Ich finde deine Spur nicht mehr.
O jerum, jerum, jerum,
O quae mutatio rerum!«

So ging es fort, alle sechs Strophen hindurch. Schön war der Gesang fürwahr nicht, allein von so grausamer Wirkung wie meine Mutter fand ich ihn nicht. Das kam wohl daher, weil er in meinem Herzen eine gleiche Saite anklingen machte. Denn niemand wohl, der einige Jahre seiner schönsten Jugendzeit auf deutschen Hochschulen verbracht hat, kann dies nach Inhalt und Melodie gleich wunderbare Lied hören, ohne dass eine sanfte Rührung sein Herz bewegt. Und so vermochte ich ohne Zorn dem furchtbaren Gesange des alten Sonderlings zu lauschen.


 << zurück weiter >>