Heinrich Seidel
Die goldene Zeit
Heinrich Seidel

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III. Der Strandwald.

Eine ungewohnte Musik erweckte Wedeking am andern Morgen in der Frühe aus dem Schlafe. Das unablässige Gezwitscher einer Rauchschwalbe, das Flöten eines Rothschwanzes vom Dachgiebel, der kecke Gesang eines Zaunkönigs in der Gartenhecke und das Schmettern der Finken im nahen Walde hatte sich schon unbemerkt in seine Träume gesponnen; er sass in der Philharmonie zu Berlin und hörte mit verwundertem Behagen eine feine Musik von Geigen, Klarinetten und Flöten, aber plötzlich fuhr es mit Glockenlauten, Kontrabass und Bombardon dazwischen, welches einen so seltsamen Eindruck machte, dass er sogleich aufwachte und nun vernahm, dass es die mit Kupferglocken behangenen Kühe des Forstwärters waren, welche fröhlich brüllend auf die Weide zogen. Vergnügt kleidete er sich an, um ebenfalls auf die Weide zu gehen, auf die Augen-, Ohren- und Herzensweide, welche ihm die freundliche Natur in Gestalt von Wald und Wasser und Wiese draussen aufgebaut hatte. Mit unendlichem Behagen durchstreifte er jetzt und in den folgenden Tagen die waldige Einsamkeit nach allen Richtungen.

Am stärksten aber zog es ihn immer zum Strande und seiner Umgebung, wo sich in das gleichmässige Sausen und Singen der Wipfel das taktmässige Rauschen der ans Ufer schlagenden See mischte, denn an den meisten Stellen trat der Wald nahe an den Strand, indem er entweder von steil abfallendem hohem Ufer auf die See hinblickte oder hinter schützenden Sanddünen sich aus verkrüppeltem Strauch- und Buschwerk und kriechendem Geäst allmählig in seinem eigenen Schutze kräftigend zur vollen Grösse aufbaute. Dort war er zu vergleichen einer Flotte von Soldaten, die hinter einem Erdwall den Angriff feindlicher Reiterscharen erwartet, wobei die erste Reihe auf dem Bauche liegt, die zweite kniet, die dritte gebückt und erst die vierte aufrecht steht. Ja, dieser Kampf dauert schon lange und ward in dieser Gegend nicht zum Vorteil des Waldes entschieden, der an besonders ausgesetzten Punkten trotz tapferer Gegenwehr Schritt um Schritt zurückwich. Dies war besonders an einer Stelle der Fall, welche sich Wedeking bald als einen Lieblingsplatz erkoren hatte. Nachdem der Wald, gleichsam um neue Kräfte zu sammeln, weit zurückgewichen war, um einer Strandwiese Platz zu machen, an deren entferntem Rande seine tapferen Baumscharen, von blauem Dämmer und tieferem Schatten durchsetzt, in der Nachhut standen, ging er muthvoll in dichten Reihen zu neuem Kampfe vor und erreichte seinen ruhelosen Feind bei einem Landvorsprung, der den Schiffern als Wahrzeichen diente und bei ihnen den Namen Rosenort führte. Hier sah man es deutlich, dass die See in siegreichem Fortschreiten begriffen war, denn einzelne alte krüpplige Bäume standen nahe dem Strande zum Theil schon im Sande vergraben, während ihre verdorrten Aeste von der See abgewendet sich ausdehnten, so dass sie Menschen glichen, welche mit vorgestreckten Armen sich zur Flucht wenden. Weiterhin, wo die Bäume noch ein wenig flatterndes Laub zu ernähren im stande waren, zeigte sich immer noch derselbe Anblick einer Flucht vor dem Winde und vor der See, und nur allmählig stiegen die Bäume nach allen Graden der Verkrüppelung zu ihrer natürlichen Pracht und Grösse wieder auf. Auch der Name Rosenort deutete auf etwas Entschwundenes hin, denn zur Zeit war dort kaum eine Spur von wilden Rosen zu erblicken, während doch sonst dieser genügsame Strauch die Nähe des Strandes liebt, an geschützteren Orten hoch in die Bäume emporsteigt und im Juni mit einer Fülle blassrother Blüthen aus dem dunklen Eichenlaube hervorleuchtet.

Dort auf dem kleinen Dünenhügel unter einigen verkrüppelten und zur Flucht gewendeten Eichen sass Wedeking gern, denn von diesem kleinen Landvorsprung aus übersah man weithin die langgestreckten Buchten des Ufers. Zur Linken eine unendliche Kette von weissen Dünen mit breitem schimmerndem Strande, von welchem sich der ausgeworfene Tang in dunklen wellenförmigen Reihen abhob, zur Rechten aber ward der Boden besser und lehmhaltiger und stieg zu den Bolderaa genannten, mit stolzen Buchen bewachsenen Höhen empor. Auch hier an diesem hohen Ufer frass die See immer weiter, so dass es, von sturmbewegten Wellen angenagt, steil, ja zuweilen überhängend abfiel und weithin in sanftgeschwungenen Linien wie mit einer gelblichen Mauer den stellenweise nur sehr schmalen Vorstrand einsäumte.

Kehrte er dann am Abend in die friedliche Forstwärterwohnung zurück, so liess er sich gern erzählen, wie es im Winter sich in dieser Einsamkeit lebte, wo der Strand mit einer unglaublichen Pracht phantastischer Eisbildungen sich bedeckte und durch unendlichen Schneefall oft jeder Verkehr auf Wochen unterbrochen wurde. Gern erzählte auch der Forstwärter von der grossen Sturmfluth und von dem furchtbaren Eindruck, den es macht, wenn die See durch den Wald angewandert kommt. Ja, von zwei Seiten sogar war dies geschehen, denn auch von dem in der Nähe befindlichen Binnenhaff aus war sie durchgebrochen und man hatte sich auf den Boden flüchten müssen. In den Rosenbüschen des Gartens hatte sie zum Wahrzeichen ihres Besuches Tang und Seegras aufgehängt und als Andenken zurückgelassen. Dies erschien alles in dieser schönen friedlichen Sommerszeit, wo schon seit Wochen ein ständiger Nordost wehte und die klarsten sonnigen Tage mit sich führt wie ein wunderliches und grausiges Märchen, dem es sich mit behaglichem Gruseln lauschen liess. Zuweilen auch stieg ein Bild auf vor seiner Seele von wimmelnden und hastenden Rädern und Riemscheiben, er hörte im Geiste das Knattern der Nietkolonnen, den dumpfen Schlag der Dampfhämmer und das Zischen und Fauchen abströmenden Dampfes; ja, er glaubte sogar den Geruch von Schmieröl und Kohlenrauch zu spüren, welcher allen Maschinenfabriken eigenthümlich ist; aber alsbald versank dieses Bild wieder und erschien ihm ebenfalls wie ein Märchen, von welchem es heisst: »Es war einmal.«


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