Heinrich Seidel
Die goldene Zeit
Heinrich Seidel

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IV. Morgenstunde hat Gold im Munde.

Für das Frühaufstehen bekam ich jetzt eine nie gekannte Passion, zur grossen Verwunderung meiner Mutter, die sich daran nicht betheiligte und im übrigen dies für eine Reiseangewohnheit hielt, die sich bald geben würde, denn es läge nicht in der Familie. Am nächsten Morgen war ich schon vor sechs Uhr im Garten, und meine schöne Nachbarin mochte wohl diese Passion mit mir theilen, denn sie war auch schon dort und machte sich mit den Blumen zu thun, welche der Vater ihrer Pflege überliess. Ein sonderbares Zusammentreffen fügte es, dass diejenigen Pflanzen, welche ihrer Sorgfalt jetzt am meisten bedürftig waren, gerade in der Nähe unsers niedrigen Gartenzaunes wuchsen. Wenn ich nun sagen sollte, wie es kam, so wäre das schwer, denn wer vermag in der Folge alle die kleinen Fäden und Maschen zu entwirren, aus denen so holde Netze gesponnen werden, die halben Blicke, welche von ganzer Wirkung sind, jenes Abwenden, welches das Gegentheil bedeutet, jene zarte Sprache, in welcher ein kleines Neigen oder Aufwerfen des Kopfes mehr sagt, als der Mund je wagen würde, und alle diese nichtigen und wundervollen Dinge, die so zart sind wie ein Hauch und doch fester binden als Stahl. Und als nach einer Woche etwa das Netz nun fertig war, da gedachte der kleine listige Gott, der es gewoben hatte, es auch zu prüfen, schwang sich hinab von dem blühenden Zweige, wo er bis dahin mit seinen Waffen spielend sich gelagert hatte, und flog, in eine gewaltige Hornis verwandelt, mit schrecklichem Summen um Evelinens schönes Köpfchen. Da diese nun eine grosse Furcht vor diesem Tiger unter den Insekten besass, so ward sie bleich und rathlos und wusste nicht, ob sie fliehen oder nach dem Thiere schlagen sollte. Ich bemerkte dies, trat schnell an das Geländer und rief: »Schlagen Sie nicht, es wird Ihnen nichts thun, wenn Sie sich ruhig verhalten!«

Aber die Furcht vor diesem Insekte war so gross, dass Eveline Schutz suchend auf mich zueilte und sich angstvoll an das Geländer klammerte, während die Hornis noch immer summend ihr Haupt umschweifte. Ich ergriff sanft aber fest ihre beiden Arme und sagte: »Nun, Fräulein Eveline, halten Sie sich ganz ruhig wie eine Marmorfigur, da wird dem Thierchen die Sache schon langweilig werden.«

Eveline schlug die Augen nieder vor meinem nahen Blicke und erröthete sanft. »Lachen Sie nicht über meine grosse Furcht,« sagte sie. »Ich hatte in Amerika eine Freundin, die ward bei einem Sommerausfluge aufs Land von solchen Thieren fast todtgestochen und lag wochenlang krank. Denken Sie, drei können einen Menschen tödten.

»Und sieben ein Pferd,« sagte ich. Sie nickte ernsthaft. Ich weiss nicht, ob diese naturhistorische Angabe auf Wahrheit beruht, allein sie ist weit verbreitet und ward mir schon als Kind von unserm alten Kutscher Johann unter Flüchen beschworen.

Es ging nun doch nicht an, dass ich sie immer noch an den Armen hielt, deshalb glitt ich leise hinab und bemächtigte mich ihrer Hand. »O, diese Handschuhe sind so hässlich,« sagte sie da und streifte die weichen Lederstulpen ab, welche sie im Garten trug. Die schöne weisse Hand aber liess sie mir, indem sie mit ängstlichem Blicke sich umschaute und sagte: »Das Thier wird doch nicht wiederkommen?«

»Ich kann mir kein Wesen denken,« erwiderte ich da, »das so von Gott verlassen wäre, Ihnen weh zu thun.« Du liebe Zeit, man sagt ja meistens Alltäglichkeiten in solchen Lagen, aber sie kommen von Herzen. Sie lächelte ein wenig und begann auf Flucht zu sinnen; ich fühlte, wie sie ihre Hand zu befreien suchte. »Ach bitte, gehen Sie noch nicht,« sagte ich. »O doch, ich muss jetzt,« erwiderte sie, »um diese Zeit steht mein Vater auf; es wäre schrecklich, wenn er uns bemerkte, er darf ja nicht einmal sehen, dass ich mit Ihrer Mutter spreche.«

War es das Bewusstsein, dass wir nun ein kleines Geheimniss miteinander hatten, welches mich plötzlich so kühn machte? Ich führte die schöne, sanft widerstrebende Hand an meine Lippen und küsste sie. Eveline ward verwirrt und bat: »O lassen Sie mich doch gehen. Morgen . . .« sie vollendete nicht, aber dies »Morgen« klang so verheissungsvoll. Unsere Augen trafen sich eine Weile, und dann nach einem Augenblicke war sie fort. War das, was so sanft auf meinen Lippen glühte, wirklich ein Kuss gewesen? Ein Kuss, wie ein vorüberfliegendes Rosenblatt, das sich wie ein Hauch an die Lippen schmiegt und dann weiter flattert, ein Kuss, wie wenn der Wind von fernen blühenden Feldern eine Wolke balsamischen Duftes eilend vorüberträgt, flüchtig wie ein Gedanke. Am liebsten hätte ich nun Rad geschlagen, wäre auf den Händen gegangen oder in die Bäume geklettert, so unparlamentarisch war mir zu Muthe. Da nun dies alles doch nicht schicklich erschien, so rannte ich hinaus in das einsame Werdergehölz und mag mich dort wohl einigermaassen sonderbar betragen haben. Das weiss ich noch ganz sicher, dass ich mutterseelenallein auf dem Zeltenberge gesessen und über den im Sonnenlichte flimmernden See hinaus Hurrah! geschrieen habe, so laut ich konnte. Mein innerer Mensch hatte zu hohe Dampfspannung, es war ganz nothwendig, dass das Sicherheitsventil geöffnet wurde. Ich will sogar offenherzig bekennen, dass ich schon das Messer in der Hand hatte, um in eine schöne Buche ein kunstvolles E einzuschneiden. Als ich aber um den Baum herumging, um mir den besten Platz auszusuchen, da fand ich, dass dieser schon einmal von mir für solchen Zweck benutzt worden war in jener holden Jugendzeit, da ich siebzehn Jahre alt war und für die schöne Luise eine überschwengliche Liebe pflegte, ohne dass diese wahrscheinlich die geringste Ahnung davon hatte. Da stand es noch deutlich, ein grosses L, und ringsherum ein schönes geräumiges Herz, alles schon recht verwachsen, aber noch gut zu lesen. Ich schämte mich ein wenig meiner verspäteten Jugendlichkeit und steckte das Messer wieder ein. Das aufgefundene Dokument hatte die erfreuliche Wirkung, die hasenfüssigen Aeusserungen meiner Begeisterung etwas herabzudämpfen, so dass ich mich hinfort wieder eines gesitteten Betragens befleissigte und wie ein manierlicher Spaziergänger heimkehrte.

Wo der leichte Zaun unseres Gartens an einem dichten Gebüsch des benachbarten vorüberführte, da waren schon seit alter Zeit einige Latten beweglich und liessen sich beiseite schieben, so dass ein nicht zu starker Körper bequem durchzuschlüpfen vermochte. Dieser Mechanismus, der bereits früher den Kinderverkehr zwischen den beiden Nachbargärten vermittelt hatte, war noch in bester Ordnung und wurde bereits am anderen Morgen von mir seiner ursprünglichen Bestimmung wieder übergeben. Was konnte ich an einem so köstlichen sonnigen Maimorgen holderes thun, als mit einem schönen, geliebten Mädchen, das mit der Hingabe der Unschuld sich an mich schmiegte, in einem blühenden Garten zu wandeln und jene Gespräche zu führen, deren grösste Bedeutung nicht in den Worten liegt, sondern in den angenehmen Thaten, welche sie begleiten. So hatte der Mai doch noch nie geblüht – die Apfelbäume standen in rosigem Schimmer, und als wir unter dem alten Birnbaume endlich Abschied voneinander nahmen, da schüttelte er wie segnend einen Schnee von weissen Blumenblättern auf uns herab.

Wir hatten aber die Rechnung ohne den Indianerspürsinn des alten Amerikaners gemacht und bei unserm verliebten Thun nicht beachtet, dass die Gartensteige ganz frisch geharkt waren. Als nun gegen acht Uhr der Alte wie immer den ersten Gang durch den Garten machte, da gelangte er bald an eine Stelle, wo er den Boden mit besonderer Aufmerksamkeit in Augenschein nahm, denn neben den schmalen, zierlichen Fussstapfen seiner Tochter bemerkte er andere kräftigere, die offenbar von Männertritten herrührten, sich jedoch um ein Beträchtliches von jenen unterschieden, welche durch die eisenbeschlagenen geräumigen Lederbottiche seines Dieners hervorgebracht wurden.

»Hm, Hm!« brummte er und ward noch viel rother als gewöhnlich. Dann machte er sich an die Verfolgung der Spuren. Bis hierher war seine Tochter mit dem Fremden vorgeschritten und hier hatten sie eine Zeitlang verweilt, wie die Stapfen zeigten, welche in einem kleinen Umkreis vielfältig nebeneinander standen. Es war dies in einer durch Gebüsch und Baumwerk gedeckten Gegend geschehen, wohin man weder von seinem Hause noch von dem Nebengarten aus sehen konnte. Herr Rodekamp paffte eine Weile furchtbar aus seiner kurzen Holzpfeife, spuckte dann einen mächtigen Strahl seitwärts aus und machte seinem Herzen durch einen etwa zwei Meter langen, wundervoll construirten Fluch amerikanischer Herkunft Luft. Sodann schritt er weiter. Die Spuren liefen wieder zurück nach dem Orte, wo sie hergekommen waren, und fast überall, wo höheres Buschwerk oder alte Bäume eine Deckung gaben, wiederholten sich die Anzeichen, dass beide eine Weile stehengeblieben waren, ein Umstand, welcher den Alten stets von neuem veranlasste, in seine reiche Sammlung altehrwürdiger Flüche zu greifen. Endlich langte er unter dem grossen Birnbaume an, wo sowohl die erste Begegnung als auch der Abschied stattgefunden hatte, und hier sah er die Spuren seiner Tochter vom Hause her- und wieder zurücklaufen, während die der Männerfüsse in dem dichten Gebüsch an dem Zaune des Nachbargartens verschwanden. Fast hatte es den Anschein, als hege er noch die Hoffnung, den fremden Vogel dort zu ertappen, so vorsichtig schlich er an das Dickicht heran und stierte, die Büsche bei Seite biegend, hinein. Da es leer war, drang er hinein und entdeckte bald das Geheimniss des Lattenzaunes. Finster brütend stand er dann eine Weile und stierte roth wie der untergehende Mond in das kleine Gärtchen der Nachbarin, während er unausgesetzt mit allen Fingern in seinen Backenbart fuhr und ihn emsig nach beiden Seiten auszog. Da er von meiner Anwesenheit noch keine Ahnung hatte, so blieb ihm die Hauptsache bei diesen Begebenheiten natürlich ziemlich dunkel, jedoch ein Gedanke, der ihm bald darauf durch das Gehirn schoss, schien ihm zu gefallen und verlängerte den schmalen Mund mit den eingekniffenen Lippen zu einem boshaften Grinsen. Dann nickte er befriedigt vor sich hin und begab sich an seine gewohnte Arbeit, während es ihm scheinbar grosse Befriedigung gewährte, die Strophe eines bekannten Studentenliedes vor sich hinzubrummen, welche lautet:

»Geh du nur immer hin,
Wo du gewesen hast.
Und binde deinen Gaul
An einen dürren Ast!«

Diesen Gesang wiederholte er wohl an die sieben Mal, während er dabei Raupen von den Bäumen las und sie mit seinen breiten Füssen und mit Genuss an der Sache todttrat.


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