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Grothusen war erhöht worden. Er saß auf einem Thron, in Erhabenheit und mit einer Weisheit begabt, die nicht von dieser Welt war und über allem Irdischen waltete.
Gebückte Sklaven näherten sich und reichten ihm kühlende Getränke. Von den fernen Stufen des Thrones kam ab und zu ein Windhauch wie aus einem Backofen; es mußte dort, wo die Gestalten hantierten und hin und her eilten, eine beträchtliche Hitze herrschen. – Was focht ihn die Hitze an! – Hoch saß er und lächelte die Glut nieder, die an ihm emporzulecken suchte . . . Man hatte die eigensinnige 302 Beharrlichkeit, die roten Wände des großen ovalen Saales, den er überblickte, wie Vorhänge auseinanderzuschlagen und zu verschwinden; jedesmal, wenn man das tat, kam ein Stück Weißglut zum Vorschein; es tat ihm ungeheuer weh, so als zwinge man ihn mit verstümmelten Augendeckeln auf die Kohlenstäbe einer Bogenflamme zu starren . . . Doch geschah dies immer seltener, da er das Verbot erließ, jene Wände nicht zu stören, sondern sie unbehindert ihre langsame Kreisbewegung vollführen zu lassen.
Das Fieber hatte in Grothusens ausgemergeltem Körper vor fünf Tagen ein hitziges Nest gebaut und eine seltsame Brut in seinem Hirn ausgeheckt, die an jedem hohen Nachmittag halbflügge über den Bettrand kroch, heruntertaumelte und unter zuckenden Verwandlungen die Hütte bevölkerte. Er sah den Schemen mit einem gewissen Interesse und munter zu; jeden Nachmittag um sechs Uhr. Es wurden ihrer immer mehr, und er hatte eine Art entrückten Gefallens an ihnen; nur beunruhigte es ihn, wenn ihre wachsende Anzahl die kompakteren Figuren, die er in hellen Momenten Tai und Petina nannte, zu verdunkeln suchte. – – –
Einmal war der Doktor Säuerlich gekommen und hatte – schadenfroh, wie ihn dünkte – geschrien: »Was saufen Sie denn da?! – Kawa und Whisky? – Eine nette Diät für Typhus! – Marsch mit Ihnen ins Hospital! – –«
Was darauf erfolgte, das gab der Doktor einem gewissen Herrn Ollendiek – der ihn Grothusens halber später aufsuchte und sich anerbot, für dessen Verpflegung zu zahlen – unwirsch mit diesen Worten zu verstehen:
»Zeugt von Großherzigkeit und ehrt Sie, junger Mann, daß Sie sich unseres Freundes annehmen wollen. – Kenne ihn aber besser als Sie. – Patient ist Säufer seit Anbeginn. Diagnose des Falles: ›Hoffnungslos‹. – Der Mann brennt aus, verstehen Sie; – brennt aus wie der letzte Fetzen Docht in einem Talglicht. Nicht für einen Nickel Widerstand im System; Sache von Tagen; Tropenleiche . . . Herr! – 303 Natürlich weiß ich Bescheid; wo zum Teufel soll ich aber jetzt Beef-Tea und kalte Bäder hernehmen? Und das farbige Personal ist mir weggerannt . . . Die Engländer kommen jeden Moment . . . Habe alle Hände voll . . . Und dann noch eins: wenn der Arzt aus Menschenliebe kommt, und er wird zum Dank tätlich hinausgeworfen, dann wäscht er seine Hände und übergibt den Fall dem allerhöchsten Kollegen. Ich weiß selbst nicht, wo ich übermorgen bin; und da soll ich das obstinate Vieh wohl noch bitten, sich herabzulassen; was? – Gnädigst zu gestatten, daß man es behandelt; he? – – Nichts zu machen!«
Dies sprach Doktor Säuerlich.
Um zu Grothusen zurückzukehren, so saß er auf dem Bett, dessen altersmorsche Lade zuweilen wehmütig aufknarzte, und fuhr fort, Befehle an teils imaginäre, teils reale Personen zu erlassen. Gelegentlich einer Weißglutaffäre, die länger dauerte als gewöhnlich und ihn schmerzte, nahm er die Silhouette einer ihm bekannt scheinenden Person wahr. Als der Lichtüberschuß wieder abgedämpft war, bemerkte er die Gegenwart Gerharts. Zudem traf dessen Ankunft in den Vormittag, also in eine Zeit, wo Grothusen imstande war, halbwegs klar zu denken. Er bemerkte daher auch, daß der Besucher bei seinem Anblick zusammenfuhr, und er verfiel mit der Absicht, heiter zu wirken, in ein schwachatmiges Gekräh – es gemahnte an jene schauerlichen Gurgellaute, die ein Hahn ausstößt, wenn man ihn zu Schlachtzwecken in eine dunkle Regentonne sperrt. Er saß kreuzbeinig auf einer harten Matratze, mit einem Kissen im Rücken, dessen Überzug von Tai frisch gestärkt war und von Sauberkeit leuchtete. Die Farbe seines Gesichtes, von verwildertem Haupt- und Schnurrbarthaar rostrot überschattet, hob sich kaum von diesem Kissen ab. Eine zitternde, ätherisch leichte Hand, weißblau und spinnenfingrig, streckte sich zur Begrüßung vor. Gerhart ließ sie 304 eine Weile in der Luft schwanken, ehe er sie flüchtig berührte. Ihn schauderte.
»Freut mich; freut mich,« schallte es ihm entgegen. – »Geht mir nicht zum Besten; kann keinen festen Fraß verdauen . . . Säuerlich war hier; polizeimäßig; verstehen Sie . . . Wollte mich arretieren; fürs Hospital . . . Aber ich weiß schwer Bescheid! – Durchsichtige Finte! – Unschädlich wollen sie mich machen; traue Säuerlich nicht über den Weg! –« Mit heiserem Flüstern: »Morgen oder übermorgen . . . da kommen die anderen . . . Ich kann es fühlen; in allen Knochen fühl ich's . . . Passen Sie auf: ein graues Pünktchen . . . noch ein graues Pünktchen . . . Ha: und dann eine Breitseite; eine gesunde Breitseite! – Die schießen nicht mit Erbsen! – – Nehmen Sie Platz.«
Da er Gerhart zögern sah, schrie er heiter: »Nur keine Umstände! – Der Grothusen mag nicht ganz auf dem Damm sein: der Alte ist er aber immer noch! . . . Das heißt –« und er sank etwas zusammen – »neulich ist er bös aus dem Rahmen gefallen. – Das erstemal.« Er blickte grübelnd und finster auf; dann rief er mit Stentorstimme: »Sau ia!«
Gerhart bemerkte erst jetzt, daß Tai zugegen war. Sie saß im entferntesten und dunkelsten Winkel der Hütte, unauffällig mit sich selbst beschäftigt. Ihr schwerer Kopf mit gelöstem Haar hing über der schmalschultrigen Figur; ihre große Nase war gekraust; sie erweckte irgendwie den Eindruck, als friere sie. Ihre moorbraunen Augen wanderten mit der gleitenden Entlegenheit, die höheren Affen eigentümlich ist, auf der Matte umher. Als Gerhart eingetreten war, hatte sie ihn gemustert; doch war weder das leiseste Zeichen der Erkenntnis in ihren dunklen Pupillen aufgeglommen, noch hatte ihre Haltung sich im geringsten verändert. – Als Grothusen nach ihr schrie, zuckte sie heftig auf, als habe man sie aus dem Schlaf geweckt; dann sammelte sie eilfertig 305 die Falten des Tuches, schlug sie um sich herum und schritt herüber. Ein großer Aufwand von Stirnfältchen und der erwartungsvoll geöffnete Mund gab ihrem Gesicht den Ausdruck gespanntester Aufmerksamkeit . . .
Grothusen deutete nach seiner Kehle. – »Fia‘inu,« erklärte er.
Sie starrte ihn angestrengt an. – »I,« flüsterte sie dann und schritt eilig in den Winkel zurück. Dort stand die halbgefüllte Kawabowle. Sie ergriff den Kokusbecher, doch etwas Außerordentliches geschah: – Statt ihn zu füllen, hielt sie ihn eine Weile in der Hand. Dann drehte sie ihn langsam hin und her, in tiefste Betrachtung der eingeritzten Muster versunken. Mit der größten Gleichmütigkeit, immer noch mit dem Becher spielend, ließ sie sich auf dem Boden nieder; und nach einiger Zeit begannen ihre Augen das alte ruhevoll-entlegene Wandern.
Grothusen richtete sich mühsam höher und versuchte über den Rand der Bettlade zu spähen. Ein fahler Schatten von Blut ging über sein Gesicht; doch was Gerhart in diesem Moment erwartete – ein erneuter Befehl, etwa verstärkt durch einen silbenreichen Fluch – geschah nicht. Mit allen Anzeichen von Ratlosigkeit sank der Kranke in seine hockende Stellung zurück. Seine zitternde Hand suchte die Brille zu ertasten; Gerhart glitt herzu und reichte sie ihm. – »Danke,« flüsterte Grothusen. »Sehen Sie mal nach, was sie da macht . . . dort hinten . . .«
Gerhart blickte hinüber. – »Sie hat den Becher weggelegt. – Sie sitzt und zupft Fasern aus den Matten heraus.«
»So, so,« sagte Grothusen tonlos. – – – »Donnerwetter.« – –
Gerhart trat zu Tai, nahm ihr sanft den Becher aus der Hand und füllte ihn. – Sie lächelte gütig. – Dann brachte er ihn zu Grothusen . . . Kurz darauf geriet Tai plötzlich in 306 Bewegung, als wolle sie Versäumtes nachholen; ihre Augen suchten ruhelos auf der Waschkiste umher. Dann ergriff sie eine leere Cornedbeefbüchse, die als Zahnputzglas diente, trug sie herüber und setzte sie mit freundlich-nachsichtigem Lächeln und unendlicher Vorsicht auf die Bettdecke an die Seite des Kranken. – Grothusen sah ihr verblüfft zu, murmelte: »Fa‘afetai« und blickte ihr lauernd nach, als sie zurückschritt. –Dann sprach er kaum hörbar, – zum zweitenmal –: »Donnerwetter . . .«
Tropfen erschienen auf seiner mißfarbenen Stirn. Ein großes grünseidenes Tuch war zur Hand – offenbar das, mit dem er Petina beschenkt –; er trocknete sich nachdenklich ab. Ein schiefer Blick – so, als wolle er sich über Peinvolles Rats erholen, schrecke aber noch halb davor zurück – glitt auf Gerhart. Diesem gelang es nicht, seine Züge zu bemeistern. Mit dem Scharfblick des Kranken nahm Grothusen das schnelle Mienenspiel in dem jungen Gesicht wahr. Er tat ein längeres Räuspern und begann mit Überwindung:
»Bin 'n roher Mensch; ja, das bin ich; und wenn Sie zehnmal sagen: nein« – Gerhart deutete ihm durch nichts an, daß er ihm nicht vollkommen beistimme; trotzdem erhöhte Grothusen beteuernd seine Stimme – »ich bin 'n roher Mensch; verroht, verstehen Sie . . . Die besseren Gefühle sind zum Teufel . . . Ganz recht haben Sie gehabt, daß Sie mich in Letui angepackt haben und mir die Standrede gehalten haben . . . Meinen Sohn Ferdinand hab' ich mir telegraphisch von Tonga zurückbeordert; die in Suva wollen auch keinen Schmarotzer auf der Pelle; kann ihn selber jetzt besser brauchen . . . Wenn ich dahin bin, und das dauert nicht mehr lang, vererb' ich ihn Ihnen; das hab' ich Ihnen versprochen und dabei bleibt's; 'ne Prachterziehung sollen Sie ihm geben; 's ist der Sohn des Weißen Mannes; und ich hatte 'ne große Zukunft vor mir . . . 'ne Künstlerzukunft, straf mich Gott . . .
307 »Vergessen Sie die Szene in Letui! Bin böse aus dem Rahmen gefallen; sehe das ein. –Tai hat zwar ihr Geld – meiner Kinder Geld – an die Pfaffen von der London Mission verschenkt; ist aber 'n treues Weib; wie Gold ist das Weib . . . und ich kriegte wieder meinen Tropenzorn und machte ihr die Hölle heiß und sah weder rechts noch links . . . Sollen sich deswegen aber kein falsches Bild vom Grothusen machen! . . . Da ist die Strafe!« – Er reckte sich plötzlich auf, mit einem schneidend emporgewundenen Schrei, und deutete mit schwankender Hand nach dem Winkel in der Dunkelheit . . . »Da ist die Strafe! – Da sitzt sie und zupft Fasern aus der Matte! – Bringt mir leere Cornedbeefbüchsen, wenn ich Kawa verlange! – Das habe ich nicht gewollt; weiß der Himmel; das habe ich nicht gewollt! . . .« – Seine Stirnhaut, in tiefe Rinnen zerlegt, sprach von übermächtiger Sorge. Uralt sah er aus, von Runzeln bedeckt; und die matten Gesten seiner Arme krochen das Leinentuch entlang. Dann, sich bäumend im Fieberschweiß, knickte der schwache Körper kraftlos im Kreuz. Gerhart sprang herzu und richtete ihn wieder auf. Die Berührung seiner Hände schien Grothusen zu beruhigen; er schloß die Augen und saß eine Weile still. –
Mit scharfem Blick und dem Pathos eines Pedanten, der einen unterbrochenen Vortrag aufnimmt, hob er wieder an: »Trage selber die Schuld . . . Wie 'n Pascha bin ich hier gesessen, und sie hat nach meiner Pfeife getanzt . . . Sieben Kinder hat sie mir geboren; positiv hat sie das; meine was ich sage: mir . . .« Er nahm einen Schluck ›Scotch‹, legte die Flasche wie ein saugendes Kind an seine Seite und beschloß mit leicht geröteten Zügen: »Eine Leistung! – Gebären Sie mal sieben Kinder! – – – Und was tue ich –? . . . Fußtritte geb' ich ihr . . .
»Eins hab' ich Ihnen erklären wollen: eins ist von Wichtigkeit in meinem Brief . . . Es hat seine Gründe, weshalb ich so geworden bin; schwere Gründe . . . Mächtig flink 308 sprang sie neulich in den Busch; nicht wahr? – – Wer kennt so 'ne Seele . . . Auf einmal zerreißt was, und die Kontrolle ist weg . . . Jetzt sitzt sie da und zupft Fasern aus den Matten! . . . Es ist ein blutiges Mißgeschick . . .«
Er murmelte weiter. Sein Kopf sank nach vorn; die fieberglänzenden Augen, mit ihrem trockenen verwaschenen Blau, starrten auf die Kniee herab . . .
Petina drückte sich vorsichtig mit einem dampfenden Blechgefäß herein. Es war die Suppe aus einem von Gerhart gestifteten Huhn; er hatte jedoch dem Jungen befohlen, die Herkunft des Geschenkes zu verheimlichen. – Als Grothusen die Brühe schlürfte, erfuhr er deshalb, sie stamme von Tanu. Dies schien ihn zu rühren.
»Edles Volk,« ließ er sich, munterer geworden, vernehmen. – »Hat Rasse im Leib, dieser Tanu; erst kürzlich hat er mir eine Staatsvisite gemacht; traf mich leider nicht zu Hause . . . Hat immer auf Etikette gehalten; genau wie der alte Herr Laupepa . . . Den besuchte ich mal an einem verregneten Tag, als noch schlechte Fühlung war unter den Gegenparteien; war damals noch jünger; habe aber immer Sinn für Stil gehabt! – Der Palast war 'ne traurige Hütte, wie diese hier; und für meine erste ›Königskawa‹ holte mir der Alte 'ne Kokusschale von der Feuerstelle, pustete hinein und kratzte den Hühnerdreck heraus . . . Die Soldaten flirteten im Mädchenhaus; er klatschte in die Hände: da kamen sie mit wackelnden Knieen und wurden zu zwei Wochen verdonnert . . . Dabei hatte er nicht einmal seinen Ipu –! . . . Aber Höflichkeit; Rasse; Form! – Das hält Stich! – ›Ich sitze nicht gut auf meinem S-tuhl‹, sagte er; genau das waren seine Worte. – Haha! –: ›Ich sitze nicht gut auf meinem Stuhl!‹ –«
Grothusen begeisterte sich. – Sein Geist begann zu wandern.
309 »Ja, das sagte er mir, und das sagte er aus Höflichkeit . . . ›Bisch 'n feiner Kerl, Patuitui,‹ sagte er; und da hatte er recht . . . Ich war jung, verstehen Sie; und wenn's auch jetzt vorbei ist: fühle mich immer noch der Sache gewachsen . . . Hab' auch mein Preislied gehabt; als junger Bulle hab' ich mir das gesungen; war der Hahn im Korb . . . Von Wurmbrand meinte, es sei tadellos; hat mir bei der Melodie geholfen . . .«
Und Grothusen begann seinen »Manaia-Sang«. – Es klang wie keines Menschen Stimme; eher wie eine Art animalischem Plärrens . . .
Rote Flecken erblühten auf seinen Backenknochen. Er schrieb den Rhythmus mit magerem Zeigefinger in die Luft.
Petina platzte heraus; konvulsivisches Gelächter erfaßte ihn; er warf sich auf den Boden und schrie ganz hoch: »U–i–i« . . . Grothusen ließ sich das nicht anfechten; er plärrte weiter . . .
Gerhart ging. –
Wie aus dem Inneren eines Tollhauses scholl es hinter ihm drein:
»O‘ute pa te fatāū...«
Noch als er die Wiese überschritten hatte, erreichte in kurzen Abständen ein bellendes »āū« sein Ohr . . .
*
Grothusen richtet sich auf. –
Es ist sechs Uhr.
Die Hütte wimmelt von Schemen.
Halb vorgebeugt und böse glupend, wie ein Fuchs, starrt er in das Treiben. – Auf einmal packt er seinen Fliegenwedel und saust mit einem Satz aus dem Bett.
Der Roßhaarschweif zuckt pfeifend durch die Luft; es bildet sich eine Gasse. – Zwischen Tisch und Mittelpfosten wird der Weg frei; er taumelt auf einer schnurgeraden Linie bis zum Ende der Hütte; seine nackten Füße klatschen auf den Matten. – Blitzschnell dreht er sich um . . . Eine 310 Kette von Fratzen verdämmert hinter ihm; scheint sich aufzulösen . . . Doch da steht noch ein Kerl, mit den Händen im Hosensack: – der Mann mit dem Starken Kiefer. Der rührt sich nicht und wälzt mit der Zunge die Zigarre in den anderen Mundwinkel; wo der schwarze Stummel sich einklemmt, entsteht eine runde Falte im unrasierten Backenfleisch. – »You're fired,« sagt er gurgelnd. – »There's your pay.« – Zwei, drei dreckige Dollarscheine flattern aus seiner haarigen Tatze.
Dem Mann ist nichts anzuhaben; wie ein Block zerquetscht er jedes Argument. Er ähnelt McGrew . . . Oder ist es der Manager von den ›Dakota-Flats‹? . . . »Hundelohn«, denkt Grothusen, »dafür, daß ich mich eine Woche lang auf zwanzig giftgrünen Läufern abgehetzt . . .« – – Er versucht vergeblich, die Scheine in seine Pyjamas zu stopfen; er findet keine Tasche und gibt es auf. Er wandert auf den Tisch zu; es dauert zehn Jahre, bis er ihn erreicht. Der unzuverlässige Stuhl sinkt seufzend zusammen; so landet er auf dem Boden unterhalb des Tisches. – »Warum geht das so langsam?« sinniert er dabei . . . »Das ist die verdammte . . . Einförmigkeit; die hängt mir wie Blei am Kreuz.« Er faßt sich in den Rücken, massiert sich und grübelt. Dabei blickt er böse und glanzlos unter dem Tisch hindurch. – »Ach . . .« ächzt er, »wir wollen doch einmal sehen, wer hier Herr im Hause . . .«
Die Hütte ist totenstill. Es knistert im Dach. – Auf einmal: »W–i–i–i . . .« kommt ein Windstoß. Eine Jalousie schwankt und läßt einen messerscharfen Strahl durch; dann hängt sie wieder reglos. Grothusens Augen wandern ruhig lauernd umher. Der kurze Windstoß wiederholt sich nicht; das befremdet ihn. Mehr noch: er spürt, daß etwas wie eine böse Erwartung zitternd in der Luft liegt . . .
Plötzlich wird es ihm zur markerstarrenden Gewißheit: er ist nicht mehr allein in der Hütte. Seit der Manager von den ›Dakota-Flats‹ verschwunden ist, hat ein anderer Einlaß gefunden, den er ungleich tiefer haßt und 311 verabscheut. Dünn zischelnd hat jemand die Jalousie zurückgeschlagen; ist jemand hereingeschlüpft.
Grothusen stemmt sich mühsam am Tisch in die Höhe und lehnt den Rücken gegen den Mittelpfosten. – So ist er hinten sicher, und nach vorn zu hat er Hände; Augen. – Doch sieht er nichts. Schweiß bricht ihm aus. Der Feind ist da, und er kann ihn nicht sehen. Und diese schauderhafte Spannung zupft an ihm; pflückt dünne Mißtöne aus den zum Platzen gezogenen Saiten seiner Seele: kleine hohe Seufzer, die ihm wider Willen entfahren . . .
Da! – –
Er sieht den Besucher.
Halb durchsichtig wächst er auf und ab; bald sich verknäuelnd, bald entrollend wie ein lichtscheuer Schatten, hantierend hinter schmutzigem Glas in trübem Regennebel . . . Leise pfeifend, gewinnt er Form. Er wird zu einem langgliedrigen, blassen, rothaarigen Bengel, und er schickt, an der spitzen Nase vorbei, einen stieren Blick über den Tisch herüber . . . Es ist etwas Verlassenes, hilflos Verhetztes in seinen Gebärden; die Kniee wachsen wie bleiche Knoten aus seinen schwankenden Beinen, und seine Ellbogen dringen bläulich aus zerscheuerten Ärmeln . . . Die Hände, von derselben Farbe, schwenkt er spinnenfingrig, eckig, und preßt sie abwechselnd vor den dünnlippigen Mund, als wolle er ein töricht-verlegenes Kichern verhüllen; irgendwie hat diese Geste etwas Lasterhaftes. Doch dringt das Grinsen wie eine scharfe Säure zwischen den Fingern hervor. Seine Kleidung ist ein Sammetkittel; ein viel zu kurzer, fleckiger, zerriebener Sammetanzug; um die zuckenden, knochigen Schultern schlingt sich, halb zerrissen herabbaumelnd, eine Häkelspitze. Die Spitze ist ein stoffgewordenes Schluchzen; sie hängt an der Figur wie Fetzen besudelter Träume aus frühester Zeit . . .
Grothusen brüllt heiser auf und fällt quer über den Tisch, die Hände um die Kanten gekrallt. – »Du kommst mir 312 hier nicht herein! – Du verfluchtes Aas! – – Du kommst mir hier nicht herein!« –
Zitternd tappt er nach der Whiskyflasche und schleudert sie nach der Gestalt. Sie zersplittert mit dumpfnassem Ton; Sprühregen pladdert auf die Matten. Für einen Augenblick ist die Luft leer; dann erscheint das Gespenst wieder. Es ist kleiner geworden; hat an Proportion verloren; sein perlblasses Gesicht hängt dort in der Luft – – etwa wie eine weiße Papierlaterne, erloschen nach einem ärmlichen Fest . . . Ist das nicht dasselbe Gesicht, das ihm vor kurzem noch bei Schlick erschienen war?! – Mit einem Ausdruck verblüffter Enttäuschung legt es den Finger an die spitze Nase und beginnt zu sprechen. Was es spricht, ist im Anfang unverständlich, doch fühlt man diese gezischelten Worte; – mit dem Geräusch kurzer Windstöße fallen sie als eisige Tropfen hart plumpsend herab; als erklängen sie im stagnierenden Grundwasser gemiedener Schächte . . . Träg rinnende Laute weben ein Netz von Verlorenheit; kein Bäumen hilft wider den klebrigen Druck; kein Aufstöhnen erblindender Lebenstriebe . . .
Die Sätze werden schärfer; – – er versteht sie.
Das Phantom sprüht Fragen von sich. Bei jeder Frage wirft es den Kopf ruckweise nach vorn; die Stirnhaut, überwimmelt von Sommersprossen, verzerrt sich häßlich über dem törichten Tanz der rötlichen Brauen.
»Weißt du noch? – – Hoboken, die Werft, und die grellen Blicke? – Und die Züge an der Hochbahnkurve? – Wie die kreischten? – Tagaus, tagein? – . . . Und die S-traßen . . . Die parallelen S-traßen! – Sie schnappten nach mir . . . Eine Nummer nach der andern! – – So kalt war es da . . . kalt und naß . . .«
Grothusen sucht wild umher. Er packt das Stuhlbein und haut es über den Tisch. Er will das nicht hören . . . 313 Doch das Gezischel triumphiert wie das Schicksal. Es dringt durch den dröhnenden Krach.
»Ach, und dann in Savannah! – – Da habe ich schwitzen müssen! – – Der Laderaum . . . Die Orangen . . . Weißt du noch, die Orangen? – – Rollende Hügel! – – Sie verseuchten die Luft; ja, das taten sie: wie süßes Gas! – – Wie? – Genau wie süßes Gas! . . . Und der Leim . . . Der s-tank . . .«
»Ruhe!« – Grothusen zittert am ganzen Leib. Er schleudert das Stuhlbein mit aller Wucht nach vorn . . . Es geht glatt durch den jämmerlichen Umriß der Figur hindurch und landet klirrend zwischen den Flaschenscherben.
»Und dann: weißt du noch? – habe ich Albums gemacht . . . Beschläge von Bronze . . . Schöner Sammet und Goldbronze . . .« Die Stimme klingt lüstern; wie behindert durch Speichel. – »Dutzendweise! – – Und auf der ›Polaria‹ hab' ich den Reis aus den Tellern gekratzt . . . Die Chinesen ließen ihn übrig . . . Der schmeckte fein . . .« – – Kichern erschallt hoch und leise; die Figur schwankt wie in torkelndem Tanz . . . »Chinesenreste! – – Erinnerst du? – . . . Und die Lobbywände in den ›Dakota-Flats‹! . . . Die Adern im Marmor! . . . Genau wie im Schlachthaus! – – Genau wie im Schla . . .«
Grothusen klappt zusammen. Er kniet neben dem Tisch. Der rote Nebel vor seinen Augen versickert in eine Flut von Grau.
Eine Stille entsteht. – – –
– – – Jäh bläst ihn ein kalter Odem von der Seite an. Er fährt auf.
Es klingt dicht an seinen Ohren . . . Wie Nadelstiche ins Hirn . . .
»Die Nacht! – – Wie? – – Der Frost vom Hudson! –Weißt du noch: der S-treik? In den pennsylvanischen Minen? – – Da s-tand ich neben dem Kohlenhaufen! –– Wie 'n verlorenes Pferd neben dem umges-tülpten Wagen . . . Ich lief nicht weg, weil ich so . . . gründlich war! – – 314 So deutsch! – – Aber dann haben sie mich gemein behandelt! – – Geprügelt haben sie mich . . . Und meine Häkels-pitze . . .« – hier hebt sich die Stimme klagend und schrill – ». . . meine schöne Häkels-pitze . . . die haben . . . sie . . . ganz . . . zerrissen . . .!! – – –«
Schluchztöne zerbersten in der Luft. Blauweiße Finger tappen herzu. Eckige Arme schieben sich aus dem Wesenlosen. Geschundene Kniee reiben sich aneinander; und wie schutzsuchend neigt sich die spitze Nase nach Grothusens Händen, voll verhetztem Drang nach Ruhe in zielloser Mühsal . . .
Grauen reißt den Knieenden empor; er weicht zurück, bis er am anderen Ende der Hütte steht. Und was er sieht und hört, steigert sein Entsetzen . . .
Das Phantom hockt dort noch kurze Zeit still am Boden, das Gesicht auf die Beine gebeugt und mit seiner Qual beschäftigt; – dann aber scheint es, als gehe eine äußerst fragwürdige, eine schleichende Verschiebung in seinem Wesen vor . . . Als sei die Haltung kein Hinbrüten mehr in Verzweiflung, sondern als sammle es Kräfte – sie dämonisch dem Umkreis entsaugend – um zu springen . . . Es zieht die Lippen zurück, ganz in den Winkeln . . . Es speit nach ihm; speit zerbrochene Sätze . . .
»Du läufst mir davon? . . . Mich loswerden willst du? . . . Mich? . . . Willst mich wieder verjagen? . . . Weil's hier warm ist? . . . Gönnst mir's nicht? . . . Du Narr! . . . Bist zweimal um die Erde gerannt, und willst dich verkriechen! . . . Verkriechen vor mir! . . . Aber jetzt s-telle ich dich, vers-tehst du: jetzt s-telle ich dich!«
Es setzt sich in Bewegung; es pflanzt sich ruckweise von Ort zu Ort . . . Seine Augen starren pupillenlos in den Raum, wie Knöpfe von Milchglas . . .
Grothusen haut um sich; er will hinaus.
Sinnmordendes weißes Feuer flammt hinter den Jalousien auf und schlägt ihn zurück.
Er stolpert zum Bett; er wälzt sich hinüber . . .
315 Da kommt das Phantom auf ihn zu. – Humpelnd kommt es; in schauderhafter Eilfertigkeit trotz halbgelähmter Glieder.
»Ah!« – kreischt es gellend. – »Was hast du mit mir gemacht!«
Und es stößt die bläulichen Hände vor; die Fetzen der Häkelspitze baumeln an den Fingernägeln . . .
»Du bist schuld! – – – Du allein! – – – Zehnmal gemordest hast du mich! – – –Ersäuft, mißhandelt, zers-tampft, zerschlagen hast du mich! – – – Ah! – –«
Unsinnige Angst drosselt an Grothusen: die Angst vor der Tiefe.
Wehren will er sich; wehren . . .
Da springt es ihn an. – Er heult auf.
Ein klirrendes Tier, wie eine Katze gestaltet, hängt ihm an der Brust; würgt ihn wie Blei.
Es wird schwarz um ihn. – – –
Sevao hatte sich schlechthin geweigert, diesmal den Teufel auszutreiben; – und um Folau in Bewegung zu setzen, hatte es langer Überredung bedurft. – Denn das Schwierigste, was dieser bisher unternommen, waren vorübergehende Besessenheiten gewesen, wie sie etwa mit Geburten zusammenhingen . . .
Kaum waren Tai, Petina und Folau in der Hütte angelangt, so traf auch Gerhart ein. Petina übernahm es, ihn mit Folau bekannt zu machen; es gab ein mächtiges Händeschütteln. Des Knaben Rede war wohlgefügt und lang; voll schwärmender Attribute, mit denen er den tief verehrten weißen Freund bedachte . . . In zehn Minuten wurde Gerhart zum Papst der Heilkunst; und Folau, der erleichtert begriff, daß man seine Anwesenheit unter diesen Umständen nur noch als Dekoration benötige, ließ sich auf seine natürlichen Polster nieder und lächelte mit zweiunddreißig Zähnen. – – Stumm sah man zu, wie Gerhart 316 den Kranken mit einem Gemisch von Kaffee und Whisky belebte.
Im Lauf einer halben Stunde endlich hatte Grothusen sich so weit erholt, daß er kreuzbeinig auf dem Bett sitzen konnte. – – Gerhart zündete, da es dämmrig geworden, zwei Zinklampen an. – – Grothusen schien ihn zu erkennen, obschon er sich jeder Bemerkung enthielt; er sah ihm scharf und aufmerksam zu.
Auf einmal, mit brüsker Stimme, verlangte er:
»Wann kommt der Sekt?«
Gerhart kam langsam mit der Lampe herüber und leuchtete den Kranken ab . . . Dann stellte er das Licht zurück und erwiderte mit Gleichmut:
»Ist heute zu spät. – Aber morgen vielleicht. – Bin fast sicher.«
Eifrig fragendes Geflüster erhob sich in der dunklen Ecke, wo das samoanische Trio hockte . . .
»Allright,« grunzte Grothusen; befriedigt. – – »Wenn er nur unterwegs ist. – Famose Idee das vom Gouverneur, he? . . . Nur wegen der paar ›Müller-Lieder‹ . . . Der Mann kennt Kunst, wenn er sie hört. Gebildete Menschen verstehen einander.«
Gerhart nickte bestätigend. – »Das tun sie.«
Eine Pause entstand.
Das fragende Getuschel in der Ecke verstärkte sich; ward deutlich hörbar. – – – Grothusen grübelte.
Plötzlich schrie er hastig: »Wer steckt dort hinten?«
Gerhart hob die Lampe und ließ einen Strahl auf die Gruppe fallen. »Keine Aufregung nötig,« sagte er dabei. – »Es ist nur Ihre Familie.« – – – Drei Gesichter – das grinsende Folaus und die angstvoll spähenden Tais und Petinas – lösten sich von der Wand der Dämmerung . . .
»Was ›Familie‹?!«
Ein erboster Aufschrei . . . Gerhart setzte die Lampe hastig zurück; sie klirrte und blakte auf.
317 »›Familie‹ nennen Sie das? – –Sind Sie verrückt? – – – Jagen Sie die Kanaker dort weg!«
Der Laut einer getretenen Schlange kam aus dem Dunklen. Petinas Ohr hatte das Wort erhascht, das alte üble Wort; das Wort, das er haßte . . .
»Jagen Sie sie weg!« – – – Blutunterlaufene Augen, voll Wut und Ekel, glommen aus der matten Kalkfarbe des Gesichtes dort im Bett . . . Das offene Dreieck eines Mundes stand darin, geformt von grotesker, rätselhafter Pein . . . Und hohl verröchelnd dann, ein drittes Mal, in ersterbender Beschwörung klang es auf:
»Jagen. . . . Sie . . . die . . . verdammten . . . Kanaker . . . hinaus . . .!«
Die Bettlade brach knirschend zusammen.
Im Rahmen der Bretter tobte ein dürrer Körper, wie ein gefangenes Tier. Und in das unablässige rhythmische Knirschen hinein sprach es langsam, warnend, mit klarer, wohllautender Männerstimme:
»Moso.« – – –
Jalousien klappten.
Geräusch enteilender Schritte verklang in der Nacht.