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Unten in Sunbury, am zweiten August nachmittags, gingen Marian, Elinor und Lord Jasper über einen schmalen Weg von einem reifen Weizenfeld in eine Schonung, wo die Sonne und die Blätter den grünen Boden abwechselnd mit Lichtflecken bestreuten.
»Macht das dich nicht vollkommen glücklich, Nelly?« fragte Marian.
»Es ist natürlich etwas Angenehmes, Farnkräuter zu sehen, die nicht in schleimigen Korkkästen stecken, und Kaninchen, die nicht an den Hinterbeinen aufgehängt sind, die Innenseite nach außen.«
»Haha!« sagte Lord Jasper. »Sie sind sehr genau. Ich bin glücklich, daß wir heute solchen schönen Nachmittag haben, da Sie zum erstenmal unsere Landschaft sehen.«
»Die Erde gibt mir einen Schauer des Entzückens jedesmal, wenn ich sie mit meinem Fuß berühre«, sagte Marian. »Ich möchte alle möglichen Tollheiten begehen. Ich glaube, ich bleibe immer hier, Jasper, wenn es mir Ihre Mutter gestattet. Aber ob sie das nun tut oder nicht, nach London gehe ich nie wieder.«
»Das ist eine Städteridee«, sagte Elinor. »Ich bin ein richtiges Mädchen vom Lande und weiß, wie wenig daran ist. Ein Jahr von seiner Einförmigkeit würde dich krank machen.«
»Sie werden aber wohl so vernünftig sein, wenigstens den Reiz der Neuheit zu genießen, solange er dauert«, sagte Lord Jasper.
»Hören Sie nicht auf sie«, sagte Marian. »Es ist eine Ehrensache für Nelly, immer erhaben zu sein über ihrer Umgebung. Sie müssen bedenken, sie war noch nie hier, und so fehlen ihr auch alle Erinnerungen, die mir sogar die Drahtzäune – ich hoffe, sie sind wie immer auch diesmal frisch gestrichen – angenehm machen. Siehst du die Buche, Nelly? Sobald wir daran vorbei sind, können wir die Kamine von Hall erblicken.«
»Nach der Anstrengung ihrer Reise wird Miß McQuench sich mehr für die Türe von Hall interessieren als für die Kamine.«
»Eine Eisenbahnreise von wenigen Stunden ermüdet mich nicht, wie das sonst bei den Leuten der Fall zu sein scheint«, sagte Elinor. »Jetzt sind wir wieder in der Sonne.«
Sie kamen aus der Anpflanzung auf eine weite Lichtung, in deren Mitte ein einstöckiges Gebäude stand mit hohen Kaminen, Giebeldach und Fenstern mit Querbalken im Tudorstil. Der Haupteingang befand sich unter einer von dünnen Eichenholzpfeilern getragenen Veranda, die mit Klematis und Kletterrosen bedeckt war.
»Genau gesprochen,« sagte Lord Jasper, »dies ist Hall Landhaus. Aber der Name wird nicht mehr gebraucht und wir nennen es prahlend Hall.«
»Das ist auch ganz richtig«, sagte Marian, »warum sollte das lieblichste Haus in England Landhaus genannt werden, weil man darin keine Treppen zu steigen braucht. Da geht der Wagen mit unserm Gepäck. Ich dachte, wir wären vor ihm angekommen. Ah! Da ist Tante.«
Marian eilte ins Haus hinein, um die Gräfin zu grüßen, die sie »Tante« nannte, obgleich sie nur entfernte Verwandte waren. Lord Jasper folgte langsam mit Elinor, deren Gesichtsausdruck, als sie die Umarmung und die Küsse beobachtete, die in der Halle vor sich gingen, nicht sehr freundlich war.
»Marian ist das Schoßkind meiner Mutter«, sagte Lord Jasper.
»Die arme Marian ist jedermanns Schoßkind«, entgegnete Elinor.
Lord Jasper sah sie argwöhnisch an. Er sowohl wie seine Mutter kannten Miß McQuench schon lange nach ihrem nicht sehr günstigen Ruf. Persönlich waren sie kaum mit ihr bekannt; und es war wohl sicher, daß sie sie nicht eingeladen hätten, wenn sie ohne diese Marians Zustimmung bekommen hätten.
»Ich muß sagen, ich stimme meiner Mutter vollständig bei in ihrer Ansicht«, sagte er ernsthaft.
»Wie gut das von Ihnen ist!« sagte Elinor. Dann eilte sie mit einem Zucken ihres Kopfes nach der Veranda und ging schnell zur Gräfin.
»Meine Liebe«, sagte Lady Sunbury, indem sie ihre Hand drückte und die Wangen küßte. »Ich freue mich sehr, Sie zu sehen. Sie sehen etwas blaß aus.«
»Oh, das macht nichts«, antwortete Elinor. »Ja, ich bin immer blaß; aber da ich außerordentlich leicht Sommersprossen bekomme, werde ich in einer Woche oder so ein genügend blühendes Aussehen haben.«
»Ich fürchte,« sagte die Gräfin, indem sie sich zu einem Lächeln zwang, »daß Sie den Aufenthalt hier sehr eintönig finden werden. Der Graf wird erst im Oktober von Zypern zurückkommen; und wir haben keine Gesellschaft außer Jasper, der den ganzen Tag im Laboratorium ist. Ich hatte auf Marmaduke gerechnet; aber er ist nach seiner verrückten Art nach Paris gefahren. Doch will er vor Ende des Monats hierher kommen.«
»Wo ist Constance?« fragte Miß McQuench.
»Sie kommt sofort, meine Liebe«, antwortete die Gräfin ernst. Dann wandte sie sich zu Marian und fuhr in ihrem früheren Tone fort: »Ihr müßt euch und mich also selbst unterhalten für die ersten vierzehn Tage. Ich habe Jasper versprochen, daß das Haus wie ein Kloster sein soll, bis er mit einer Untersuchung fertig ist, die ihn jetzt beschäftigt.«
»Es wird mehr wie in einer Einsiedelei sein«, bemerkte Elinor.
»Wir waren gewarnt,« sagte Marian, »und Ruhe ist gerade das, was wir brauchen. Außer, weil es sich um Constance handelt, gefällt es mir nicht einmal, daß Marmaduke kommt. Er ist sehr lästig.«
Eine junge Dame von etwa zweiundzwanzig Jahren, mit schmalem Gesicht und magerer, eckiger Figur, kam jetzt in die Veranda und umarmte Marian.
»Ach entschuldige, weil ich nicht früher gekommen«, sagte sie. »Ich war in der Meierei und habe für dich etwas Butter geholt, Marian: ich weiß, daß du sie gerne ißt. Es scheint mir einen Monat anstatt zwei Tage her, daß wir in Westbourne Terrace voneinander schieden. Bitte, komm herein und lege deine Sachen ab.«
»Kommt mit mir, Marian«, sagte Lady Sunbury. »Constance, willst du dich Elinors annehmen?«
Die vier Frauen gingen hinein. Einige Minuten später kam Constance in das Zimmer, in das ihre Mutter Marian geführt hatte.
»Ich hoffe, du hast Elinor nicht allein gelassen«, sagte Lady Sunbury schnell.
»Sie hat mich hierher geschickt, Mama«, sagte Constance. »Marian soll mir was bestellen, was ich sofort hören muß. Du darfst es aber nicht hören.«
»Ich dächte, du hättest warten können«, sagte die Gräfin.
»Unmöglich«, sagte Marian fröhlich, »wenn Nelly etwas haben will, dann darf man ihr nicht widersprechen. Ich sah in der Veranda, daß sie beschloß, Constance mit mir allein über etwas reden zu lassen – über etwas privates, Tante, von dem du natürlich gar keine Idee hast.«
»Ja, ich glaube wohl, ich muß wirklich gehen.«
»Bitte, Tante, aber komm in fünf Minuten wieder.«
»Gut; aber Constance, du mußt dir alle Mühe geben, daß Elinor sich nicht über unser Benehmen gegen sie zu beklagen braucht.«
Ehe Marian Zeit hatte, zu erklären, daß diese Vorsicht unnötig sei, war Lady Sunbury schon hinaus und auf die Veranda gegangen.
»Schon fertig!« sagte Lord Jasper, erstaunt, weil seine Mutter so schnell zurückkam.
»Ich habe Constance mit Marian allein gelassen. Da ist eine Botschaft von Marmaduke, über die wollen sie zusammen reden.«
»Lächerlich!« sagte Lord Jasper stirnrunzelnd.
»Jasper, warum sagst du so was? Warum soll man die arme Constance entmutigen?«
»Ich entmutige sie nicht. Sie hat mit mir noch nie ein Wort über Marmaduke gesprochen.«
»Du murrst, sobald man nur von der Sache spricht. Du solltest einsichtiger sein, Jasper, du gehst viel zu sehr in deiner Laboratoriumsarbeit auf. Constance ist nicht so eine gute Partie, sie hat nur fünftausend Mark im Jahr; und sie zieht nicht so die Männer an wie Florence und –«
»Was hat das damit zu tun? Lind macht sich keinen Strohhalm aus ihr. Warum sie ihm mit Gewalt aufnötigen. Wenn du sonst keinen für sie finden kannst, laß sie lieber ledig bleiben.«
»Du redest Unsinn, Jasper. Du hast kein Recht, zu behaupten, Marmaduke könnte sie nicht leiden.«
»Ich behauptete nicht, er könnte sie nicht leiden. Ich sagte nur, er mache sich nichts aus ihr.«
»Er mag heute etwas flatterhaft sein, aber sie wird prächtig zu ihm passen. Wenn du doch nur die Sache etwas vernünftig ansehen wolltest, Jasper –«
»Du meinst, wenn ich sie doch nur ebenso wie du ansähe. Nun, du weißt meine Meinung und ich kenne deine, und nun wollen wir jetzt davon aufhören. Was hältst du von Nelly McQuench?«
»Ich bin froh, daß sie hier ist, um Marians willen und teilweise auch um ihrer Mutter willen. Marian bleibt dabei, daß sie reizend sei, aber –! Ich kann auf die Dauer keinen unruhigen Menschen ertragen. Von einem Landmädchen darf man ja keine feinen Manieren erwarten, aber ich verstehe es kaum, wie Lydia Linds Tochter so jede Spur von Anmut fehlen kann. Das Mädchen kann nicht einen Augenblick hier stillsitzen. Sie führt die Menschen an, statt mit ihnen zu reden.«
»Sie macht mich oft wütend. Aber ich kann sie doch leiden. Sie ist ein Hitzkopf, glaube ich.«
»Ein Hitzkopf? Ihre schlechte Laune ist ja bekannt. Ich verstehe nicht, wie Marian, die doch das angenehmste Mädchen ist, sie zur Freundin wählen konnte.«
»Gegensätze ziehen sich an. Marian und Nelly sind einer das Gegenstück des andern. Da kommen sie.«
Lady Sunbury wandte sich um und sah Marian und Constance Arm in Arm nähertreten. Miß McQuench ging neben ihnen her bis zum Torweg, hier blieb sie stehen und folgte ihnen auf den Fersen, wobei sie in Gedanken versunken ihre Schuhe betrachtete. Lord Jasper beobachtete sie ängstlich und erwartete jeden Augenblick, sie würde stolpern. Plötzlich hörte man einen Gong erdröhnen.
»Welch ein lauter Schall!« sagte Marian.
»Das ist Jaspers Lieblingspauke«, sagte Constance. »Seine Experimente sind jetzt auf das musikalische Gebiet übergegangen, und er hat unsere liebe alte Uhr verbrannt, weil sein Gehilfe sagte, sie tauge nichts mehr. Dieses Dröhnen ruft zum Diner. Wir frühstücken mitten in der Nacht, haben unser zweites Frühstück am Morgen, dinieren mittags und gehen nachmittags zu Bett. Niemand zieht Gesellschaftskleidung an, weil Jaspers wissenschaftliche Liederlichkeit eine dauernde geworden ist.«
Nach dem Essen gingen sie eine halbe Stunde in den Salon, wo ihre Wirtin den Wunsch ausdrückte, Miß McQuenchs Klavierspielen zu hören. Infolgedessen spielte Miß McQuench die Polonäse in A-Moll, und Lord Jasper lauschte. Lady Sunbury plauderte während des Vortrages mit Marian. Als es vorbei war, sah sie auf und sagte: »Danke sehr, es war sehr hübsch«, dann nahm sie die Unterhaltung wieder auf. Lord Jasper unterhielt sich mit Elinor über Chopin und bat sie, zu singen. Als sie sich weigerte, wandte man sich an Marian, die » The Banks of Allan Water« sang.
»Was hast du für eine süße Stimme, Liebe!« sagte Lady Sunbury. »Du mußt dir einige hübsche Lieder besorgen und etwas italienische Musik lernen.«
»Ich denke, die alten Balladen sind am schönsten«, sagte Marian.
»Sie sind sehr schön, Liebste,« sagte Lady Sunbury sanft, »aber sie sind etwas abgedroschen, und die Sprache ist roh. Man muß nicht von Leichen singen.«
»Und von der Aufführung dieser Krieger ganz zu schweigen«, sagte Elinor.
Lord Jasper lachte. Die Gräfin ignorierte die Bemerkung und schlug einen Spaziergang vor, wenn die Mädchen nicht zu ermüdet seien. Sie sahen sich den Obstgarten an, die Meierei und den Bienenstand. Lord Jasper ging voraus mit Miß McQuench, ohne daß er einen richtigen Unterhaltungsgegenstand finden konnte. Er fürchtete sich vor ihrer schlechten Laune, und die Miene, die sie gerade jetzt machte, sah nicht sehr beruhigend aus.
»Diese Gegend erinnert mich an meine Kinderjahre«, sagte sie endlich.
»Ich gratuliere Ihnen zu dieser Empfindung«, sagte er. Sie sah verächtlich nach ihm hin. »Sicherlich,« fügte er verwirrt hinzu, »jeder weiß, daß die Kindheit die ruhigste Zeit des Lebens ist.«
»Jeder ist ein Narr. Die Kindheit ist eine elende Periode hilfloser Abhängigkeit.«
»Oh, dann halten Sie nichts von den allgemeinen Ansichten?«
»Ich glaube nicht, daß man an die allgemeinen Ansichten allgemein glauben kann. Sie sind nur ein allgemeines Übereinkommen, sich über unangenehme Tatsachen hinwegzutäuschen. Wenn ein Ding, das weiß sein müßte, schwarz ist, dann ist es viel leichter, zu behaupten, es sei weiß, als sich wirklich die Mühe zu geben, es weiß zu machen.«
»Zweifellos liegt darin etwas Wahres; aber Sie sind wirklich sehr streng. Es fängt an, etwas dunkel zu werden, wollen wir nicht umkehren?«
»Mir ist es gleich.«
Auf dem Rückwege fühlte Lord Jasper noch mehr als vorher das Fehlen eines nicht aufregenden Gesprächsgegenstandes.
»Heute abend wird es früher dunkel als sonst«, sagte er.
»So? Wirklich?« antwortete sie abweisend.
»Viel früher. Sind Ihre Schwestern jetzt in Wiltshire?«
»Ich glaube, ja.«
»Haben Sie in der letzten Zeit nichts mehr von ihnen gehört?«
»Nein, sie schreiben selten – in Wirklichkeit überhaupt nicht.«
»Nun, keine Nachricht ist gute Nachricht. Wie geht es Mistreß McQuench?«
»Ich weiß es nicht. Wenn sie krank wäre, würden sie mir schon geschrieben haben – wenigstens wenn sie ernsthaft krank wäre.«
»Sie haben ganz recht, daß sie Sie nur bei ernsthaften Vorfällen beunruhigen. Ich glaube, Familienzuneigung wird oft von gedankenlosen Leuten übertrieben.«
»Es besteht keine Gefahr, daß in unserer Familie zu übertriebene Zuneigung herrscht.«
Lord Jasper sah sie von der Seite an und schwieg.
Sie kehrten zum Landhaus zurück und tranken Tee. Dann wollte Lord Jasper noch etwas Musik haben und setzte sich mit Marian hin, um Duetts zu spielen. Miß McQuench las. Constance arbeitete an einem wollenen Schal. Lady Sunbury setzte ihre Brille auf, legte eine Zeitung auf ihre Knie und schlief. So verging eine Stunde.
»Ach, Jasper,« sagte Marian, »mir tut der Rücken weh. Ich denke, wir haben genug gespielt. Um welche Zeit gehen wir schlafen?«
»Sobald Sie wollen«, antwortete er.
»Ich bin sehr schläfrig«, sagte Marian.
»Ich auch«, sagte Miß McQuench, indem sie ihr Buch laut zuklappte. Die Gräfin fuhr zusammen und erwachte.
»Mein Gott!« sagte sie verdrießlich. »Wieviel Uhr ist es?«
»Zeit, zu Bett zu gehen, Mama«, sagte Constance.
Später, als Marian im Bett lag, kam Elinor in einem grotesken roten Morgenkleid in ihr Zimmer und setzte sich auf den Fuß des Bettes wie auf einen Damensattel.
»Nun, Nelly«, sagte Marian. »Wie gefallen dir unsere Verwandten?«
»Nicht sehr. Die Gräfin ist, was sie eine Weltdame nennen. Es freut mich, daß sie mich verabscheut, weil es unerträglich ist, wenn man von jemand geliebt wird, den man nicht leiden kann. Jasper scheint ja ein harmloses Geschöpf zu sein. Er ist kahl wie ein ›Mann von vierzig‹; und das Haar, das er noch hat, wird grau.«
»Er ist erst fünfundzwanzig Jahre und hatte immer graue Haare, der arme Junge.«
»Glücklicherweise ist er nicht so eingebildet, wie ich von ihm erwartete. Aber er wird uns in einer Woche ebenso langweilen wie alle andern.«
»Du wirst ihn sehr wenig sehen. Er ist immer in seinem Laboratorium.«
»Um so besser. Ich wollte, er würde seine Mutter auch dorthin nehmen und an ihr mit elektrischen Schlägen experimentieren.«
»Ach, sie ist eine so schöne alte Dame. Arme liebe Tante! Und sie ist wirklich so gütig.«
»Unsinn, Marian! Ich hasse das Mitgefühl, das immer Entschuldigung findet für niedrige Gesinnung und Gewöhnlichkeit. Ich will nicht sagen, daß die alte Ruine –«
»Oh, Nelly.«
»– zur Hefe der menschlichen Gesellschaft gehört. Aber glaubst du, daß sie zur Creme gehört?«
»Vielleicht nicht gerade zur Creme, aber –«
»Nun, liebst du abgerahmte, verdorbene Milch?«
»Ich liebe es nicht, wenn eine Person von deinem Gewicht auf meinen Beinen sitzt und mich mit Nadelstichen quält.«
»Wer Ausreden macht, gibt zu, daß er besiegt ist«, sagte Elinor und stand auf. »Wir beiden haben dieselbe Meinung über die Gräfin, nur habe ich ein boshaftes Vergnügen daran, die Schlechtigkeit anderer zu enthüllen, und du hast ein schwächliches Verlangen, sie zu verbergen; wir sprechen nur verschieden über sie.«
»Aber Nelly, du übertreibst schrecklich. Wenn du Leute triffst, wie sie gewöhnlich in der Gesellschaft vorkommen, die keinen besonders weiten Horizont haben, weil ihnen besondere Neigungen und Pläne fernliegen, so sprichst du von ihnen, als wären sie Unmenschen oder Verbrecher.«
»Sie sind auch Unmenschen. Verbrecher bemitleide ich im allgemeinen. Einbrecher stehlen uns Löffel, aber sie behelligen uns nur mit ihrer Anwesenheit, wenn wir schlafen; so daß wir keine moralische Erniedrigung durch ihre Anwesenheit erleiden. Außerdem dürfen wir sie niederschießen, während wir den andern schmeicheln müssen.«
Marian lächelte schläfrig von ihrem Kissen. »Gib dir keine Mühe, Nelly«, sagte sie. »Ich kann nicht antworten. Deine Marian ist heute nacht mit aller Welt in Frieden.«
»Deine Nelly möchte Feuer auf dich regnen lassen, eine halbe Stunde lang, und dann von neuem anfangen. Du liegst ja großartig eingewickelt.«
»Ja. Constance brauchte fast fünf Minuten, ehe ich bequem lag.«
»Und dann sagte sie ›Gute Nacht, Liebling‹ und küßte dich zweimal, nicht wahr?«
»Dreimal. Arme Constance! Es ist eine Schmach, daß wir über sie lachen. Sie ist ein so liebes, kleines Ding.«
»Sie ist ein sentimentaler kleiner Idiot – wie ein Efeusproß, der sich an alles festklammert, wohin er mit seinen Klauen kommt. Sie kam auch zu mir herein, aber ihre schwärmerische Natur kühlte sich bei mir ab; und ich – da ich weich bin gegen bekümmerte Leute – mußte sie noch ein- oder zweimal ermutigen. Dann kam sie mit einem überströmenden ›Gute Nacht, teuerste Elinor‹, und gab mir mit einem Kuß Ruhe. Sie gibt sehr feuchte Küsse; ich hätte ein Handtuch gebraucht, wenn sie mir so viele gegeben wie dir. Glücklicherweise habe ich eine vorspringende Nase, einen böse aussehenden Mund und ohne Zweifel in der Familie einen Ruf, daß ich beißen kann. Dein hübscher Mund und deine gerade Nase setzen dich allen feuchten Zärtlichkeiten unseres Geschlechts aus. Ich werde Constance einmal erzählen, daß wirklich vornehme Leute sich niemals Freiheiten gegeneinander herausnehmen. Das wird sie etwas zurückhaltender machen, wenn es möglich ist.«
»Sei nicht grausam, Nell. Es gab eine Zeit, in der wir uns auch zu küssen pflegten. Damals begannen alle unsere Briefe ›Meine Teuerste‹ und endeten ›Deine dich immerdar liebende‹.«
»Ja. Wir glauben immer, daß unsere besseren Gefühle nur uns selber eigentümlich sind, und glauben wunders welche Mühe es einen andern kosten müsse, sie zu verstehen oder sie mitzufühlen. Ich zweifle nicht, wenn Constance wüßte, daß wir uns seit Jahren weder geküßt noch ›Liebste‹ zueinander gesagt haben – von einer oder zwei zufälligen Gelegenheiten abgesehen –, sie würde nicht glauben, daß wir zur Freundschaft fähig wären. Oder vielmehr, sie würde es nicht von mir glauben. Sie würde mir alle Schuld zuschieben und wahrscheinlich einen hübschen kleinen Plan ersinnen, um den Weg zu deinem Herzen zu finden und dich mit jener verzehrenden Liebe zu versehen, zu der ich nicht fähig bin und nach der du natürlich dürstest.«
Marian, todmüde und zu faul, um zu lachen, zeigte nur ihre Zähne zu einem Lächeln. Nach einer Pause machte Elinor plötzlich das Licht aus und verließ das Zimmer.