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Im Frühjahr, achtzehn Monate nach dem Besuch seiner Tochter in Sunbury Park, sprach Mr. Reginald Harrington Lind in einem Hause auf dem Chester Square, Belgravia, vor und fragte nach Mrs. Douglas. Er wurde zu einer Witwe geführt, die etwas älter war als er selbst und ihn mit ausgesprochener Freude empfing. Als er Platz genommen hatte, war ihr erstes, eine neue Photographie von einem kleinen Seitentisch zu nehmen und sie ihm ohne ein Wort zu überreichen, indem sie mit sichtlichem Stolz und voller Aufregung darauf wartete, daß er sie erkennen werde.
»Prachtvoll, prachtvoll«, sagte Mr. Lind. »Er muß uns auch eine geben.«
»Glauben Sie, daß der Bart ihn entstellt hat?« fragte Mrs. Douglas ängstlich.
»Gewiß nicht, er steht ihm sogar besser«, sagte Mr. Lind entschieden. »Ich darf wohl behaupten, daß Sie froh sind, ihn wieder bei sich zu haben. Ach ja, ja.« Mrs. Douglas' Augen antworteten ihm. »Erzählte er Ihnen, daß er mich getroffen hat? Ich sah ihn letzten Mittwoch zum erstenmal seit seiner Rückkehr nach London. Wie lange ist er fortgewesen?«
»Zwei Jahre«, antwortete sie mit trüber Betonung, als ob eine so lange Abwesenheit wohl kaum glaublich sei. »Zwei lange Jahre. Er hat sich in Paris aufgehalten, in Venedig und in Florenz. Einen Monat hier, eine Woche dort, überall unbefriedigt. Er wäre schließlich geradeso glücklich bei mir zu Hause gewesen.«
»Ja«, sagte Mr. Lind mit einer gewissen ergebenen Sentimentalität. »Aber die Kinder sind immer bereit, uns zu verlassen, wenn ihre Flügel stark geworden.«
»Sholto ist trotzdem sehr gut zu mir. Es ist doch ganz natürlich für ihn, daß er die Abwechslung sucht. Man muß Anstalten treffen, ihm bald ein eigenes Heim einzurichten. Wie geht es Marian?«
»Nun,« sagte Mr. Lind lächelnd, »ich denke, sie ist noch frei, und sie will nichts von der Liebe wissen. Sie pflegt gerne zu sagen, daß sie sich nie verheiraten werde und dergleichen. Das ist eine neue Mode bei den jungen Damen – wenn man das bei ihnen eine neue Mode nennen will, daß sie etwas sagen, was sie nicht meinen.«
»Marian wird sich sicherlich verheiraten«, sagte Mrs. Douglas. »Sie muß schon Anträge erhalten haben. Es gibt wenige Eltern, die nicht Ursache haben, Sie zu beneiden.«
»Wir sind beide in dieser Beziehung glücklich gewesen, Mistreß Douglas. Sholto ist ein ganz hervorragender junger Mann. Ich wollte, ich wäre mit halb soviel Aussichten ins Leben getreten. Ich habe schon einmal gedacht, er würde sich vielleicht mit Marian verloben.«
»Sind Sie auch ganz sicher, Mister Lind, daß Sie keinen Anstoß daran nehmen, daß er nur ein einfacher Gentleman ist?« fragte Mrs. Douglas in stolzer Bescheidenheit. »Man hat etwas davon gemunkelt, Sie wollten einen Titel für Marian haben.«
»Meine liebe Mistreß Douglas, wir haben genug Titel in unsern Familien und verstehen ihren wahren Wert zu schätzen. Es würde mich sehr schmerzen, wenn Marian durch eine unpassende Heirat die Stellung verlöre, die ich imstande bin, ihr zu geben. Ich würde mich entschieden einer solchen Verbindung widersetzen. Aber es gibt wenig englische Gentlemen, die sich einer solchen Abkunft rühmen können wie Sholto. Der Name Douglas ist historisch – viel mehr als der Name Lind, der eigentlich gar nicht englischer Abkunft ist. Außerdem hat Sholto ganz bemerkenswerte Talente. Er wird sicherlich die politische Laufbahn einschlagen, und da ist bei seinen Beziehungen und Fähigkeiten die Peerswürde alles andere als eine nur entfernte Möglichkeit.«
»Sie wissen, daß Sholto ganz schuldenfrei ist. Sein Vermögen ist nicht belastet. Ich glaube, selbst Marian, so gut und lieblich sie ist, wird nicht leicht einen Mann finden, der ihrer würdiger ist als er. Aber ich bin ja bekannt, daß ich etwas vernarrt in meinen lieben Jungen bin. Das kommt daher, weil ich ihn besser kenne als irgend sonst jemand. Doch wir wollen über etwas anderes reden. Also – ach ja, ich bekam dieser Tage einen Prospekt von einer Citygesellschaft, und welchen Namen fand ich auf der Liste als Direktor? Reginald Harrington Lind! Und Lord Jasper ebenfalls! Bitte, wollen denn alle in der Familie Geschäftsleute werden?«
»Sie haben recht, das Unternehmen hat einen etwas kaufmännischen Anstrich, und –«
»Stellen Sie sich das vor, Sie reden von kaufmännischem Anstrich!«
»Gewiß. Es muß Ihnen seltsam vorkommen. Es ist jetzt für Leute in meiner Stellung nicht mehr ungewöhnlich, sich an solchen Spekulationen zu beteiligen. Wir fangen an, uns unserer Untätigkeit zu schämen. Wir haben ebensowohl Pflichten wie Vorrechte. Ich habe meinen Namen dazu hergegeben und ein paar Aktien genommen, hauptsächlich auf Empfehlung Jaspers und meines eigenen Bankiers. Dieser versicherte mir, er habe für sich selbst so viele Aktien genommen, als er bekommen konnte. Es ist zweifellos, daß Jasper und Mister Conolly da eine ganz außerordentliche Entdeckung gemacht haben, eine Entdeckung, die sehr hohe Zinsen und Einkünfte bringen wird.«
»Was ist das für eine Entdeckung? Ich habe den Prospekt nicht ganz verstanden.«
»Nun, es ist der Conolly-Elektromotor.«
»Ja, das weiß ich.«
»Und er – er wirft alle andern Arten Maschinen zu Boden. Ich kann es Ihnen nicht wissenschaftlich erklären: Sie würden mich nicht verstehen. Es ist, kurz gesagt, eine Methode, Maschinen durch Elektrizität zu treiben, und zwar billiger als durch Dampf. Sie begründet sich in der Hauptsache auf Kraftersparnis und auf sonstige technische Verhältnisse. Sie müssen einmal kommen und die Maschinen arbeiten sehen.«
»Ja, das müßte ich. Und ist es wahr, daß Mister Conolly ein gewöhnlicher Arbeiter war?«
»Ja, ein Praktiker ohne Zweifel, aber von sehr guter Erziehung. Er spricht fließend Französisch und Italienisch und ist ein hervorragender Musiker. Alles in allem ein Mann von ungewöhnlichen Kenntnissen und keineswegs ohne Kultur.«
»Was Sie sagen! Jasper hat mir ja einmal ähnliches von ihm erzählt, Lady Sunbury gab ihm aber einen ganz andern Charakter. Sie versicherte mir, er sei aus der Hefe des Volkes entsprungen, und sie habe die größte Mühe gehabt, ihn auf seinen gebührenden Platz zu verweisen. Doch man weiß ja, daß sie ihre Worte nicht so genau wägt, wenn sie jemand nicht leiden kann. Aber sie dürfte Bescheid wissen, denn er war doch Diener in Jaspers Laboratorium – wenigstens erzählte sie so.«
»Oh, sicherlich kein Diener. Jasper nennt ihn seinen Lehrer. Die Gräfin kann Jaspers wissenschaftliche Pläne nicht ausstehen und wendet sich gegen jeden, der ihn dazu ermutigt. Doch ich weiß wirklich nichts von Mister Conollys Abstammung. Sein Benehmen, wenn er in unsern Vorstandsversammlungen erscheint, ist ruhig und nicht unangenehm. Marian hat ihn, glaube ich, im vorvorigen Jahre in Sunbury Park kennengelernt und etwas wissenschaftlichen Unterricht bei ihm gehabt. Er war damals natürlich noch ganz unbekannt. Das erfuhr ich erst vor etwa einem Monat, als er in der Kunstgesellschaft einen Vortrag über seine Erfindung hielt. Ich besuchte die Versammlung mit Marian, und als sie vorüber war, stellte ich ihn ihr vor und erfuhr zu meinem Erstaunen, daß sie sich bereits kannten. Er sagte mir später, Marian habe einen ungewöhnlichen Grad von Verständnis beim Studium der Elektrizität gezeigt und ihn damals aufs höchste interessiert.«
»Ohne Zweifel. Marian interessiert jeden, und selbst große Entdecker sind in ihrer Jugend nur Menschen.«
»Ja, vielleicht. Aber sie muß doch eine gewisse Befähigung gezeigt haben, sonst würde sie ihm niemals eine solche Bemerkung entlockt haben. Er denkt nur an seine Arbeit.«
»Und was gibt es Neues über den Familienstrolch?«
»Meinen Sie meinen Reginald?«
»Lieber Gott, nein! Welch eine Schmach, den armen Reggy einen Strolch zu nennen! Ich meine natürlich den jungen Marmaduke. Ist es wahr, daß er jetzt eine Tochter hat?«
»O ja. Es ist wirklich wahr.«
»Der Abscheuliche! Und er war doch immer so ein guter Junge.«
»Ja, aber er ist schrecklich rücksichtslos. Ungefähr vor zwei Wochen gingen Marian und Elinor nach Putney zu einer privaten Ausstellung in Mister Scotts Atelier. Auf dem Rückwege trafen sie am Fluß Marmaduke und ließen sich höchst überflüssigerweise mit ihm in ein Gespräch ein. Er bat sie, mit nach Hammersmith zu seinem Boot zu kommen, er hätte ihnen da etwas zu zeigen. Elinor, scheint es, hatte soviel Verstand, ihn zu fragen, ob es auch etwas sei, was sie sehen dürften. Aber er antwortete auf seine Ehre, es sei etwas ganz Unschuldiges, und versprach ihnen, sie würden entzückt davon sein. So stimmten sie denn törichterweise zu und gingen mit ihm nach Hammersmith, wo sie den Fluß verließen und ein Stück mit ihm übergingen. Auf einer Straße irgendwo in West Kensington ließ er sie allein und kam nach etwa fünfzehn Minuten mit einem kleinen Mädchen zurück. Er stellte es wirklich Marian und Elinor als Familienmitglied vor und sagte, sie wären wohl entzückt, es zu sehen.«
»Ja, ja. Und was taten sie?«
»Marian, scheint es, hat nur die Schönheit des unglücklichen Kindes bewundert. Sie teilte mir ernsthaft mit, sie habe Marmaduke alles vergeben, als sie sah, wie vernarrt er darin war. Elinor hat ja stets eine Neigung gezeigt, ihn zu verteidigen –«
»Sie ist vollständig verdreht und war es auch schon immer.«
»– und dieser Fall hat ihm natürlich bei ihr nichts geschadet. Dann aber, nachdem sie das kleine Vieh genügend gehätschelt und gepriesen hatten, um Mister Marmadukes väterlichen Gefühlen genug zu tun, kamen sie nach Hause und begannen nun, anstatt ihren Mund zu halten, allen unsern Verwandten zu erzählen, was für ein liebes, kleines Kind Marmaduke hätte, und wie sie der Ansicht seien, man dürfe es nicht für die Torheiten seines Vaters bestrafen. Tatsächlich, ich glaube, sie hätten es adoptiert, wenn ich es gestattet hätte.«
»Das ist die ganze Marian. Einige von ihren Ansichten werden ja sehr nützlich für sie sein, wenn sie einmal in den Himmel kommt, aber auf dieser verdorbenen Welt wird sie damit noch schön in Verlegenheit kommen, wenn Sie nicht auf sie achtgeben.«
»Ich fürchte es. Deshalb ertrage ich auch einen gewissen Grad von Zynismus in Elinors Charakter, der mir sonst sehr unangenehm ist. Es ist oft gut, wenn Marians Überschwenglichkeiten gedämpft werden. Unglücklicherweise hat der Vorfall in Hammersmith noch weiteres Unheil angerichtet. Zufällig interessiert sich meine Schwester Julia für ein Findlingsheim – eine halb private Anstalt, in der ein Dutzend Kinder für den dienenden Stand erzogen werden.«
»Ja, ich habe es mir angesehen. Es ist sehr sauber und hübsch. Aber sie behandeln wirklich die armen Mädchen, als ob sie dankbar sein müßten, daß sie überhaupt das Leben hätten. Ihre Kleidung ist so häßlich.«
»Möglich. Ich versichere Ihnen aber, daß man sich sehr um Plätze darin bewirbt, und daß es sehr schwierig ist, einen zu bekommen. Julia ist Patronin. Marian erzählte ihr von Marmadukes Kind, und es war zufällig in dem Heim ein Platz frei, weil eins von den Mädchen an einem Gehirn- und Rückenmarksleiden gestorben war. Julia, die vielleicht mehr Frömmigkeit als Taktgefühl hat, schrieb an Marmaduke und bot ihm an, seine Tochter vorzuschlagen, indem sie die Vorteile beschrieb, die das Heim armen, verlorenen Kindern bietet. In ihrem Verlangen, Marmaduke ebenfalls zu retten, vertraute sie den Brief George an, der es auch unternahm, ihn abzuliefern und Julias Absichten durch persönliche Zusprache zu fördern. George hat mir die Begegnung beschrieben und mir gezeigt – es tut mir leid, das zu sagen –, wieviel verborgene Roheit unter dem anscheinend so offenen, fröhlichen, sorglosen Äußern Marmadukes sich verbirgt.«
»Nun, ich wundere mich nicht über seine Ablehnung. Natürlich hätte er wissen müssen, daß das Anerbieten nur aus den besten Motiven erfolgt war.«
»Ablehnung! Ein Gentleman kann ein Anerbieten immer mit Würde ablehnen. Marmaduke war pöbelhaft. George – ein Geistlicher – entging einer direkten Mißhandlung nur durch das Dazwischentreten dieses Weibes und die rechtzeitige Bemerkung, daß er nur deshalb die Botschaft übermittelt hätte, um zornige Gefühle, die dadurch entstehen könnten, zu beschwichtigen. Marmaduke drückte sich wiederholt in der häßlichsten Weise über seine Tante und ihr Anerbieten aus, und George hielt ihn nur mit der größten Schwierigkeit davon ab, ihr einen höchst beleidigenden Brief zu schicken. Julia war hierdurch so verletzt, daß sie sich bei Dora – Marmadukes Mutter – beklagte, die man bis jetzt noch in Unwissenheit über seine Handlungsweise gelassen hatte. Und jetzt ist es schwer, zu sagen, wo das Unheil enden will. Dora ist ganz vernichtet durch die Entdeckung, welches Leben ihr Sohn führt. Marmaduke hat natürlich auch die Gunst seines Vaters verscherzt, der so weit gegangen war, daß er ihm sogar von Zeit zu Zeit erlaubte, zu Hause zu erscheinen, um Dora im Dunkeln zu halten. Jetzt, da sie von allem unterrichtet ist, ist es mit allem vorbei, und sie haben ihm das Haus verboten.«
»Himmel, welch eine Menge Unheil!«
»Das hab' ich auch Marian gesagt. Hätte sie, wie es recht gewesen, sich geweigert, mit Marmaduke den Fluß hinaufzugehen, dann wäre alles nicht gekommen. Sie sieht es natürlich anders an und wirft alle Schuld auf ihre Tante Julia, deren Anerbieten natürlich wenig ihren eigenen Ansichten über eine Versorgung des Kindes entspricht.«
»Wie steht es denn bei Marmaduke mit dem Geld? Ich nehme an, sein Vater gibt ihm nichts mehr.«
»Doch wohl. Er drohte zwar und ging soweit, Marmaduke in diesem Sinne durch seinen Anwalt zu schreiben. Aber er hatte die außerordentliche Unverschämtheit, ihm zu antworten, daß er dann für sich selbst sorgen und eine Ehe eingehen müßte, mit der seine Familie wenig einverstanden sein werde. Er fügte noch hinzu, wenn die Familie die Beziehungen zu ihm abbräche, dann könnte sie nicht erwarten, daß er bei seinen künftigen Beschlüssen auf ihre Gefühle Rücksicht nehme. Also auf Englisch, er drohte, das Frauenzimmer zu heiraten, wenn man ihm seine Einkünfte abschnitte. Er erreichte auch seinen Zweck, denn an seinen Einkünften wurde nichts geändert. Und wirklich, da er selbst Geld hat und da ein Teil des Vermögens an ihn übertragen ist, ist es viel leichter, ihn unnütz zu reizen, als ihn materiellen Entbehrungen zu unterwerfen.«
»Der junge Strolch! Ich wundere mich, daß er es so gut verstand, seinen Vorteil zu wahren.«
»Er hat es neuerdings niemals an Scharfsinn fehlen lassen. Ich vermute, er ist unter guter, oder soll ich sagen raffinierter Leitung.«
»Haben Sie diese – diese Leitung jemals gesehen?«
»Nicht in Person. Ich gehe jetzt selten in ein Theater. Aber ich kenne sie natürlich von den zahlreichen photographischen Abbildungen, die in den Schaufenstern zum Kauf ausgestellt sind.«
»Ja, ich glaube, ich habe sie gesehen.«
»So – und nun fürchte ich, Mistreß Douglas, daß ich Sie sehr lange aufgehalten habe.«
»Warum kommen Sie nicht öfters? Dann würden Sie nicht soviel von Ihrer Zeit für einen einzelnen Besuch verschwenden.«
»Ich wollte, ich hätte die Zeit. Ich habe nicht mehr so viel Muße, um mich zu erholen, wie ich früher hatte.«
»Ich bin dessen nicht ganz sicher. Aber jedenfalls werden wir immer gern wieder einmal miteinander plaudern. Über die lieben Kinder sind wir doch einig, glaube ich?«
»Von Herzen. Von Herzen. Adieu.«