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Zwei Monate vergingen. Es gingen auch der Winter und das Frühjahr vorüber, und der Sommer kam. Aber das Verhältnis von Schwarz zu Potkanska änderte sich nicht. Schwarz liebte sie, und sie liebte ihn, und die Zeit verging unter beiderseitiger Vergötterung. Doch bald warf der Zufall einen Schatten zwischen sie.
An einem Sommertage band die junge Frau die Bänder ihres kleinen blauen Hutes unter dem Kinn fest, legte einen Umhang um die Schultern und ging mit Schwarz spazieren, wobei sie seinen Arm nahm.
Die Sonne schien hell. Die Luft war von Staub erfüllt, und es herrschte eine drückende Hitze, obgleich es schon gegen sechs Uhr war. Es war ein Tag, an dem alle Leute ohne Beschäftigung spazieren gingen. Schwarz begegnete vielen Bekannten und begrüßte sie höflich. Viele blickten mit Neid dem Pärchen nach. Schwarz war gewachsen, hatte ein männlicheres Aussehen erhalten, und sein Gesicht hatte einen ernsten, selbstzufriedenen Ausdruck.
Die junge Frau sah ganz wie ein junges Mädchen aus. Der Wind spielte mit den Bändern ihres Hutes und mit ihrem Umhang, wodurch ihr schlanker Wuchs sichtbar wurde. Indem sie sich graziös auf den Arm ihres Begleiters stützte, blickte sie bald nach ihm, bald nach der Sonne, und freute sich, als ob sie zum zweiten Male zur Welt gekommen wäre. Schwarz achtete mehr auf sie als auf die umgebende Menge.
Wir werden nicht ihr Gespräch wiederholen, da es für andere keine Bedeutung hätte und nur für sie voll Entzücken war. Doch sprachen sie auch von Ernstem.
Potkanska bat Schwarz, sie nach dem Grabe ihres Mannes zu führen.
»Im Sommer herrscht auf einem Kirchhof Schatten und Kühle,« sagte sie, »und ich war schon lange nicht mehr dort. Doch kann ich ihn nicht vergessen, obgleich Du seine Stelle vollkommen eingenommen hast, aber erlaube mir, zuweilen für ihn zu beten.«
Natürlich war es Schwarz sehr gleichgültig, für wen und warum sie betete, und deshalb antwortete er ihr mit einem nachsichtigen Lächeln: »Gute Helene, denke an den Verstorbenen; nur vergiß darüber nicht die Lebenden,« fügte er hinzu, indem er den Kopf zu ihr herabneigte. Sie stützte sich leicht auf seinen Arm, blickte ihm in die Augen und errötete wie ein junges Mädchen.
Schwarz bedeckte mit seiner offenen Hand ihr Händchen, das sich auf seinen Arm gestützt hatte, und war … vollkommen glücklich.
Sie gingen nach dem Kirchhof. Unterwegs begegneten sie Augustinowitsch mit einer Cigarre im Munde, in Begleitung von zwei Damen, von denen die eine die Mutter der anderen war. Augustinowitsch führte die letztere am Arm, die Mutter war einige Schritte zurückgeblieben. Augenscheinlich gingen ihr die jungen Leute zu schnell, und sie war auch von der Hitze belästigt. Augustinowitsch schien sehr gesprächig zu sein, denn das junge Mädchen blieb zuweilen stehen, um zu lachen.
Als sie bei Schwarz vorübergingen, blinzelte er mit den Augen, was bedeuten sollte, daß er in diesem Augenblick mit der Welt und der heutigen Ordnung zufrieden sei.
Schwarz fragte Helene nach Augustinowitsch.
»Von Ansehen kenne ich ihn,« erwiderte sie, »obgleich ich mich seines Namens nicht erinnern kann. Nach Kasimirs Tode habe ich ihn oft gesehen, aber dann habe ich ihn aus dem Gesichtskreis verloren.«
»Das ist der begabteste junge Mann, den ich jemals gekannt habe,« bemerkte Schwarz. »Er sagte mir, daß er auch in Dich verliebt war.«
»Warum sagst Du mir das?«
»Ohne besonderen Grund. Aber es ist doch merkwürdig, warum alle sich von Dir so angezogen fühlen?«
»Das ist auch das einzige Glück, das ich mit auf die Welt gebracht habe. Du glaubst nicht, wie traurig meine Kindheit war, Du kennst noch nicht meine Lebensgeschichte. – Ich wurde in einem reichen Hause erzogen, dessen Besitzer für mich sorgte wie für ein eigenes Kind. Meine Mutter habe ich nie gekannt. Nach seinem Tode wurde ich von seinen Erben mit Beleidigungen überhäuft; man sandte mich in die Küche, um mit den Dienstboten zu arbeiten, und eines Tages sah ich mich genötigt, zu fliehen, und ging nach Kiew, wo mich ein sehr guter alter Mann aufnahm. Er beschützte mich und liebte mich wie eine Tochter und nannte mich ›Leletschka‹. Bald aber starb auch er und hinterließ mir keine Mittel zum Leben. Dann wurde ich mit Kasimir bekannt. Du wirst Dich wahrscheinlich darüber wundern, wie ich in den Studentenklub gekommen bin, aber glaube mir, ich starb fast vor Beschämung, als ich zum ersten Mal dorthin ging. Aber es blieb mir nichts anderes übrig, ich war hungrig und hatte seit zwei Tagen nichts gegessen. Ich fror und hatte mich schrecklich erkältet. Ich wußte selbst nicht, was ich that und wozu dies führen konnte … In dem Augenblick trat Kasimir auf mich zu … o, wie er mir damals mißfiel. Er lachte und war sehr vergnügt, während es mir vor den Augen dunkelte. Er fragte mich, ob ich mit ihm gehen wolle. Ich antwortete: ›Ja.‹ Unterwegs bedeckte er mich mit dem Saum seines Pelzes, da ich sehr zitterte, und so führte er mich in seine Wohnung. Als ich mich erwärmt hatte und meine Geisteskräfte zurückkehrten, bemerkte ich, wo ich mich befand. Ich weinte vor Beschämung über meine gefährdete Lage, da ich allein im Zimmer eines Mannes war und also in seiner Gewalt. Er schien erstaunt über meine Thränen zu sein, setzte sich neben mich, und als ich ihn wieder anblickte, standen auch in seinen Augen Thränen. Jetzt wurde er ein ganz anderer. Er küßte meine Hand und bat mich, mich zu beruhigen. Ich erzählte ihm mein ganzes Leben. Er versprach, an mich wie an eine Schwester zu denken … Nicht wahr, er war sehr gut? Von dem Augenblick meiner Bekanntschaft mit ihm litt ich keinen Mangel mehr. Als er ausging, küßte er wieder meine Hand, ich wollte auch die seinige küssen, mein Herz war bekümmert. Ich drückte meine Hand ans Herz und brach in Thränen aus. O! wie ich ihn damals liebte!«
Helene richtete ihre Augen nach dem Himmel, sie waren erfüllt von Thränen der Dankbarkeit. Sie war schön wie eine klagende Madonna. Schwarz aber zog die Augenbrauen zusammen, und seine Miene verfinsterte sich. Der Gedanke, daß er die Liebe dieser Frau nur seiner Ähnlichkeit mit einem anderen Manne verdankte, war ihm unangenehm. Potkansky hatte ihre Liebe auf anderem Wege gewonnen, und dieser Vergleich demütigte ihn. Er erinnerte sich an Augustinowitsch und ging schweigend weiter.
Endlich kamen sie an den Kirchhof. Unter den Bäumen schimmerten weiße Kreuze und Marmorplatten. Die Gräber schienen zu schlafen in dem stillen Schatten des grünen Laubwerks. Einige schwarzgekleidete Gestalten erschienen zwischen den Kreuzen.
Helene wandte sich nach einem großen, ihr wohlbekannten Grabe, das von einem eisernen Gitter umgeben war, bei dem sich noch ein kleiner Grabhügel befand, der mit Grün bewachsen war. Hier lag Potkansky und zu seinen Füßen seine kleine Tochter. Einige Töpfe mit Blumen schmückten das Grab, und neben ihm wuchs eine Reseda.
Schwarz rief den Wächter, um das Gitter zu öffnen. Helene Potkanska fiel auf die Knie und begann mit Thränen in den Augen zu beten.
»Wer sorgt für diese Gräber?« fragte Schwarz den Wächter.
»Diese Dame kam oft und dann auch ein Herr mit langen Haaren; jetzt habe ich ihn lange nicht gesehen,« erwiderte der Wächter. »Er kaufte immer Blumen und ließ auch dieses Gitter aufstellen.«
»Ich weiß, aber er ist gestorben, fast vor einem Jahr, und ist auch auf diesem Kirchhof begraben.«
Der Wächter nickte mit dem Kopf, als ob er sagen wollte: »Auch Du wirst an die Reihe kommen.«
Als Helene ihr Gebet beendigt hatte, bot ihr Schwarz den Arm. Er war schweigsam, sein Herz schien bedrückt zu sein. Als sie das Grab verließen, führte er sie absichtlich oder unwillkürlich einen anderen Weg.
Bei der Pforte blieb er stehen, deutete auf ein Grab und sagte kühl: »Sieh, Helene, dieser Mensch hat Dich mehr geliebt als Potkansky, aber Du hast Dich seiner nicht einmal erinnert.«
Es dämmerte bereits. Die junge Witwe warf einen Blick auf das Kreuz. Es war von Holz, mit schwarzer Farbe bestrichen, und mit weißen Buchstaben war darauf geschrieben: »Gustav S., gestorben den …«
»Wir wollen gehen,« flüsterte sie, ihren Kopf an seine Schulter schmiegend, »es wird schon dunkel.«
Als sie in die Stadt zurückkehrten, war es schon ganz dunkel, aber es war eine schöne Nacht. Jenseits des Dnjepr erhob sich der Mond. In den dichten Alleen des Gendarmen-Squares hörte man Schritte. In einem der Pavillons war ein Fenster offen. Man hörte die Klänge eines Pianos und eine junge Stimme, welche die Serenade von Schubert sang. Die Klänge erstarben in der warmen Luft. Draußen in der Steppe erklang von fernher das Horn eines Postillons.
»Eine prächtige Nacht,« sagte sie leise, »aber sage mir, warum bist Du so betrübt, Jusja?«
»Ich bin müde,« erwiderte Schwarz, »wir wollen uns ein wenig setzen.«
Sie ließen sich auf eine Bank nieder, Schulter an Schulter, beide waren nachdenklich. Eine klangvolle Stimme schreckte sie aus ihrer Träumerei auf.
»Nein, Karl,« sagte die Stimme, »nur dann kann man die Liebe der Frau für das höchste Glück ansehen, wenn sie sich als Echo der Stimme des Mannes äußert.«
Das sagte ein junger Mann in Begleitung eines anderen, welche nahe der Bank, auf der sie saßen, vorübergingen.
»Guten Abend,« sagte er grüßend und nahm den Hut ab.
Es waren Wassilkjewitsch und Karwowsky.
Beim Abschied von der jungen Frau küßte Schwarz lange ihre Hand und kehrte spät und erregt nach Hause zurück.