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Im Laboratorium des Dr. Grellnick

Auf dem Hof eines älteren Hauses in der Steglitzerstraße befanden sich in einem Quergebäude verschiedene Fabrikräume, von denen das ganze vierte Stockwerk dem Dr. Grellnick als chemisches Laboratorium diente, während er im Vorderhaus eine bescheidene Junggesellenwohnung besaß.

Trotz der schon vorgeschrittenen Morgenstunde herrschte in dem saalähnlichen und schmucklosen Raum noch kein Betrieb.

Vor den beiden großen Fenstern zogen sich lange Tische hin, auf denen zahlreiche Retorten und Abfüllgläser in den verschiedensten Größen standen. Im Hintergrund, an der schmalen Wandseite, erhob sich ein gemauerter, schon stark verräucherter Herd, auf dem zwei verschiedenartige kupferne Gefäße spärlich dampften.

An der Längswand gegenüber den Fenstern standen mehrere verschlossene Spinde, die eine große Anzahl Porzellanbüchsen, Standflaschen, Mörser, Abdampfschalen und andere chemisch-technische Requisiten enthielten, während der zementierte Fußboden mit strohumflochtenen Säureflaschen, Körben und Kisten bedeckt war.

In der Nähe der eisernen Eingangstür befand sich ein alter gelb lackierter Schreibtisch, auf dem neben einem Fernsprechapparat ganze Berge verstaubten und beschmutzten Papiers, Briefe, Rechnungen, Tüten, kleine Kartons und allerlei andere, kaum noch erkennbare Gegenstände im wirren Durcheinander herumlagen. Davor ein gebrechlicher Stuhl, die einzige Sitzgelegenheit. Das ganze Laboratorium machte in seiner unheimlich liederlichen und bizarren Art den Eindruck einer Hexenküche, wozu die Schwefel- und Säuregerüche nicht wenig beitrugen.

Der alte Diener Streichhan, ein Mann in den sechziger Jahren, der den Raum soeben betrat, hing Mantel und Jacke an einen Haken, band eine blaue, mit allerlei bunten Flecken verunzierte Schürze um und begann mit einem schmutzigen Lappen den Staub von den Retorten zu wischen.

Kurz darauf erschien auch die Reinemachefrau Auguste Schröder, die in demselben Hause wohnte, mit Eimer und Schrubber, schürzte die Röcke mit einem dicken Strick, so daß die dicken graubestrumpften Beine fast bis zum Knie und ein paar gewaltige Holzpantinen sichtbar wurden, und machte sich mit einer für die kugelrunde, schon über fünfzig Jahre alte Frau sehr bemerkenswerten Behendigkeit an die Arbeit.

Frau Schröder war ein Original wie viele Aufwärterinnen dieser Art. Sie konnte ihr Handwerkszeug, den Schrubber oder Besen, nie in Tätigkeit setzen, ohne die stoßweisen Bewegungen ihrer kräftigen Arme mit der Lebhaftigkeit der Zunge als antreibenden Motor zu begleiten.

Schon nach den ersten Begrüßungsworten begann sie ihre Sprechlust sofort anzukurbeln, indem sie dem alten Diener mit stark verfetteter Fistelstimme zurief:

»Sie, Streichhan, haben Se schon von dem neuen Mord in de Tanzdiele jehört? Ach Jotte doch, et is kaum zu glooben, wat sich in dem ollen Berlin nich allens tut! Bloß det Jeldes wejen! Arbeeten soll die Blase, aber nich de Leute abmurksen, wenn's ooch 'n reicher Amerikaner is. Mir kann det Jeld nich reizen, ich arbeete, bis ick mit de Neese hoch lieje!«

Und wie zur Bekräftigung ihrer Worte gab sie dem Schrubber einen so gewaltigen Stoß, daß der Scheuerlappen beinahe ein Loch bekam.

»So wat is doch nischt Neuet, seit wir den Kriej verloren hab'n«, brummte der alte Diener in seinen grauen struppigen Schnauzbart. »Aber die Jeschichte mit dem Amerikaner is 'ne mulmije Sache. Mir soll der Affe kratzen, wenn se so'n heimtückischen Kerl wie den Mörder rauskriejen. Nach all'm, wat ick jelesen habe, kommt mir det beinahe vor, wie'n absichtlichet Komplott. Die hab'n doch bloß nach dem seine Dollars jeschielt. Und det Meechen, det se injespunnt hab'n, wat doch den Amerikaner seine Bejleitung jewes'n is, die kann doch höchstens als Animiermamsell fungiert hab'n. Und wenn se in de Zeitungen schreib'n, det det Frailein Sowieso oder wie de Puppe heeßt, ooch 'ne Milljoneese is, denn halte ick det for Mumpitz, for Mumpitz halte ick det. Mir sollten se man zum Kriminal machen, ick würde det Ding schon fingern und det Komplott uffstechen, wie'n eitrijet Jeschwür!«

»Da soll doch jleich de Pelle platzen«, keifte Frau Schröder wütend, »sonne Schweinerei! Denken Se denn, Steichhan, ick jloobe, det det Meechen mit die Sache irjendwat zu tun hat? Nich 'ne Bohne! Die is doch bloß mit dem Mann in de Tanzdiele jejangen, weil se jejloobt hat, der heiratet ihr! Ick kenne det. Meine Lowise, wat de Älteste is, die hat sich ooch schon von mehre Herrn ausführ'n lass'n und is in sonne Diele schwoofen jejang'n. Und wenn ick ihr denn ausjeschumpf'n habe, det se mir bloß nich 'n Jöhr ins Haus bringt, denn hat se mir jeantwort't: ›Denkste denn, ick kriej'n Mann, wenn de mir in de Kommode steckst und dir druff setzt?‹ Natürlich hat det Meechen nich so unrecht. Mein Oller, den de Würmer nu schon seit fuffzehn Jahr'n am Schlafittchen hab'n, hat mir ooch beim Schwoof kenn'n jelernt. Det war sozusag'n de Liebe uff n ersten Blick. Det Meechen also, die se injespunnt hab'n, kann nischt davor, denn et is ihr nich zu verübeln, wenn se uff den reichen Amerikaner 'n Kieker jeworfen hat. Aber ick jloobe, die Sache is janz anders, da steckt wat Polit'schet dahinter. Mir sollten se man als Detektiv ankaschiern! Ick sage Ihn'n Steichhan, da kennt'n Se wat erleb'n. Ick würde die Mörderbande vierteil'n lass'n, Donnerwetter nich noch eens!«

Und wieder flog der Schrubber mit dem Scheuerlappen so gewaltig über den Fußboden, daß verschiedene Säureflaschen beinahe umgestürzt wären.

Den alten Diener fesselte die Unterhaltung dermaßen, daß er seine Arbeit ganz einstellte, und, die Hände unter seiner beschmutzten Schürze verborgen, mit viel Gewichtigkeit erwiderte:

»Seh'n Se, Mutter Schröder, det is die Jemeinheit, det man so wenich uff de Volksintellijenz jibt. Wir zwee beede kenn'n det Leben, denn wir hab'n unsre Neese in jeden Dreck rinjestochen; aber die da oben, die hab'n ihre Schlauheit bloß aus verstoobten Büchern! Und damit könn'n se kee'n nich ins Jewissen sehn, wie wir, die echten Volksvertreter. Der Dokter, watt mein Scheff is, vasteht ja von sein'm Fach 'ne janze Menge, und seine Medizin, die er braut, soll janz jut sind, allens, wat recht is; aber von de praktischen Sachen, so aus'm vollen Leben, versteht er partu jarnischt!«

»Seh'n Se, Steichhan, so is er mir ooch immer vorjekomm'n«, sprudelte Frau Schröder heraus, »wat sagen Se nun zu meene Menschenkenntnis? Im übrijen wundre ick mir sehr, det er noch nich hier is!«

»Mir wundert der jarnich!« gab der Diener trocken zurück, »daran bin ick jewöhnt. Wahrscheinlich hat er heut nacht wieder een'n Saufer jemacht. Dat jeht so lange wie't jeht. Wein, Weiber und Zigaretten! Der pafft eene nach der andern, und husten tut er, als ob ihm schon det letzte Loch verstopft wär'. Mit dem nimmt's noch 'n böset Ende!«

»Sowat sieht man ihm ja ooch an, mein Blick trügt mir nie, ick weeß Bescheed«, bestätigte die Reinemachefrau selbstbewußt und etwas mitleidig, »dem Dokter kann man det Vaterunser durch de Backen blasen! Ich dachte, er wollte schon längst nach'm Höhensonnenkurort in der Schweiz, um sich 'ne neue Lunge zu hol'n?!«

Streichhan lächelte ironisch. »Det stimmt«, sagte er in seiner trockenen Art, »janz richtich, det wollte er schon im vorjen Jahr, aber et jing nich von wejen Zaster!« Und der alte Diener schob die Schürze beiseite und machte mit Daumen und Zeigefinger eine bezeichnende Bewegung.

Die Reinemachefrau stellte ausnahmsweise den Schrubber an die Wand, stemmte beide Arme mit einem energischen Ruck in die Hüfte und rief mit dem Ausdruck höchster Verwunderung zu Streichhan hinüber: »Wat Se sag'n, da bin ick ja baff! Ich möcht' bloß wissen, wo det ville Jeld bleibt; denn, wenn man in de Apotheke jeht und mal 'n Abführmittel holt, denn merkt man erst, wat der olle Klimbim kost't, den er hier verzapft!«

Der alte Diener nahm seine Hände unter der Schürze hervor, trommelte mit den Fingern auf seinen eingefallenen Bauch und erwiderte etwas entrüstet: »Na, wo soll's denn bleiben?! Ick hab Ihn'n doch schon jesagt: Wein, Weiber und Jesang. Bloß det letzte nich, dabei jeht ihm de Puste aus. Aber Alkohol und Liebe, det is sein Vajniejen, da is nischt zu teuer; aber, wenn ick 'ne Teirungszulage hab'n will, denn kiekt er mir so glupsch an, det ick denke, er will mir fressen. Ja, wenn ick 'n Mädel war, denn könnt ick ihn auspowern, aber erst müßt ick mir 'n bißken mästen. Er liebt nämlich de Dicken. Aus die Reise wird nischt, oder er kriejt mal 'n jroßen Batzen uff eenmal, Aber ick jloobe nich dran. Wär ja janz scheen, wenn man sich ooch mal 'n paar Wochen ausruhn könnte!«

Frau Schröder hatte ihre Arbeit beendet, sie stand an der Wasserleitung neben dem Herd, um den Scheuerlappen auszuwringen, wobei sie die Augen zusammenkniff, um mit Aufbietung aller Kraft den letzten Tropfen herauszudrücken. Trotzdem konnte ihre Zunge nicht ruhen, und mit jeder Drehung, die sie dem Scheuerlappen gab, preßte sie stoßweise hervor:

»Na sowat, – det scheene Jeld – de Männer sind zu dämlich, – wat hab'n se bloß davon – lieber kooft ick mir 'n Stück Schweinebauch – det nimmt 'n böset Ende, Streichhan, det weeß ick janz jenau, uff mir könn'n Se sich verlass'n!«

»Det weeß ick ooch alleene«, brummte der alte Diener, »aber, wenn der Dokter abkratzt, wat wird denn aus mir? Da läßt man seine scheensten Jahre in sonner Stinkbude und wenn der Scheff zum Deibel jeht, denn wird man ooch uffn Misthaufen jeschmissen, und –!«

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und Dr. Grellnick trat herein, bot einen »Guten Morgen« und hing Mantel und Rock in ein Spind, aus dem er einen weißen Kittel entnahm, den er sogleich anzog.

Streichhan hatte sich beim Erscheinen seines Herrn mit solcher Schnelligkeit umgedreht und seinen Putzlappen wieder in Bewegung gesetzt, daß der beste Photograph nicht imstande gewesen wäre, eine Momentaufnahme zu machen. Solche Fixigkeit konnte nur durch jahrelange Übung in ähnlichen Situationen erworben werden.

Frau Schöder nahm Eimer und Schrubber zur Hand, ging grüßend an Dr. Grellnick vorüber und musterte ihn von Kopf bis zu den Füßen mit einem Blick, der Mitleid und Verachtung zugleich ausdrückte.

Der Laboratoriumsbesitzer begann sofort seine Tätigkeit. Er füllte die Retorten mit verschiedenen Flüssigkeiten, zündete die darunter befindlichen Gaskocher an und zerrieb in einem Mörser weiße Kristalle, die er einigen Glasbehältern hinzufügte. Bald waren alle Gefäße teils zur Destillation, teils zur Verdampfung gefüllt, so daß eine Arbeitspause eintreten konnte.

Da keine anderen Gehilfen vorhanden waren, mußte Streichhan seinem »Scheff« allerlei Zureichungen machen und die Thermometer auf den Wärmegrad hin beobachten.

Dr. Grellnick setzte sich inzwischen an seinen Schreibtisch und begann eine offenbar komplizierte Rechenarbeit, denn er verrauchte die Zigarette, die seine Lippen nie verließ, hastig und in wenigen Zügen.

Das Alter dieses Mannes war schwer zu bestimmen; sicherlich aber trug er mehr Jahre zur Schau, als er durchlebt hatte. Die breiten Backenknochen und die großen, tief in den Höhlen liegenden gelblichen Augen verliehen dem Gesicht etwas katzenartiges, namentlich, wenn die Pupillen, gegen das Licht gewendet, sich stark verkleinerten. Die schwarzen Haare waren in spärlichen Strähnen nach hinten gekämmt, so daß die leuchtende Kopfhaut vielfach sichtbar wurde. Die an der Spitze etwas verdickte, sonst aber schmale Nase und die blutleeren dünnen Lippen in Verbindung mit der gelblichen Haut und den eingefallenen Wangen gaben dem ganzen Antlitz einen etwas verbissenen, aber zugleich auch dämonischen und krankhaften Ausdruck.

Allmählich verstärkten sich die Dämpfe der Retorten und durchzogen in langen Schwaden, wie weiße, gelbliche und schmutzig-graue dünne Wolken den weiten Raum. Die Luft verdichtete sich mit bläulichem Nebel, und ein beißender Geruch nach Säuren, Kräutern und Essenzen belästigte Nase und Lunge, so daß Streichhan sich ein rotes Taschentuch vorhielt, während sein »Scheff« gewohnheitsmäßig mit kurzen Unterbrechungen dumpf hüstelte, ohne freilich die Zigarette aus dem Mund zu nehmen.

Der Fernsprecher klingelte. Lässig griff der Laboratoriumsbesitzer nach dem Hörer und rief mit leiser und hohler Stimme: »Hallo!«

»Jawohl, Dr. Grellnick!« – Der Chemiker zuckte merklich zusammen und lauschte der Stimme, die aus dem Fernsprecher drang, mit sichtbarer Spannung und verhaltener Erregung.

»Verwandtschaft kann man das eigentlich nicht nennen, Herr Rechtsanwalt, aber Fräulein Stephany ist mir natürlich bekannt!«

»Ich lese wenig in der Zeitung, und dann nur Politisches! – Was Sie sagen! – Ist ja sonderbar! – Merkwürdige Geschichte! – Hm! – Hm! – Hm!«

»Gern, sehr gern, selbstverständlich gehe ich zu ihr. Wenn ich ihr helfen kann?! – Mit Freuden natürlich, mit Freuden!«

»An ihrer Schuldlosigkeit zweifle ich keinen Augenblick. Sicherlich ein Mißgriff der Polizei! – Muß sich ja bald herausstellen! – Hm! – Ja! – Hm!«

»Nach Amerika habe ich leider keine Beziehungen, seitdem mein Urgroßvater verstorben ist!«

»Ja, derselbe, von dem Fräulein Stephany ge…, ich meine, zu Ihnen gesprochen hat, Herr Rechtsanwalt!«

»Sie wünschen, daß ich heute noch zu ihr gehe?! Mir ist es recht, wenn ich hineingelassen werde. Einen Augenblick, ich notiere mir die Nummer. Also: Moabit, Untersuchungsgefängnis, Frauenabteilung, Zelle 286. Danke sehr, Herr Rechtsanwalt! – Bitte sehr, bitte sehr!«

Dr. Grellnick legte den Hörer langsam und nachdenklich auf die Gabel, erhob sich und ging unruhig mit gesenktem Kopf, mächtige Rauchwolken aus der Nase blasend im Laboratorium umher. Streichhan blickte ihn verstohlen von der Seite an, denn er hatte mit Staunen und Verwunderung aus dem geheimnisvollen Gespräch erkannt, daß sein »Scheff« mit der Stephany, von der er in der Zeitung gelesen, verwandt sei und sogar ins Gefängnis gehe, um sie zu besuchen. Dies entfachte seine Neugierde nicht wenig, zugleich aber stieg in ihm ein Gefühl von Achtung und Stolz auf, daß sein Herr mit dieser aufsehenerregenden Angelegenheit in Verbindung gebracht wurde.

Der Laboratoriumsbesitzer kleidete sich an und ging mit kurzem Gruß hinaus.

Nach einer kurzen halben Stunde befand er sich im Untersuchungsgefängnis und Hilma gegenüber.

Sein Auftreten war etwas unsicher und verlegen, und die Unterhaltung kam nur langsam in Fluß. Man sprach zuerst von Familienangelegenheiten, wobei auch die Erbschaft gestreift wurde. Dr. Grellnick schien diesem doch immerhin ungewöhnlichen Ereignis keinerlei Bedeutung beizulegen; seiner geflissentlichen Schweigsamkeit und schwer zu verbergenden Erregung merkte man es dennoch an, daß ihm die ganze Sache nicht gleichgültig gewesen sei. Er ließ sich sogar zu der Bemerkung hinreißen, sein Urgroßvater hätte nicht ganz recht gehandelt, das Enkelkind zur Universalerbin einzusetzen, ohne den Urenkel wenigstens mit einem Legat zu bedenken.

Hilma zuckte die Achseln und meinte, es wäre ihr sehr lieb gewesen, wenn ihr Großvater auch dem Urenkel die Hälfte seines Nachlasses vermacht hätte, denn dadurch wäre sie vielleicht mit dem amerikanischen Helfer und Ratgeber Milner nicht in Berührung gekommen und hätte jetzt Freiheit und Ehre und brauchte um ihre Zukunft nicht besorgt zu sein.

Der Inhalt dieses Gesprächs führte nun sogleich zu dem eigentlichen Zweck des Besuches, und Dr. Grellnick erbot sich, unverzüglich in Amerika Nachforschungen nach dem Vorleben und den Eigenarten des Milner anzustellen.

Nach dieser ziemlich trocken abgegebenen Zusicherung trat eine kurze Pause ein, und dann nahm die Unterhaltung plötzlich eine andere Wendung. Dr. Grellnick wurde elegisch. Er gedachte des frühen Hinsterbens der Familienmitglieder und der schönen Stunden, die er mit Hilma verbracht, und daß er im Geheimen immer für sie geschwärmt und nur die Arbeitslast ihn gehindert habe, sich ihr zu erklären. Das Schicksal habe es gewollt, daß er ihr jetzt wieder begegne, wenngleich unter sehr unglücklichen Verhältnissen; und das Bewußtsein, auf Gegenliebe rechnen zu dürfen, würde seine Kraft, ihr zu helfen, verdoppeln. Sie möchte seine Werbung daher nicht kurzerhand zurückweisen und seine Zukunft mit der ihren verknüpfen. Das Ziel sei für beide sehr erstrebenswert, und er sei überzeugt, daß sie ihren Entschluß, ihm ihre Hand zum Ehebunde zu reichen, nie bereuen würde.

Diese mit wenig Leidenschaft und ohne innere Überzeugung vorgebrachte Liebeserklärung machte auf Hilma einen tiefen Eindruck, aber keineswegs auf Herz und Gemüt. Sie erwog eine ganze Weile, was sie auf den unerwarteten Antrag erwidern sollte, zumal in ihrer jetzigen Bedrängnis und Hilflosigkeit die angebotene Unterstützung nicht zurückgewiesen werden durfte.

Andererseits hatte sie sich bisher aber noch nie mit dem Gedanken einer Verheiratung befaßt, so daß sie allzu unvorbereitet war, um über eine so wichtige Lebensfrage sofort zu einem Entschluß zu gelangen. Sie antwortete daher diplomatisch und ausweichend:

»Lieber Herr Doktor, Ihre Bereitwilligkeit, mir nützlich sein zu wollen, erfüllt mich schon jetzt mit herzlichem Dank, und ich vertraue Ihrer Geschicklichkeit und Klugheit meine ganze Zukunft an. Eine innere Stimme sagt mir, daß es Ihnen gelingen werde, mich aus meiner schrecklichen Lage zu befreien. Was aber Ihren Antrag anbetrifft, so werden Sie wohl begreifen, daß ich zu unvorbereitet bin, um sogleich eine bindende Erklärung abgeben zu können. Zwar sind mir Ihre männlichen Tugenden zur Genüge bekannt, aber dennoch muß ich mich vor allem selbst befragen, ob ich schon reif zur Ehe bin oder reif zur Ehe überhaupt, weil ich mich bisher mit einem solchen Gedanken noch nicht vertraut gemacht habe. Sie wissen, daß ich seit früher Jugend auf mich selbst gestellt war und mein ganzer Werdegang daher auf einer gewissen Freiheit und geistigen Unabhängigkeit aufgebaut ist. Die Aussicht, alles dies auf eine geistige und materielle Gemeinschaft umstellen zu sollen, ist mir so neu und ganz ungewohnt, daß ich mich hiermit erst vertraut machen muß. Ich bitte Sie daher, meine augenblickliche Unentschlossenheit nicht falsch deuten zu wollen. Jedenfalls aber kann ich Sie versichern, daß ich in meinem Dank für immer ihre Schuldnerin bleiben werde, falls es Ihnen gelänge, mir Freiheit und Ehre wiederzugeben. Und ich will Ihnen auch versprechen, Ihnen aus Dankbarkeit meine Hand zum Ehebunde zu reichen, wenn nicht Bedenken persönlicher Art mich veranlassen sollten, auf eine Ehe überhaupt zu verzichten!«

Dr. Grellnick lächelte, erhob sich und küßte mit einer gewissen Steifheit und Förmlichkeit Hilmas Hand sehr flüchtig und sagte beinahe geschäftsmäßig:

»Ihre aufmunternden und vielverheißenden Worte haben mich sehr beglückt, Fräulein Stephany; ich werde mich Ihres Vertrauens würdig zeigen und meine ganze Kraft aufbieten, Ihre Freiheit und Ihre Liebe zu erlangen!«

Eine kurze Verbeugung, und Dr. Grellnick stand auf dem langen Korridor des Untersuchungsgefängnisses.

Er blickte sich scheu um. Die Wärterinnen gingen schlüsselklirrend auf und ab. Eine unheimliche Ruhe. Nur aus einigen Zellen klang leises Schluchzen und Stöhnen.

Dr. Grellnick beschleunigte seine Schritte, die hart auf den Fliesen stampften und einen vielfachen Widerhall verbreiteten, als ob eine große Anzahl laufender Tritte dröhnend hinter ihm her wären.

An der Treppe angelangt, blickte er sich noch einmal um. – Seine umschatteten Augen nahmen einen starren Blick an und drohten, sich rollend aus den Höhlen zu winden. Die Pupillen verkleinerten sich zu einem kaum sichtbaren Punkt, so daß das ganze Auge wie eine flimmernde Schwefelscheibe leuchtete. Sein Mund verzerrte sich zu einer Grimasse, und der Speichel tropfte wie Geifer herunter. Er schüttelte sich heftig, wie in einem Fieberanfall und lief Hals über Kopf die Treppe hinunter, obwohl ihn ein Hustenanfall gepackt und ihm fast den Atem genommen hätte.

Endlich auf der Straße, als das Leben um ihn brauste und die elektrischen Bahnen rasselnd an ihm vorüberfuhren, besann er sich wieder auf sich selbst.

Tief atmend stand er an einem Laternenpfahl, den Hut in der Hand, und wischte sich den Schweiß vom Gesicht.

Dann winkte er einem Auto und fuhr davon.


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