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Eine merkwürdige Entdeckung

Nachdem die Voruntersuchung gegen Kabulke und Gurau abgeschlossen war, stellte es sich heraus, daß der Dezernent es verabsäumt hatte, den eigentlichen Lieferanten der Schleichhandelsware verantwortlich zu vernehmen. Um auch den Laboratoriumsbesitzer unter Anklage zu stellen, mußte ermittelt werden, ob diesem bekannt war, daß die Gifte von den beiden Agenten direkt an die Verbraucher weitergegeben wurden.

Zwei Tage vor der Hochzeit erschienen bei Dr. Grellnick zwei Kriminalbeamte und ersuchten ihn, sie unverzüglich nach dem Polizeipräsidium zu begleiten. Der Chemiker, dem die Beamten auch nicht verraten konnten oder durften, um was es sich handle, wurde abwechselnd grau und gelb im Gesicht. Seine Hände zitterten, als er Rock und Mantel aus dem Spind nahm, und seine Beine schlotterten wie bei einem Rückenmärker, während er, von den Beamten etwas gestützt, die Treppe hinunterwankte.

In dieser Verfassung hätte jeder Unbefangene den sonst so hochmütigen Herrn Doktor für einen Menschen mit schwer belastetem Gewissen gehalten.

Erst auf der Straße, als er sah, wie die Hausbewohner ihn neugierig betrachteten, besann er sich wieder auf sich selbst. Mit scheinbar gleichgültigster Miene, als ob es sich um eine Spazierfahrt handle, stieg er elastisch in das Automobil, mit dem die Beamten zu seiner Abholung gekommen waren, und in einer Viertelstunde befand er sich in einem besonderen Zimmer des Polizeipräsidiums.

Alle Personen, die wegen Schleichhandels sistiert werden, gelangen in diesem Raum zur Untersuchung, ob sie derartige Ware bei sich führen.

Dem Dr. Grellnick erging es ebenso, nur daß die Behörde mit ihm in zeitgemäßer Weise verfuhr. Man beschränkte sich nicht mehr auf eine plumpe und zeitraubende Durchsuchung der Taschen eines Verdächtigen, sondern zog es vor, sich ganz unauffällig eines Durchleuchtungsapparates zu bedienen.

Während der Chemiker nun auf einem bereitgestellten Stuhl saß und die Fragen eines Wachtmeisters nach seinen Personalien und den geschäftlichen Beziehungen zu den verhafteten Agenten beantworten mußte, öffneten sich geräuschlos die Türen eines Wandschrankes. Metallene und gläserne Röhren, Leitungsdrähte und Glühbirnen wurden sichtbar; eine leichte Umdrehung an einem Schalter, und sofort verbreitete sich ein bläuliches Licht hinter dem Rücken des nichtsahnenden Dr. Grellnick.

Der Beamte, der den Apparat bediente, ein Polizeiingenieur der technischen Abteilung, blickte prüfend mit peinlicher Sorgfalt auf eine Glasplatte an der inneren Wand einer Schranktür, auf die sich das stark verkleinerte, durch einen Reflektor zurückgeworfene Röntgenbild der durchleuchteten Persönlichkeit zeigte.

Das geübte Auge des Ingenieurs konnte lange nichts Verdächtiges erblicken, bis ein kleiner länglicher Fleck in der Halsgegend immer wieder seine Aufmerksamkeit und Verwunderung erregte. Um eine Krawattennadel oder einen Knopf konnte es sich schon der merkwürdigen Form wegen nicht handeln; außerdem waren alle Knöpfe des Kragens und der Hemden sichtbar. Der Beamte entschloß sich daher, diese sonderbare Stelle unauffällig eingehender zu untersuchen.

Nachdem der Strom ausgeschaltet und der Wandschrank wieder geschlossen war, trat der Polizeiingenieur an Dr. Grellnick heran und ersuchte ihn, sich in einem Nebenzimmer zu entkleiden, da eine Leibesvisitation gemäß den behördlichen Vorschriften stattzufinden habe.

Der Chemiker stutzte einen Augenblick, folgte dann aber willig, betrat mit den beiden Beamten den angewiesenen Raum und begann sich rasch zu entkleiden. Zuerst legte er Halskragen und Krawatte auf den Tisch, und während er Rock und Weste auszog und sich beeilte, auch die übrigen Sachen abzulegen, betastete der Ingenieur unauffällig die Krawatte und entdeckte an der Innenseite, sinnreich befestigt, eine kleine metallene Kapsel, die bei näherer Prüfung ein weißliches geruchloses Pulver enthielt.

Der gewiefte technische Kriminalist erkannte sofort, daß es mit diesem an einer außergewöhnlichen Stelle verborgenen Gegenstand eine besondere Bewandtnis haben müsse. Er nahm die Kapsel deshalb in Verwahrung, und da der eigentliche Zweck des Entkleidungsverfahrens erreicht war, – es handelte sich lediglich um die Auffindung der geheimnisvollen Stelle des Röntgenbildes – so wurde Dr. Grellnick wieder aufgefordert, sich anzuziehen.

Nach einer weiteren kurzen Vernehmung über den Vertrieb der Gifte, wobei der Laboratoriumsbesitzer sich in raffiniertester Weise bemühte, alle Schuld auf seine Zwischenhändler abzuwälzen, wurde er entlassen.

Die eigenartige Kapsel gelangte sofort in die Hände des Dezernenten, der gerade in diesem Augenblick mit dem Detektiv Dörries über weitere Maßnahmen zur Unterdrückung des gefährlichen Schleichhandels konferierte.

Als der Detektiv von dem seltenen Fund erfuhr, riet er zur Vorsicht, denn zweifellos enthalte die Büchse ein gefährliches Gift, was schon an der geringen Menge zu erkennen sei. Der Dezernent war der gleichen Ansicht und meinte, Dr. Grellnick habe ein solches Präparat wahrscheinlich immer bei sich getragen, um in einem gegebenen Augenblick seinem Leben ein Ende zu machen. Der Detektiv Dörries lächelte über diesen trockenen Optimismus, wie er die Ansicht des Kommissars bezeichnete.

»Das werden wir morgen ganz genau wissen«, erwiderte der Dezernent und beauftragte den diensthabenden Wachtmeister, sich sogleich zu dem Polizeichemiker Professor Emmerich zu begeben und ihn zu bitten, innerhalb vierundzwanzig Stunden ein Gutachten nebst Analyse über den Inhalt der Kapsel anzufertigen und sich möglichst persönlich um dieselbe Zeit im Polizeipräsidium einzufinden.

Zur festgesetzten Stunde waren die an der Sache interessierten Beamten im Dezernatszimmer versammelt, auch der Detektiv Dörries kam bald hinzu, aber der Polizeichemiker wurde vergebens erwartet.

Endlich, mit einer Verspätung von annähernd einer Stunde, betrat der Professor in erkennbarer Erregung und fast außer Atem das Zimmer, wischte sich, ohne auf die Begrüßung der Anwesenden einzugehen, den Schweiß von der Stirn, warf seine Aktentasche auf einen Stuhl und sagte in einem Tone, der Verzweiflung und Hilflosigkeit ausdrückte: »Meine Herren, mit dem weißen Pulver in dem kleinen Behälter haben Sie mir eine seltsame Nuß zu knacken gegeben. Kein Chemiker ist imstande, das Zeug zu analysieren, und alle Kollegen, die ich in Eile zu Rate zog, stehen ebenso vor einem wissenschaftlichen Rätsel wie ich. In meiner ganzen Praxis ist mir etwas Derartiges noch nicht vorgekommen. Mein Laboratorium glich einer Gelehrtenkonferenz, soviele hervorragende Vertreter der Wissenschaft habe ich zusammengerufen, unter ihnen auch Physiker und Mediziner, da ich mit meinem Latein zu Ende war!«

Der Professor setzte sich endlich auf den für ihn bereitgehaltenen Stuhl, während die Anwesenden, sprachlos vor Verwunderung und Spannung, ungeduldig darauf warteten, daß der Polizeichemiker seine Erklärung zu Ende führe. Professor Emmerich entnahm seiner Aktentasche einige Konzeptbogen und setzte seinen Vortrag mit einer bezeichnenden Handbewegung fort, indem er ruhig sagte:

»Unter diesen Umständen müssen Sie schon auf mein Gutachten verzichten, meine Herren! Was ich Ihnen noch zu berichten habe, bezieht sich lediglich auf objektive Feststellungen. Wenn Ihnen das genügt, dann mögen Sie meine Bemühungen verwerten, wie es Ihnen beliebt. Die giftigen Eigenschaften des Präparats sind außer Frage. Es handelt sich sogar um ein ganz besonders schnell wirkendes Gift. Die Versuche an Mäusen haben ergeben, daß ein winziges Quantum genügt, um die Tiere blitzartig vom Leben zum Tode zu befördern; und das Seltsame ist, daß die Leichen sofort erstarren. Eine Blutuntersuchung der Versuchstierchen ergab, daß das Gift die sofortige Erstarrung des Blutes bewirkt, daß aber von dem todbringenden Präparat, wie sonst bei fast allen bekannten Giften, nicht die geringste Spur im Blut nachzuweisen ist. Wir haben alle erdenklichen Reaktionsversuche unternommen, aber erfolglos. Ich möchte daher zusammenfassen: Das mir zur Prüfung und Analysierung überreichte weiße Pulver in einem kleinen Blechbehälter ist ein ganz besonderes, bisher in der Wissenschaft noch unbekanntes ist von außerordentlicher Wirksamkeit!«

Jetzt sprang der Detektiv Dörries, der den Ausführungen des Professors mit fieberhafter Spannung gefolgt war, von seinem Sitz in die Höhe und rief den Anwesenden in höchster Erregung zu: »Meine Herren, was wir soeben vernommen haben, ist eine Entdeckung von schwerwiegender Bedeutung, die Aufklärung eines geheimnisvollen Verbrechens, das vor einiger Zeit ganz Berlin beunruhigt hatte. Sie werden sich wohl alle noch erinnern, daß in einer Tanzdiele am Kurfürstendamm ein wohlhabender Amerikaner plötzlich vom Stuhl fiel und eine Leiche war. Die Obduktion ergab damals dieselben Merkmale, die der Herr Professor jetzt bei den Versuchstierchen feststellen konnte. Damals wurde die junge Dame, die sich in Begleitung des Amerikaners Milner befand, unter Mordverdacht verhaftet, vor kurzem hat man einen Architekten festgenommen, einen Jugendfreund dieser Dame, die selbst sehr vermögend ist, in der Annahme, der junge Mann habe die Tat aus Eifersucht begangen. Inzwischen hat sich Dr. Grellnick mit der Dame verlobt. Morgen soll die Hochzeit stattfinden. Meine Herren, ich behaupte, daß Dr. Grellnick, bei dem man das seltsame Gift gefunden hat, der Mörder des Amerikaners Milner ist, und ersuche Sie, dem sauberen Herrn die gebührenden Flitterwochen zu bereiten!«

Eine allgemeine Unruhe entstand. Alle Anwesenden erhoben sich und tauschten ihre Gedanken aus. Man hatte allgemein den Eindruck, daß man vor einem bedeutsamen kriminellen Ereignis stand. Kriminalkommissar Vollmer, der die Ermittlungen in der Mordsache leitete, wurde herbeigerufen. Er zeigte sich anfangs etwas skeptisch und meinte, daß auch verschiedene Gifte gleichmäßig wirken könnten, und daß er das Präparat vielleicht nur aus persönlichen Gründen bei sich getragen habe. Ein Verbrecher dieser Art wäre zweifellos darauf bedacht gewesen, ein so merkwürdiges Gift vor jeder Entdeckung zu bewahren oder dauernd zu vernichten. Außerdem fehle es bei dem Chemiker an einem Beweggrund zur Tat.

Der Detektiv bemühte sich, in langen Ausführungen die Bedenken des Kommissars zu beseitigen. Er gab aufgrund seiner Nachforschungen ein wenig schmeichelhaftes Bild des Verdächtigen und wies darauf hin, daß bei einem so gewissenlosen Manne wie Dr. Grellnick, der sich trotz seiner gewagten Geschäfte ständig in Geldverlegenheit befinde, der Antrieb zu einem Verbrechen stets gegeben sei.

Die anwesenden Kriminalisten teilten diese Meinung, und Kriminalkommissar Vollmer entschloß sich, unverzüglich mit dem Untersuchungsrichter und der Staatsanwaltschaft in Verbindung zu treten und über die zu ergreifenden Maßnahmen zu beraten.

Am nächsten Tag hatte die Eheschließung zwischen Fräulein Hilma Stephany und Dr. Grellnick in aller Stille stattgefunden. Außer den Zeugen war niemand anwesend.

Das Paar verbrachte den Nachmittag allein in Potsdam und kehrte erst am späten Abend nach Hilmas Wohnung, die zu einem gemeinschaftlichen Hausstand hergerichtet war, zurück.

Die beiden befanden sich bereits im Schlafzimmer und rüsteten sich zur Nachtruhe. Dr. Grellnick, der sich während des ganzen Tages ernst und nachdenklich zeigte, begann erst jetzt etwas zärtlicher zu werden, ohne freilich die stürmische Leidenschaft eines jungen Ehemannes zu erreichen! Plötzlich klingelte es an der Haustür. Das Mädchen öffnete. Dr. Grellnick lauschte auf und erfuhr nach wenigen Sekunden, daß vier Herren ihn im benachbarten Eßzimmer erwarteten.

Polternd verließ er das Schlafgemach, um den Ruhestörern schimpfend entgegenzutreten, aber kaum hatte er die Schwelle zum Speisezimmer überschritten, als ihm die Worte in der Kehle stecken blieben, denn er erkannte in den anwesenden Herren den Kriminalkommissar Vollmer und seine Beamten.

Hilma war ihrem Ehemann sofort gefolgt, so daß sie die Worte des Kommissars noch vernehmen konnte: »Ich bin beauftragt, Sie wegen Mordverdachts zu verhaften. Kleiden Sie sich an und folgen Sie uns!«

Der Chemiker taumelte wie ein Trunkener, seine Arme suchten tastend nach einem Stützpunkt, bis er ächzend auf einem Stuhl zusammenbrach.

»Ich unter Mordverdacht?!« stöhnte er, und seine flehenden Blicke trafen den Beamten wie eine bittende Frage.

»Ich bin nicht befugt, Ihnen Kenntnis von dem Inhalt der Akten zu geben«, erwiderte der Beamte nüchtern, »Sie werden wohl am besten wissen, um was es sich handelt, denn dasselbe Gift, mit dem der Amerikaner Milner umgebracht wurde, hat man bei Ihnen an einer verborgenen Stelle gefunden. Es hat übrigens keinen Zweck, daß wir uns hierüber unterhalten. Der Haftbefehl, den der Untersuchungsrichter selbst unterzeichnet hat, steht Ihnen zwecks Einsicht zur Verfügung. Also bitte, beeilen Sie sich mit Ihrer Toilette und folgen Sie uns!«

Dr. Grellnick stieß einen heulenden Ton aus wie ein zu Tode verwundeter Tiger, und ebenso katzenartig wand er sich auf seinem Stuhl.

»Ich bin verloren!« röchelte er, »alles aus!«

Hilma hatte sich schon bei den ersten Worten des Kommissars am Türpfosten festhalten müssen, da sie zusammenzubrechen drohte. Jetzt wankte sie auf Dr. Grellnick zu, brach aber vor seinem Stuhl zusammen und schrie, die Hände zu ihm erhoben: »Heinz, was hast du getan, – du der Mörder eines Menschen, des armen – armen Milner!«

Eine Nervenkrise überfiel die junge Frau; sie schluchzte und jammerte herzzerreißend. Sei es nun, daß der bedauernswerte Zustand Hilmas dem Chemiker unerträglich war oder daß er weiteren Fragen ausweichen wollte, jedenfalls bemühte er sich jetzt, wieder auf die Beine zu kommen, indem er sich unter Aufbietung aller Kraft in die Höhe reckte und aufstand.

Hilma wurde durch diese Bewegung aus dem Jammer gerissen, sie umklammerte seine Knie und rief in wahnsinniger Verzweiflung: »Ich lasse dich nicht von mir gehen, Heinz, bis du mir nicht sagst, was dich zu jener feigen Tat veranlaßte. Wie Schuppen fällt es mir von den Augen, ich sehe dich in einer anderen Gestalt, als du mir bisher erschienen, du ein Mörder, ein Giftmörder, ein Verbrecher. Gestehe vor der Allmacht Gottes, was dir der Satan eingegeben, daß du einen harmlosen Menschen, meinen Freund und Helfer, umgebracht, und mich, mich armes beklagenswertes Weib hast du an dich gefesselt, um auch mich – zu töten, Verruchter!«

Dr. Grellnick rührte sich nicht. Sein Gesicht war schweißgebadet, die Augen halb geschlossen zu Boden gesenkt.

Da zuckte es wie eine elektrische Entladung durch seinen Körper, der Kopf fuhr mit einem Ruck in die Höhe, seine Lippen öffneten sich und sprachen kalt und heiser:

»Ein Feigling bin ich nie gewesen, das weiß der Teufel. Mein Leben ist vernichtet. Bevor ich von dir gehe, Hilma, will ich dir die Wahrheit gestehen, weshalb ich dir meine Liebe geopfert habe. Ich wollte eine unbedachte Tat dadurch sühnen, daß ich dir mein Leben weihte. Es sollte nicht sein. Und so wisse denn, daß Milner nur ein unschuldiges Opfer der Verwechslung geworden ist. – Als du die Erbin meines Urgroßvaters wurdest, befand ich mich in größter Geldnot und glaubte überdies, daß ich benachteiligt worden sei, weil mir nicht einmal ein Legat ausgesetzt worden war. Ich haßte dich damals und trachtete dir nach dem Leben, weil ich als einziger Sprößling der Familie dann die Erbschaft des Urgroßvaters hätte antreten können und außerdem auch dein Vermögen mir noch zugefallen wäre. Ich folgte deinen Spuren, sah dich mit dem Amerikaner in der Tanzdiele bei einer Tasse Schokolade, – ein Gedanke blitzte in mir auf –, unbemerkt schüttete ich das Gift in deine Tasse, während du dich im Walzertakt wiegtest, – ihr kamt zurück an euren Tisch, wechseltet die Plätze, – Milner trank aus deiner Tasse, – und es war geschehen. – Meine Herren, walten Sie Ihres Amtes!«

Hilma, die wie geistesabwesend mit weit geöffnetem Mund und entsetzten Blicken zugehört hatte, fiel jetzt mit einem kreischenden Aufschrei der ganzen Länge nach auf den Teppich.

Die Begleiter des Kommissars ergriffen Dr. Grellnick und versuchten, ihm Handschellen anzulegen. »Nicht doch!« wehrte er zynisch ab, »bemühen Sie sich nicht, meine Herren, ich gehe dem Verderben kalten Blutes entgegen. Mein Leben war ein Rausch, ich quittiere jetzt darüber …!«

Die Beamten ließen ihn nicht weiter sprechen, nahmen ihn in ihre Mitte und drängten ihn zur Tür hinaus.

Vorher warf Dr. Grellnick noch einen Blick auf seine ohnmächtig daliegende Frau, um die sich das Hausmädchen eifrig bemühte, aber seine Züge blieben starr, – kein Mitleid, – kein freundliches Wort, kein Abschiedsgruß.

Mit Hilfe eines herbeigerufenen Arztes konnte Hilma wieder ins Leben zurückgerufen werden, sie verfiel dann in Schreikrämpfe und mußte noch längere Zeit das Bett hüten.

Das tragische Ereignis erschien ihr wie ein schrecklicher Traum. Sie fühlte sich überall verfolgt, sah in jedem Gefäß einen Giftbecher, zuckte zusammen, wenn sie Tritte vernahm, und glaubte sich dauernd beobachtet von den schweflig feurigen Augen eines Mörders, mit dem sie den Ehebund geschlossen.

Dr. Grellnick legte vor dem Untersuchungsrichter ein offenes Geständnis ab und enthüllte auch in einer Niederschrift das Geheimnis des sonderbaren Giftes, das er Heptalamin nannte. Bei seinen chemischen Versuchen habe er entdeckt, daß die Alkoloide des Hyoscyamus durch Übersättigung und Ammoniak und Chloroform sich außerordentlich verstärken lassen, und es sei ihm durch Auswaschung mit Petroleumäther auch gelungen, die Substanz geschmack- und geruchlos zu machen. Unbemerkt habe er diese Versuche in Verbindung mit Experimenten an Meerschweinchen in den Nachtstunden fortgesetzt, bis er endlich den verblüffend hohen Grad der Giftwirkung und dessen sofortige Verflüchtigung erreicht hatte.

Der Chemiker sühnte sein Verbrechen durch einen plötzlichen Tod. Die Aufregung bei der Verhaftung und die noch stärkeren seelischen Erschütterungen in der Voruntersuchung nahmen dem seit Jahren geschwächten Körper den letzten Rest der Widerstandskraft.

Man fand ihn zwei Tage nach seinem Geständnis tot in der Zelle liegen. Ein Blutsturz hatte seinem Leben ein Ziel gesetzt.

Zu gleicher Zeit, als die Nachricht von dem plötzlichen Ende ihres Gatten eintraf, empfing Hilma auch die Mitteilung von der Freilassung ihres Jugendfreundes Holdtmann. Ebenso kam ein Brief des Rechtsanwalts Dr. Adler mit einer Liquidation für seine Bemühungen. Es ergab sich hieraus, daß Dr. Grellnick die seiner Zeit von Hilma als Vorschuß für den Rechtsanwalt verlangten fünfzigtausend Mark für sich verwandt hatte.

Unter dem Eindruck dieser verschiedenartigen Neuigkeiten war die Wirkung der Todesnachricht auf Hilma keine tiefgründige.

Nach der Verhaftung ihres Ehemannes, dem sie nur in äußerer Form, aber nicht im natürlichen Sinne ehelich verbunden war, fühlte sie sich wie von einem Alpdruck befreit, weil die dämonische Macht seines Willens den suggestiven Zwang auf ihre eigene Willenskraft nicht mehr ausüben konnte. Und ihr befreites Gemüt nahm das tragische Ende des satanischen Mannes wie einen Geißelhieb der Vorsehung auf, als Schicksalssühne für ein Sündenleben.

Während dieser allmählichen Läuterung des beschatteten seelischen Gleichgewichts bis zu seiner früheren mädchenhaften Reinheit und Beständigkeit, erschien Werner Holdtmann in ihrem Heim, um seine Freude über die glückliche Wendung der Dinge und zugleich seinen Dank für Hilmas Freundschaftsdienste zum Ausdruck zu bringen.

Für Hilma selbst glich der Besuch des Jugendfreundes dem ersten Sonnenstrahl nach langer Winternacht.

Eine wohlige Wärme durchströmte ihren Körper, ihr Gesicht rötete sich vor innerer Erregung, und ihre von der Tränenflut getrübten Augen bekamen plötzlich wieder den Glanz der Lebensfreude.

Man sprach von dem Schicksal, das die Menschen leitet wie willenlose Marionetten, auf geraden und krummen Wegen, auf schmalen, mit Dornengestrüpp eingefaßten Pfaden unter blutenden Wunden, durch finstere Tiefen, die kein Mensch geahnt, bis zum Sturz in den Abgrund der Vernichtung.

Werner Holdtmann und Hilma Stephany saßen lange im Dämmerlicht an demselben Teetisch, an dem Dr. Grellnick durch die Macht seiner Beredtsamkeit das weiche Herz des Mädchens zu rühren verstand und die Einwilligung zu einer Eheschließung erwirkte, die nur Betrug und Täuschung war.

Die beiden Jugendfreunde hielten ihre Hände ineinander verschlungen. Was seit den ersten Jahren der erwachenden Reife den Grundstein zu einer innigen Geselligkeit gelegt hatte, war durch gemeinsames Leid zu einer tiefen Neigung emporgewachsen, ohne bisher in Worten Ausdruck zu finden.

Und während die Pulse ineinanderflossen zu einem gemeinsamen Schlag der Herzen, trieb es den Architekten, dem inneren Drang nach Befreiung seines bedrückten Gemüts zu folgen und Hilma seine Empfindungen zu offenbaren. »Unser jetziges so innig-trautes Beisammensein«, begann er etwas schüchtern und mit einem fast mädchenhaften Augenniederschlag, »erinnert mich zu sehr an glücklich verbrachte Stunden unserer Jugendzeit. Wir waren von jeher ein Herz und eine Seele. Die Unrast der Großstadt, meine berufliche Ausbildung und deine Entwicklung zum Weibe haben uns zwar zeitweise etwas auseinandergebracht; aber du kannst mir glauben, Hilma, daß sich meine Jugendneigung zu dir im Laufe der Jahre, tausendfach verstärkt, zu einer unbändigen Leidenschaft entfaltet hat, die ich in mir herumgetragen habe, ohne je einem Menschen von meinen Seelenqualen Kenntnis zu geben!«

Holdtmann verspürte den kräftigen Druck einer heißen Hand. Es war ihm dies ein solches Gefühl beseligenden Glückes, daß er einen Augenblick innehielt, um diese nie empfundene Wonne zu genießen.

Dann fuhr er mit bewegter, von verhaltener Leidenschaft erzitternder Stimme fort: »Siehe, Hilma, es wäre zu schön gewesen, wenn wir unseren Lebensweg gemeinsam fortgesetzt hätten. Ich habe es nie gewagt, dir meine Liebe zu gestehen, weil ich fürchtete, du würdest mich meiner Armut wegen zurückweisen; aber glaube mir, Reichtum der Seele wiegt schwerer als Gold. Ich kann meinen Schmerz nicht länger eindämmen, die Sehnsucht nach dir verbrennt mein Gehirn. Ich fürchte, wir sehen uns heute das letzte Mal, denn …!«

»Hör' auf, Werner, hör' auf!« stöhnte Hilma und warf sich an die Brust ihres Jugendfreundes, »ich kann deine quälenden Worte nicht länger ertragen, du marterst mich zu Tode! Warum hast du nicht früher gesprochen, du schweigsamer Dulder, wie konnte ich ahnen, daß meine Liebe zu dir, so glühend erwidert wurde, während ich im Geheimen schon längst die deine war! Aber ich fürchtete, dein schwärmerisch-idealer Sinn habe in mir das rechte Weib nicht erkannt. Erst als ich in der Gefängniszelle einen Hauch deiner Liebe verspürte, da wußte ich, daß meine Sinne mich irregeführt. Es war zu spät. Not und falsches Ehrgefühl zwangen mich auf einen anderen Weg. Eine höhere Gewalt hat den Knoten seelischer Verwirrung wieder gelöst. Ich bin frei und rein wie ehedem und würdig, dein Weib zu sein!«

Holdtmann schwieg. Er hielt die Geliebte, die er von Jugend an ersehnt, endlich in seinen Armen und küßte ihren Mund mit der Glut einer seit vielen Jahren genährten und gefesselten Leidenschaft.

Die Dämmerung war dem Dunkel der beginnenden Nacht gewichen. Der Mond tastete mit seinem bleichen Licht im Zimmer umher und fand ein glückliches Paar noch immer innig umschlungen.

Karnevalszeit. Vermummte Gestalten. Leute, die ein falsches Gewand angezogen, um ihre eigentliche Nichtigkeit zu verbergen, Laster mit dem Schein der Tugend zu verdecken. – Heuchler des Lebens.

In der Tanzdiele am Kurfürstendamm schluchzen die Geigen, hämmert das Klavier. Tänzerpaare im Mummenschanz wiegen sich in grotesken Bewegungen im Dämmerlicht der bunten Lampen.

Stommel, der ehemalige Barbier, sitzt an einem Tisch in Gesellschaft ausgelassener Halbweltdamen und deren Liebhaber. Er ist elegant gekleidet wie ein fürstlicher Kavalier und läßt sich »Herr Baron« titulieren, denn nach den verbüßten Gefängnisstrafen war ihm ein ergiebiger Fischzug gelungen. Die Sektpfropfen knallen, und die Geldscheine fliegen zuhauf. Alles lacht und scherzt und singt, und die Paare schwingen sich stumm im Sinnenrausch. Der Karneval des Lebens.

Nur ein glückliches Paar, Werner Holdtmann und Hilma Stephany, hat sich aus dem Sumpf der Großstadt auf ein sonniges Eiland hinübergerettet.

Die anderen droht die Welle des Verhängnisses in jeder Minute zu verschlingen.

Ende


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