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Hinrich, der diesmal noch nicht für das Deutsche Reich zu sorgen brauchte, hatte diesen für seinen Vater so verdrießlich endenden Tag viel angenehmer verlebt.

Als der Vater am Morgen vom Hofe fuhr, hatte er ihm noch vom Wagen zugerufen: »Kiek ok mal nah de Immen!«

Der Loher Imker war mit der Hauptmacht seiner Völker in die Wesermarsch gezogen, aber einige Schwärme von Kerntruppen hatte er in der Garnison, dem langgestreckten Immenzaun hinter den Loher Büschen, zurückgelassen. Denn ganz ohne Honigblüten ließ der Juni auch das enge Heidetal nicht. Diese standen unter Hinrichs Obhut.

Die Imkerpfeife mit dem Blechpüster im Munde, den treuen Karo zur Seite, schlenderte er nach dem Kaffeetrinken gemächlich unter den hohen Waldbäumen dahin. Die Abwesenheit des strengen Vaters, die stille Zeit vor der Heuernte, der leuchtende, singende Frühlingstag, die dampfende Pfeife, alles wirkte zusammen, ihn in die angenehmste Stimmung zu versetzen.

»Tack ... tack ... tack« kam es aus einer hohen Tanne, und Holzspäne flogen hinterdrein. Hinrich blickte den Stamm hinauf und entdeckte hoch oben einen Schwarzspecht, der mit kräftigen Schnabelhieben das Holz bearbeitete. Der stolze Baum war also auch einer von den vielen überständigen, die dem Specht die fettesten Holzwürmer lieferten. Und wie viele solcher gab's hier! Wieviel Kapital ging nutzlos zugrunde! An anderen Stellen stand das Jungholz dann wieder so dicht, daß es erstickte. Schade, schade! Was war aus diesem Walde zu machen, wenn er regelrecht durchforstet wurde! Der Ärger über den alten Schlendrian, dem gegenüber er machtlos war, wollte dem Jungen Burschen fast die behagliche Stimmung ein wenig trüben.

Während er an den Stämmen hinaufsah, hatte Karo die Nase an der Erde und verschwand, einer Spur folgend, in einer Dickung, wo allerhand Buschwerk von Erlen, Weiden, Vogelbeeren und Tannen einander beengend sich an einen Waldbach drängte. Plötzlich gab er Laut. Es klang energischer, als es zu sein pflegte, wenn ein Eichhörnchen an seiner Nase vorbei einen Stamm hinaufhuschte oder ein aufgestörter Zaunigel ihm seine grannigen Stacheln entgegensperrte. Und nun mischten sich in das Gebell Hilferufe einer menschlichen Stimme: »O, der Hund, Hilfe!« »Karo!« rief Hinrich gebieterisch; aber Karo hörte nicht. Da hielt der junge Mann den Arm schützend vor das Gesicht und arbeitete sich in das Gebüsch hinein, indem er noch lauter rief: »Karo, kusch' dich!« Nach wenigen Schritten fand er sich plötzlich auf einer Lichtung, und der Hund kam angekrochen, den Schwanz zwischen die Beine geklemmt und mißtrauische Blicke nach einem jungen Mädchen werfend, das eben von dem unteren Zweigestockwerk eines Erlenbusches zur Erde sprang. Verwundert sahen die beiden Menschenkinder sich an. Hinrich nahm die Hacken zusammen und lüftete verlegen seine Ulanenmütze. »Das ist ja ein gräßliches Tier,« sagte das Mädchen mit einer Stimme, in der noch die ausgestandene Angst zitterte, und mit einem bösen Blick auf den Hund, der hächelnd sein inneres Gleichgewicht wiederzugewinnen suchte.

»Pardon, Fräulein,« sagte Hinrich, nun die Hand militärisch an die Mütze legend, »Karo tut keinem Menschen was. Bloß was ihm auffällig ist, meldet er seinem Herrn, wie jeder ordentliche Hund.«

»Hat er denn noch keinen Menschen gesehen?« fragte sie keck.

Hinrichs Verlegenheit war im Schwinden. »Hier im dicken Busch so'n Fräulein wohl noch nicht,« sagte er lächelnd. »Das ist mir selbst auffällig.«

»Ach, ich lese hier bloß ein bißchen,« sagte sie, auf ein Buch weisend, das im blühenden Thymian des buschfreien Landhügels lag.

»Hm, hm,« machte er.

»Auf unserem Gute ist gar kein rechter Wald mehr. Papas Vorgänger hat alles abgekappt.«

»Mein Vater läßt alles wachsen, wie es wächst. Darum ist hier auch alles so unrüst und wild,« sagte Hinrich.

»Aber das finde ich ja gerade so entzückend. Das ist so romantisch. Hab' ich hier in Ihrem Walde nicht ein reizendes Eckchen entdeckt?«

»Oh, mein Geschmack wäre es nicht just,« meinte Hinrich, sich umsehend.

»Dann haben Sie eben keinen guten Geschmack,« sagte sie munter. »Dieser Hügel mit dem duftenden Thymian und den feinen Gräsern, zu seinen Füßen der samtene Moosteppich, und dort, ganz nahe, wie rieselndes Rauschen, der Silberbach, von Waldblumen umsäumt, die grüne Mauer ringsum und der blaue Himmel mit den weißen Wolkenflocken darüber – ich kann mir kein lieblicheres Plätzchen denken.«

»Na ja, schön, wenn's Ihnen Freude macht.«

»Och nee, die kleine Freude ist einem nun natürlich auch wieder verdorben. Der dumme Hund! Menschen hatten mich hier nie gefunden und gestört.«

»Aber Fräulein, es stört Sie doch hier niemand, und ich bin ja auch man eben gekommen, weil Sie um Hilfe riefen,« sagte Hinrich verdutzt. Er suchte nach einer Stelle im Gebüsch, durch die er am bequemsten den Rückzug antreten könnte.

Das junge Mädchen fuhr plötzlich in die Höhe und hob horchend den Finger: »Ah, da fängt sie wieder an.«

»Wer?« fragte Hinrich verwundert.

»Die Nachtigall,« sagte sie wie abwesend, mit angehaltenem Atem nach rechts lauschend. Der junge Mann blickte erstaunt auf ihre gespannten Züge, und nun lauschte er auch.

Ein vollbesetztes Frühlingsorchester jubelte durch den Wald. Die Amsel flötete, die Finken schlugen, die Grünlinge jiepten; es pinkten die Meisen, jauchzten die Zaunkönige, gurrten die Wildtauben, und Meister Specht schlug mit Bravour den Takt. Aber alles überstimmte der Nachtigall tiefes Rollen, sehnsuchtsvolles Schluchzen, seliges Jauchzen.

Nun schwieg die königliche Sängerin. Die Spannung in den Zügen der jungen Lauscherin wich, sie ließ die Hand sinken und sah den anderen glücklich an. »War das nicht entzückend?« fragte sie, tief aufatmend.

»Ja, sie kann's,« gab er zu.

»Just, als der Hund durch den Busch kam, las ich was Wunderschönes von der Nachtigall.«

»So?«

»Soll ich Ihnen das mal eben vorlesen?«

»Ist's eine lange Geschichte?«

»Nein, es ist ein ganz kurzes Gedicht.«

»Och, für Gedichte bin ich nicht stark.«

»Aber es ist wirklich fein!« versicherte sie.

»Denn man zu,« sagte er nachgebend und lehnte sich an einen Ellernstamm, sie halb verwundert, halb neugierig ansehend.

Sie setzte sich an den Abhang des Thymianhügels, hatte das Buch auf dem Schoß und las:

»Das macht, es hat die Nachtigall Die ganze Nacht gesungen, Da sind von ihrem süßen Schall, Da sind in Hall und Widerhall Die Rosen aufgesprungen...

»Ist das nicht wunderschön?«

»Das glaube ich nicht, daß vom Singen der Nachtigall die Rosen aufgesprungen sind,« meinte Hinrich trocken.

Sie sah ihn groß an. »Soll ich Ihnen mal was sagen?« fragte sie.

»Na?«

»Sie sind ein ganz furchtbar prosaischer, unpoetischer Mensch.«

»Dat mag woll wän,« lachte er laut auf. »Geht das Dings noch weiter?«

»Ja, aber Sie haben ja doch keine Freude daran.«

»Och bitte, lesen Sie noch'n paar Verse! Es klingt ganz nett, wie Sie das lesen können.«

Sie fuhr fort:

»Sie war doch sonst ein wildes Blut;
Nun geht sie tief in Sinnen,
Trägt in der Hand den Sommerhut
Und duldet still der Sonne Glut,
Und weiß nicht, was beginnen.

Das macht, es hat die Nachtigall
Die ganze Nacht gesungen;
Da sind von ihrem süßen Schall,
Da sind in Hall und Widerhall
Die Rosen aufgesprungen.«

»Wen meint er mit der ›sie‹?« fragte Hinrich.

»Das Mädchen natürlich.«

»Welches Mädchen? Es gibt 'ne ganze Masse Mädchens.«

Die Vorleserin wurde verlegen, eine zarte Röte stieg in ihre Wangen. »Danach muß man nicht so genau fragen. Es ist doch man bloß ein Gedicht ...«

»Soo, na ja ... Aber das muß ich sagen, schön lesen können Sie das wirklich. Das klingt wie Musik ... so, als wenn einer ganz leise und fein die Harmonika zieht.«

Sie blickte fragend zu ihm auf. Der Vergleich mit solchem Instrument erschien ihr nicht gerade schmeichelhaft. Aber da sah sie an seinem Gesicht, daß es ein völlig ernst gemeintes Kompliment sein sollte. »So? Das meinen Sie wirklich?« sagte sie angenehm berührt.

»Jawoll, das meine ich. Ich gehe ja sonst nicht viel mit Gedichten um. Aber unser Schullehrer hielt stark darauf, und da habe ich 'ne ganze Masse gelernt.«

»Die Sie natürlich schon lange wieder vergessen haben,« ergänzte sie.

»Das will ich nicht sagen,« erwiderte er nachdenklich, »behalten kann ich gut.«

»Dann sagen Sie doch bitte auch mal eins her! Was können Sie denn noch?«

Hinrich legte die Hand an die Stirn und sann.

»Wohltätig ist des Feuers Macht,« fing er an, aber er unterbrach sich gleich: »Ach nee, das wird nachher zu bunt mit all den Eimern und Ketten.« Und wieder dachte er nach. Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf, und er fing an, den Blick auf das braune Fell Karos gerichtet und die einzelnen Zeilen abhackend;

»Ich ging im Walde
So für mich hin,
Und nichts zu suchen,
Das war mein Sinn.
Im Schatten sah ich
Ein Blümlein stehn
wie Sterne leuchtend ...«

Er stockte und sah sein Gegenüber fragend an.

»Wie Äuglein schön,« half sie ein.

»Wie – Äuglein – schön,« wiederholte er in verändertem Tone, betroffen von der leuchtenden Schönheit der zu ihm aufschauenden Augen. – Und nun war er ganz aus dem Text. »Och, ich kann das alte Gedicht doch nicht ordentlich mehr,« sagte er schnell. »Der Mann hat die Blume dann ausgegraben und dicht bei seinem Hause eingepflanzt, und da ist sie schön angewachsen ... Was für eine Blume das gewesen ist, weiß ich aber nicht.«

Nun blickte er wieder nach dem Mädchen, heimlich bange vor dem Leuchten ihrer Augen. Aber sie hatte den Blick gesenkt, ihre Wangen schienen leicht gerötet.

Plötzlich hob sie das Köpfchen, und es flog das Zöpfchen, und sie examinierte: »Wissen sie denn wenigstens, von wem Ihr Gedicht ist?«

Hinrich sah sie erschrocken an. Aber er faßte sich ein Herz und sagte ganz dreist: »Von Schiller.«

»Von Schiller?« lachte sie hell auf. »Aber mein bester Herr, das muß einer doch schon im Gefühl haben, daß solch ein Gedicht nicht von Schiller sein kann. Gewiß, Friedrich von Schiller war ein großer Dramatiker, denken Sie doch nur an die Räuber und an Wallenstein! Aber unser großer Lyriker ist Johann Wolfgang von Goethe, und von dem ist auch Ihr kleines entzückendes Gedicht. Und meins ist von Theodor Storm.«

»So, mir soll's recht sein, Sie müssen das ja wissen,« meinte er trocken und wunderte sich, daß sie nun so ganz anders aus den Augen schaute als vorhin. Es wollte ihm beinahe scheinen, als ob sie ein altes Gesicht hätte. »Denn auch adjüs; ich muß machen, daß ich zu meinen Immen komme.«

Er hatte die Hand an die Mütze gelegt und bog einen Busch zur Seite, um den Ausgang zu gewinnen.

»Ach bitte, Herr Lohmann, noch eine Frage!« bat das Mädchen.

Er wandte sich um und fragte kurz: »Und?«

»Was meinen Sie, wird unser Mann heute durchkommen in der Reichstagswahl?«

»Unser Mann?« fragte Hinrich. »Wer ist das denn?«

»Natürlich der Nationalliberale,« sagte sie verwundert. »Wer denn sonst?«

»Das mag Ihrer wohl sein. Mein Vater und unsere Leute wählen den Welfen.«

»Den Welfen!« rief sie erschreckt. »Einen von denen wählt ihr, die wieder 'n eigenen König haben und uns alle katholisch machen wollen?«

»Das mit dem eigenen König mag wohl stimmen. Vom Katholischmachen habe ich noch nichts gehört.«

»Aber Sie haben doch von Windthorst gehört. Das war doch so'n berühmter katholischer Bischof, der immer so schreckliche Reden gegen den Reichskanzler Fürsten Bismarck gehalten hat.«

»Nee, Windthorsten kenne ich nicht. Ich habe mich überhaupt noch nicht viel um diesen Kram gequält.«

»Kram nennen sie das? Ich denke darüber ganz anders. Sie müssen nämlich wissen, ich schwärme mächtig für Politik.«

»So.«

»Und das tun heute schon viele Frauen. Und sie wollen auch mit für den Reichstag wählen.«

»So? Die sind wohl verrückt?«

»Ganz im Gegenteil, die meisten haben auf Universitäten studiert, und viele haben sogar den Doktortitel. Strümpfe stricken und heiraten? Daran denken diese Vorkämpferinnen unseres Geschlechts gar nicht. Das nennt man Frauenbewegung.«

»Soo ...«

»Jawoll, meinen Sie denn etwa, wir wollten ewig Sklavinnen der Männer bleiben?«

»Nee, das wollen Sie denn ja wohl nicht.«

»Sagen Sie mal,« inquirierte sie plötzlich, ihn scharf ansehend, »sind Sie für Ihre Person auch Partikularist?«

»Wie meinen Sie?«

»Ach so, Pardon, das Wort verstehen Sie nicht. Ich meine, sind Sie für Ihre Person auch welfisch gesinnt?«

»Och, das ist so 'ne Frage. Mit der Politik ist das 'n eigen Ding. Der eine sagt hott, der andere hü. Ich weiß selbst nicht recht, was ich bin.«

»Was gefällt Ihnen denn bei den jetzigen Zuständen nicht?« fragte sie.

»Och, das muß ich sagen, bei unserem jetzigen Kaiser und König halten wir's ja auch ganz gut aus.«

»Bravo, Herr Lohmann! Das ist die Hauptsache, daß wir immer treu zu Kaiser und Reich halten,« sagte die kleine Patriotin mit Überzeugung. »Unser Kaiser und König ist ja auch so ein guter und tüchtiger Herrscher.«

»Und ein schneidiger Reiter,« fügte Hinrich mit blitzenden Augen hinzu.

»Haben Sie ihn denn schon mal zu Pferde gesehen?« fragte sie interessiert.

»Wie oft!« sagte er wegwerfend. »Uns Königsulanen in Hannover besucht er doch alle naselang. Ich habe auch mal mit ihm gesprochen.«

»Wa–a–s? Wo?!«

»Im Leineschloß, als ich mal stellvertretende Ordonnanz war. Er fragte mich, wo ich zu Hause wäre.«

Hinrich sagte dies, als ob das alles für ihn etwas Alltägliches wäre, worüber man nicht viel Worte macht. Aber er sah mit Freuden, daß er dem kleinen weisen Ding, das in allem ihm über war, nun doch auch einmal imponiert hatte.

»Der deutsche Kaiser – hat mit Ihnen – gesprochen?« wiederholte sie noch einmal, seine Gestalt musternd.

»Ja, wissen Sie,« sagte er und strich rechts und links das Schnurrbärtchen in die Höhe, »wenn man Flügelmann bei den Königsulanen ist ...«

»Ja, das ist freilich eins unserer feinsten Regimenter ...,« meinte sie nachdenklich.

»Gilt ebensoviel als die Gardekavallerie. Mein Rittmeister war ein Graf und mein Leutnant sogar ein Prinz. Nun aber adjüs,« sagte er lächelnd, froh darüber, daß er so vorteilhaft abtreten konnte.

»Adieu, Herr Lohmann! Adieu Karo!« Karo wollte seinem Herrn, der sich schon gewandt hatte, folgen, aber er konnte nicht. Sie hielt ihn an der Pfote und sagte: »So ist's recht, gib schön Fuß! Wenn wir uns noch mal wiedersehen sollten, bist du aber gleich freundlich.«

Karo wedelte mit dem Schwanze und leckte sich verlegen ums Maul. Sein Herr aber wandte sich noch einmal um und sagte: »Wenn er Ihnen wieder einmal die Zähne zeigt, sagen Sie man einfach Mongami zu ihm. Sein erster Herr hat ihm das beigebracht, daß er dann gleich freundlich wird.«

»Mongami? Das soll wohl französisch sein?«

»Is möglich. Meinetwegen kann's auch chinesisch sein.«

»Nein, es ist ganz gewiß französisch. Das sind zwei Worte: mon heißt mein und ami Freund; mon ami mein Freund.«

»Mag gern sein. Die Hauptsache ist, daß der Hund es versteht. Nun komm aber, Karo, es ist die höchste Zeit. Adjüs, Fräulein.« Zum dritten Male sagte er's, die Mütze lüftend, und diesmal entkam er durch das Gebüsch, ohne wieder festgehalten zu werden.

Als er die grüne Mauer hinter sich hatte, überzeugte er sich durch einen mißtrauischen Rückblick, daß er wirklich entronnen war, und murmelte einen befreienden Kraftausdruck aus der Reitbahn. Hol's der Deuker, was hat so eine alles gelernt! Französisch und Windthorst und Frauenbewegung und Gedichte und die Leute, die sie gemacht haben, mit allen Taufnamen, und der Kuckuck mag wissen, was sonst noch! Und wie sie sich damit dicketut! Sie ist wohl noch eine rechte Gans ... Ja, ganz gewiß, eine rechte Gans, die alles herausgeschnattert, was sie weiß. Und ob das alles so stimmte? Vielleicht sah's in ihrem Kopf ähnlich aus, wie hier in dem wild gewachsenen Walde: alles wirr und bunt durcheinander. Hinrich schüttelte ernst den Kopf. Ja, ein wunderliches Volk waren sie doch, diese Fremden. So ganz anders, als andere vernünftige Leute. Er hatte bislang immer gedacht, es wäre bloß Vaters eigener Kopf, wenn er nichts von ihnen wissen wollte. Aber nein, Vater hatte am Ende doch recht. Kein Wunder, daß solche feinen Leute sich auf Delmsloh nicht lange hielten, wenn so'n Mädchen, das gewiß schon drei Jahre konfirmiert war, den ganzen Nachmittag im Busch saß und Gedichte las und sich von den Vögeln was vorflöten ließ.

*

Tüet ... tüet ... tüet ...

Da ist sie wieder, die Nachtigall. Er bleibt stehen. Nun kennt er ihren süßen Schall aus den hundert Stimmen des Waldes heraus. Und es ist ihm, als sähe er ihre Freundin in dem stillen Waldwinkel wieder stehen und atemlos lauschen, und dann sieht sie ihn wieder mit den wunderbaren Augen an ... Ja, sie mochte sonst sein, wie sie wollte; das mußte man ihr lassen, sie hatte ein paar ganz vermuckte Augen im Kopf. Ganz anders als Dierkbuers Gretschen und Brinkbuers Ahlheid und alle die anderen ...

Nachdenklich geht er weiter. Da plötzlich trifft ein Schein seine Augen. Er erwacht aus seinem Sinnen. Und da lacht und leuchtet es ihm entgegen. Es sind die ersten Blüten an einem wilden Rosenbusch, so jung und morgenschön, wie Sterne leuchtend, wie Äuglein schön. Und zugleich sind auch die Worte wieder da, die vorhin so weich und melodisch über ein paar rote Lippen perlten: »Da sind von ihrem süßen Schall, da sind in Hall und Widerhall die Rosen aufgesprungen ...«

Er bricht sich ein Röslein in einem Kranz grüner Blätter. Dann hält er den Kopf ein wenig schief, betrachtet es und wundert sich. So eine Rose ist doch schön. Er hatte das Lied von dem Knaben und dem jungen, morgenschönen Röslein auf der Heiden in der Schule gelernt und wohl fünfzigmal gesungen. Aber mit eigenen Augen hatte er die Schönheit der Rose noch nie geschaut. Ja, solche Rose ist schön. Der zarte Schmelz der Farbe ... ach, es ist ja derselbe Rosahauch, den er vor fünf Minuten auf dem Gesichtchen in dem Waldwinkel gesehen hat. Und Richtig, in dem Gedicht stand ja nicht nur von Rosen, auch von einem Mädchen. Sie hatte ja nicht sagen wollen, welches Mädchen das wäre ... Vielleicht war sie's selbst ... Ja, ganz gewiß war's keine andere. Als er sie gefragt hatte, war sie rot geworden ... noch röter als diese Rose ...

Er blieb stehen. Wenn er umkehrte und ihr die Rose brächte! Die Nachtigall mit ihrem süßen Schall, die Rose in seiner Hand, die von dem Widerhall aufgewacht ist, und das Mädchen mit den leuchtenden Augen, die drei gehörten ja zusammen ...

Aber er schüttelte energisch den Kopf. Hä, er wollte sich schön hüten, dem naseweisen Ding noch einmal in den Weg zu laufen. Schul- und Instruktionsstunden hatte er in seinem Leben genug durchgemacht. Und nun steckte er sich die Rose ins Knopfloch und schritt stramm dahin.

Am Immenzaun angelangt, stülpte er sich die Imkerkappe über den Kopf, wandte einige Körbe um und sah hinein, indem er die aufgeregten Völker mit einigen Mundvoll Tabaksqualm beruhigte. Er überzeugte sich, daß auch die kleinsten Diener des Lohhofes ihre Pflicht taten.

Als er sich umwandte, sah er durch das Gitter vor seinen Augen mit Verwunderung, wie weit und still und leuchtend die Heide sich vor ihm dehnte. Da zog er die Kappe vom Gesicht, ließ nun den ungehinderten Blick in die Ferne wandern und wunderte sich noch mehr. Als er eine Weile gestanden und geschaut hatte, streckte er sich vor dem Immenzaun in das braune Heidekraut und stützte das Kinn in beide Hände. Und immer größer und weiter wurden seine Augen. Er dachte jetzt nicht an Aufforstung und bessere Nutzung seiner anderthalbtausend Morgen. Nein, er freute sich, daß die Welt so groß und weit und schön war, daß ihr Sonnenauge so wunderbar leuchtete, daß die dunklen Wacholder so feierlich dreinschauten, und daß so lange, schmale Schatten über die Heide wanderten. Dann wälzte er sich herum und lag nun auf dem Rücken, die Hände unter dem Kopf gefaltet. Da freute er sich über den hohen, tiefen Himmel, an dem die Schwalben hoch droben als hin und her schießende Pünktchen erschienen; und noch viel, viel höher schwebten die weißen Wolken. Plötzlich flog über diese ein rötlicher Schein. Und nach einer Weile hatten sie genau die Farbe der Rose in seinem Knopfloch ... woher auf einmal all die Rosenfarbe in der Welt? – Und dann lauschte er. In den hohen Tannen, die wie eine Mauer hinter dem Immenzaun standen, sang der Abendwind ein leises Lied. Die Vöglein waren wohl schlafen gegangen; nur selten mischte sich ein verträumtes Stimmchen in das sanfte Rauschen des Waldes. Aber die Nachtigall war noch wach. Zuweilen fiel aus der Tiefe des Waldes ein verlorener Ton ihres Liedes in sein gespannt horchendes Ohr ...

Lange Zeit lag er regungslos, lauschend und schauend. Dann kam eine Unruhe über ihn. Er legte wechselnd das eine Bein über das andere. Er hob und streckte die Arme. Er schloß die Augen und öffnete sie wieder ... Plötzlich sprang er auf, sah mit glänzenden Augen um sich und ging mit schnellen, fliegenden Schritten durch den Wald. An dem wilden Rosenbusch machte er halt und brach mit zitternden Händen die drei schönsten seiner Rosen. Die allerschönste gab ihm einen scharfen Stich, und ein dicker Tropfen dunklen Blutes floß danach. Aber er achtete das nicht, sondern ging mit schnellen, federnden schritten geradewegs auf den Winkel am Lach zu ... Aber auf einmal verlangsamte sich sein Schritt, er blieb stehen, ging unschlüssig weiter, blieb wieder stehen, und plötzlich machte er militärisch exakt eine Wendung halbrechts und schritt, den Thymianhügel in weitem Bogen meidend, stramm dem väterlichen Hofe zu.

Abends im Bett schüttelte er den Kopf in den Kissen und lachte über sich selbst. Aber ein schöner Tag war's gewesen ... Und der Mensch soll doch nicht bloß arbeiten und sich quälen ... Es gibt allerhand Dinge im Leben, über die einer sich freuen kann, schöne Frühlingstage, Waldeskühle und Wipfelrauschen, Vogelgesang, Nachtigallen, Rosen und so weiter.

Das Geräusch, das die in den nahen Pferdestall zurückkehrenden Braunen verursachten, weckte ihn aus dem ersten Schlaf. Als er hörte, wie Vater den Riegel zustieß und dann über die Diele stampfte, wußte er, daß er die Wahlschlacht verloren hatte. Ihn bekümmerte das nicht sehr. Er fand heute mehr denn je, daß es sich auch unter den Preußen ganz gut leben ließ. Wie das superkluge, naseweise Ding aus dem Walde nun wohl triumphierte! Bald lag er wieder in festem, traumlosem Schlafe.


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