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Die Tage kamen und gingen.
Die Heuwagen schwankten hochbeladen von den Seewiesen herein, und an den Zweigen der Obstbäume längs den Feldwegen hingen abgestreifte graugrüne Büschel und wehten im schwülen Wind.
Und wieder kamen und gingen die Tage.
Die blinkende Sichel schlug in das wogende Korn, und mit Angstgeschrei flohen die Vögel des Feldes von ihren Nestern. Keuchende Menschen luden die schweren Garben auf die Wagen, schnaubende Rosse zogen die Lasten heimwärts. Und nun hingen an den Obstbäumen längs den Feldwegen die gelben Büschel und wehten im Winde.
Andre Tage kamen und gingen.
Dann geschah es, daß in allen Gassen und Gäßlein der Stadt Seefels die Mägde und Kinder mit großen, runden Eisenblechen rannten und weißen Teig zu den Bäckern trugen. Und die Bäcker buken im Schweiße des Angesichts den weißen Teig zu goldgelben Kuchen. Aus den Häusern klang vom Morgen bis zum Abend das Gekreische der Besen, von den Stiegen tropfte die graue Brühe. In den Höfen klatschten die Stecken auf Wämsern und Kleidern, und der Staub stieg in Wolken zum Himmel empor. Der Abend dämmerte heran, und die Glocken läuteten das Fest der Kirchweihe ein. Hausfrauen 124 mit hochroten Gesichtern unterbrachen ihre Arbeit, schlugen das Kreuz und murmelten mit ihren Kindlein den Englischen Gruß. Dann legte sich die Ruhe der Nacht über das Städtlein. Die Wächter schulterten ihre Spieße und begannen den Rundgang. Ein Licht nach dem andern erlosch hinter den Ladenritzen. Nur hier und dort pochte ein Meisterlein bis tief in die Nacht an der Sohle eines Schuhes, der auch noch fertig werden mußte bis zum Abendtanze des nächsten Tages. –
Die Hähne schrien. Der Tag brach an, der Tag, der auch dem Allerärmsten gewißlich einmal volle Sättigung brachte im Jahre.
Des Vormittags nach dem Hochamte standen die Leute dichtgedrängt im Sonnenschein auf dem Kirchhof zwischen den Gräbern und auf dem Marktplatze draußen zwischen den Holzbuden. Aus den offenen Fenstern der Wirtshäuser klang das Gequieke der Pfeifen, und von den Bratwurstherden stiegen süße Düfte in die heiße Luft. Hochnäsig stolzierten die Weiber der Stadtherren einher und ließen ihren Goldschmuck funkeln im Sonnenlichte. Mit Bewunderung und Neid betrachteten die Weiber der Bauern die unerhörte Pracht. Die Händler priesen mit lauter Stimme ihre Waren an. Kinder zogen mit begehrlichem Piepsen ihre Mütter dahin und dorthin. Bettler murmelten ihre Sprüchlein, 125 Quacksalber überschrien alles andre, und zwischen den Holzbuden begann das Locken und Feilschen des Jahrmarktes.
Da auf einmal kam die Menge in Bewegung. Barhäuptig war der Heiligenprobst aus seinem Hause gerannt. Nun stand er da und fuchtelte mit den Armen. Wie ein Klumpen schwärmender Bienen um ihre Königin, so ballten sich die Neugierigen um den schreienden Heiligenprobst.
»Helft, helft! Es schwimmt einer im See. Von meinem Fenster aus hab' ich's gesehen.«
»Im See – wo? Helfet, Leut' – rennet – laufet!«
Der Knäuel kam in Bewegung, Frauen kreischten, Kinder schrien, Männer fluchten. Hunderte drängten ahnungslos von außen herein, Hunderte von innen heraus.
»An den See!« schrien die einen. »'s will einer ertrinken!« die andern. »Laufet! – So drücket nit! – Höret ihr nit? – Es will einer ertrinken!«
»An den See! An den See!«
Und nun wälzte sich das Volk schreiend die steile Gasse hinunter.
Keuchend trollte der barhäuptige Kirchenprobst in der trollenden Schar der andern, und von Zeit zu Zeit schrie er immer wieder: »Ich glaub' halt, es ist schon zu spät!«
126 Endlich stand alles, was Beine hatte, unten auf dem flachen Strande und starrte hinaus auf die sonnige Fläche des blauen Sees und auf das dunkle Ding, das weit draußen ganz stille im Sonnenscheine schwamm.
Boote stießen vom Ufer.
Mit gefalteten Händen stand der Heiligenprobst und bewegte murmelnd die Lippen, als betete er für den gefährdeten Armen.
»'s ist eine Mönchskapuze – ich seh's genau!« rief ein Weib.
»Die muß es ja wissen,« sagte ein Bürger; »die kann durch drei verschlossene Türen gucken.«
»Ich bitt' dich, Nachbar,« murmelte der Heiligenprobst, »mach keine Späße! Der arme Mensch, der arme Mensch!«
Das erste Boot kam nahe an den dunkeln Punkt und zog die glitzernden Ruder ein. Halbunterdrückte Rufe wurden laut in der Menge, die in einer langmächtigen schwarzen Reihe den Strand bedeckte.
»Jetzt heben s' ihn 'raus,« rief einer.
»'n Mönch ist's!« schrie das Weib. »Ich seh's genau.«
»Ein Mönch – ein Mönch!« schrien zehn andre.
»Es wird halt doch zu spät gewesen sein,« seufzte der Heiligenprobst mit wehmütigen Gebärden.
»Freilich ist's zu spät gewesen,« sagte einer neben 127 ihm. »Der ist wohl schon gar lang im Wasser gewesen, eh's ihn gehoben hat.«
Der greise Weltpriester humpelte herzu. Zwei Kapläne unterstützten ihn zur Rechten und zur Linken.
Ehrerbietig machte die Menge Platz. Mit gesenktem Haupte trat ihm der Heiligenprobst entgegen. »Ein Mönch,« flüsterte er.
Mit unsäglichem Mitleide richtete der alte Mann die halberloschenen Augen auf den See hinaus.
»Ich kann nichts mehr erkennen,« murmelte er nach einer Weile traurig. Dann versank er in tiefes Schweigen. Er mochte wohl all derer gedenken, die er in seinem langen Leben zur Ruhe bestattet hatte, derer, die unfreiwillig, und derer, die freiwillig ihren Tod gefunden hatten in den Wellen dieses Sees.
Näher kamen die Boote. Rufe erschollen von ihnen herüber zu den Menschen am Strande. Dann jauchzte einer hell auf.
Der Heiligenprobst hielt die Hände vor und schrie, so laut er konnte: »Ist – er – tot –?«
Da hoben sie draußen im ersten Boote eine schwarze Gestalt empor. Kopfschüttelnd wandte sich der Heiligenprobst zum Weltpriester.
»Es ist ja gar kein Mensch!« kreischte das Weib.
Noch näher kamen die Boote.
128 »Der heilige Antonius von Seemünster ist's!« kreischte die Alte und schlug das Kreuz.
Murmelnd drängte sich die Menge an der Stelle zusammen, wo die Boote landen mußten.
Knirschend fuhr das erste Boot auf den Sand.
»Er ist's! Er ist's – der heilige Antonius!« riefen sie da und dort im Haufen.
»Dummes Zeug!« rief ein Bauer und gebrauchte seine Ellbogen, um näher heranzukommen. »Unsern heiligen Antonius hab' ich doch heut früh noch in seiner Kirche gesehen.«
»Und er ist's doch!« rief nun der Heiligenprobst mit dröhnender Stimme.
Im ersten Boote stand, aufrecht und von einem Fischer gehalten, der heilige Antonius mit dem geschnitzten Lilienzweige, in eine braune, triefende Kutte gehüllt, und lächelte mildfreundlich auf die Menge herüber.
»Ein Wunder!« rief nun der Heiligenprobst und breitete die Arme aus gegen den Heiligen. »Ein Wunder!« rief er zum zweitenmal und sank auf die Knie.
»Ein Wunder!« ging es murmelnd durch die Menge des Volkes, und einer nach dem andern beugte das Knie und hob die Hände, während man die lächelnde Statue in ihrer triefenden Kutte ans Land trug.
129 Mit hilflosen Blicken sah der Weltpriester bald auf den Bildstock, bald auf den Heiligenprobst, während seine Kapläne zur Rechten und Linken gleich den andern gehorsam auf den Sand gesunken waren.
Der Heiligenprobst aber raffte sich auf, wandte sich zum Greise und sagte mit lauter Stimme: »Es ist offenbar, daß der heilige Antonius unsre Stadt mit besonderer Gnade heimsucht. Ich glaube, wir sollen ihn nicht allzu lange hier außen warten lassen, sondern mit geziemender Ehrerbietung in unsrer Pfarrkirche niederstellen.«
»Ja – wenn's aber der Heilige von Seemünster ist – –?« fragte der Greis mit Verwunderung.
»Und wenn es auch der heilige Antonius von Seemünster ist,« gab der Heiligenprobst mit weithinschallender Stimme zur Antwort, »dann will er offenbar das Kloster mit unsrer Stadt vertauschen, und wir müssen ihm Herberge geben in Ehrerbietung.«
Die Menge hatte sich von den Knien erhoben, und eifrig flüsterten die beiden Kapläne auf den greisen Priester ein.
Der Heiligenprobst winkte, und zwei Fischer hoben die triefende Statue empor. Zur Rechten und zur Linken wich das Volk, es bildete sich eine Gasse.
130 Mit zitternder Stimme intonierte der Weltpriester einen Lobgesang. Mit schallenden Stimmen fielen die Kapläne samt dem Heiligenprobste ein, singend ordnete sich das Volk zur Prozession.
Schwankend hielt der Heilige seinen Einzug in die Gassen des Städtleins.
Aber nicht die ganze Menge des Volkes war dem Standbilde gefolgt; ein Häuflein reichgekleideter Bauern, Männer und Weiber, stand noch bei den Booten.
Murmelnd steckten sie die Köpfe zusammen und schielten hinaus nach der singenden Prozession. Und während das Ende des schwarzen Zuges verschluckt wurde vom Stadtmauerpförtlein, sagte ein alter Mann drunten bei den Booten mit zornigen Gebärden:
»Und das sollen wir Seemünsterer uns gefallen lassen?«
»Ob's auch unser heiliger Antonius ist?« meinte ein Weib.
»Schwätzet hin, schwätzet her,« rief ein andrer zornig, »wir fahren heim, und da werden wir's gleich sehen!«
»Recht hat er,« riefen die andern. Und nun rannten sie, lösten ihre Boote und ruderten eilig über den See.
131 Sie troffen von Schweiß, die Männer, und krebsrot waren ihre Gesichter, als die Boote rauschend auf den Strand von Seemünster liefen.
Keuchend rannte der ganze Haufe zum Kloster empor, rannte über den stillen Klosterhof, geradeswegs hinein in die Kirche vor den Hauptaltar.
Da standen sie nun, die aufgeregten Männer und Weiber, und glotzten erstaunt zur Statue des heiligen Antonius empor. Und mildfreundlich lächelte der Heilige auf sie herab, als wüßte er gar nicht, was geschehen war da drüben überm See in der Stadt.
Einer nach dem andern machte seine Kniebeuge gegen den Altar und tappte über das Steinpflaster zur Türe hinaus.
Unter den Linden aber blieben sie alle stehen und sahen sich an mit dummen Gesichtern.
Neugierig kamen die Mönche herbei, und nun begann ein Erzählen und Fragen, daß es widerhallte von den Mauern des Klosters.
*
Der Abend dämmerte herauf. In allen Schenken und Tavernen des Städtleins saßen die Leute dichtgedrängt und besprachen das Wunder dieses Tages. Und immer wieder erzählten sich's die Leute, wie der Heilige ans Land geschwommen sei, 132 geradeswegs und ohne Zweifel aufs Städtlein zu. In der halbdunkeln Stadtkirche aber standen die Andächtigen Kopf an Kopf und sahen unermüdlich empor zu dem mildfreundlichen Antlitze des Heiligen, der einstweilen auf dem Hauptaltare seinen Platz gefunden hatte.
Es war feierlich stille und drückend heiß in dem eingeschlossenen Raume. Aber die Menge wich und wankte nicht.
Die Glocke begann den Abend einzuläuten. Da sprachen sie in den Schenken und auf den Gassen und in der dämmerigen Kirche das Ave.
Zitternd verklangen die Töne. Pfeifend strichen die Schwalben an den Kirchenfenstern hin. Noch immer stand die Menge Kopf an Kopf.
Da erhob sich auf einmal ganz vorn am Altar eine Frauenstimme: »Seht ihr's denn nit?«
Alles reckte die Hälse, und ein fragendes Murmeln ging durch die Kirche.
»Seht ihr's denn nit?« rief die Alte zum zweitenmal. »Er hat schon wieder mit dem Kopf gewackelt.«
Eine Zeitlang war alles ganz stille. Dann rief eine andre erregte Frauenstimme mitten im Schiff: »Wahrhaftig, er wackelt mit dem Kopfe!«
Nun wurden die Leute unruhig, murmelten zuerst und begannen dann zu streiten. Und alle sahen 133 unverwandt zu der Gestalt des Heiligen empor, die im Dämmerlichte verschwamm; sahen so lange empor, bis ihnen das Wasser in die Augen stieg.
Und immer größer wurde die Zahl derer, die den Kopf wackeln sahen, immer kleiner die Zahl derer, die das Wunder bestritten.
Verzückte Weiber rannten durch die Gassen der Stadt und schrien die Neuigkeit in die laue Abendluft.
Von allen Seiten strömten die Leute in die Kirche.
Furchtbar wurde das Gedränge, Männer fluchten, Weiber kreischten, Kinder heulten.
Weiber wurden gequetscht, daß sie ohnmächtig in die Knie sanken, Kinder wurden getreten von der Menge, die gegen den Altar drängte.
Als es Nacht wurde, trug man etliche Tote und zahllose Verletzte aus dem Gotteshause.
Aber auf allen Bauernwagen und auf allen Kähnen hockte das Gerücht, und am nächsten Tage wußte man's in allen Dörfern des Gaues: »Die Seefelser haben jetzt auch einen heiligen Antonius, und der wackelt ganz sichtbar mit dem Kopfe.«