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Ueber dem maiengrünen Tale thronte die Feste des Bischofs, und durch die Straßen Würzburgs fluteten zahllose Bauern aus aller Herren Ländern 255 und machten Bruderschaft mit den empörten Bürgern der treulosen Stadt.
»Es muß das Schloß herab, davor hilft nichts!« hatte der Hauptmann der schwarzen Schar, Florian Geyer, gesagt, und Tag und Nacht berieten die Heerführer, wie man's herunterbringen könnte, das gewaltige Schloß.
Kurze Zeit war Klas mit dem fränkischen Heere draußen bei Heidingsfeld gestanden; dann hatte man ihn mit dem buckligen Schneider und etlichen Bauern in einen großen, halbverlassenen Domherrenhof gelegt. Klas wußte nicht, warum.
Bimbam, bimbam, gingen nun die Würzburger Glocken über ihm, und sein Traum war erfüllt. Doch was kümmerte ihn die große Stadt, was kümmerten ihn die zahllosen Bauern, was kümmerte ihn die Feste des Bischofs? Er hatte andre Sorgen.
Abend war's, lauer, wonniger Maienabend. Vor der Stalltüre, in dem großen Hofraume, stand Klas und wusch ein Pferd. Auf dem Bänklein neben der Türe saß der Schneider.
»Geh zu, Klas, den Gaul gibst dem Schinder; der ist das Futter nit wert!«
Klas antwortete nichts. Er wusch mit Sorgfalt die eiternden Wunden des abgetriebenen Tieres, und Tränen standen in seinen Augen.
256 »Warum habt ihr mich nit zu meinen Pferden gelassen?« stieß er endlich heraus.
Der Schneider lachte. »Jetzt bist ja dabei.«
»Ja, jetzt, wo das andre hin ist!«
»Kannst stolz drauf sein, Klas, es ist verreckt für die Bauernsach'.«
Klas war nichts weniger als stolz. Wie jämmerlich sah doch das Pferd aus! Mit hängenden Ohren stand es da, die Rippen konnte man zählen, und schrecklich war der Rücken zerfleischt von den grausamen Hieben. »Die müssen's Schlängle ziehen,« hatte damals der Schneider gesagt. Jetzt wußte der Junge, was ein Schlängle war und was es hieß, ein Schlänglein ziehen wochenlang. Keinen von all den Menschen, die ihn wider seinen Willen mit sich fortschleppten, keinen haßte er – einzig den grausamen Fuhrmann, der seines Vaters Pferde so unbarmherzig geschlagen hatte, den haßte er, den und das blinkende Schlänglein des evangelischen Heeres. –
Ein Bauer lief in den Hof: »Schneider – geh mit! Der Prädikant steht wieder am Dom.«
»Was für 'n Prädikant?«
»No, der verrückte Prädikant, der Lange mit dem schwarzen Bart und dem zerrissenen Mantel, der Prädikant halt, der immer predigt gegen unsern Krieg!«
257 »Gegen unsern Krieg? Das erste Wort, was ich hör'.«
»Ja, gegen den Bauernkrieg. An alle Straßenecken stellt er sich und predigt, wo er Bauern beisammen sieht; daß wir heim sollen, predigt er.«
»Heim sollen –?« lachte der Schneider. »Den muß ich auch hören!«
Und eilig gingen die beiden aus dem Hofe. –
Klas wusch den kranken Gaul, und dabei tropften ihm die Tränen aus den Augen. Er hatte auch wieder mit dem Heimweh zu tun. Immer des Abends kam es so mächtig über ihn. Er weinte und wusch. – –
Auf der andern Seite des Hofes ging eine Türe, und ein niedliches Mädchen trat heraus mit der Holzbutte auf dem Rücken.
Klas führte sein Pferd in den Stall. Dann kam er zurück und setzte sich auf das Bänklein neben die Stalltüre.
Noch immer stand das Mägdlein am Brunnen, und ihre Holzbutte war längst gefüllt. Zwei große Augen waren auf den armen Jungen gerichtet. Doch der merkte nichts und starrte trübselig vor sich hin.
Da ließ sie die Butte am Brunnen, atmete tief auf und begann vorzugehen gegen die Holzbank.
»Guten Abend!« sagte sie und blieb einige Schritte vor Klas stehen.
258 »Guten Abend!« antwortete dieser und blickte sie mit schwimmenden Augen an.
»Heut ist ein schöner Tag gewesen,« sagte sie und fuhr über ihre Stirne.
Klas nickte.
»Fehlt dir denn was?« fragte sie nach einer Weile.
»Warum denn?« Klas wischte an seinen Augen.
»Weil ich dir's anseh',« meinte sie schüchtern.
»Es tut mir so weh,« klagte nun der Junge.
»Wo tut dir's weh?« fragte sie und kam einen Schritt näher.
»Da drinnen,« erklärte Klas und rieb die Magengegend.
»Hast am End' was Unrechts gegessen?«
»Ich glaub' nit. Ich kann ganz und gar nit viel essen.«
»Seit wann hast denn das?« fragte sie nun ganz eindringlich.
»Sobald wie ich von daheim fort war, ist's an'gangen,« erzählte er vertrauensvoll. »Derzeit tut mir's da drinnen so weh und –«
»Bist am End' nit gern fort von daheim?«
»Gern –?« Der Junge seufzte.
»Lebt dein Vater und deine Mutter auch noch?«
»Freilich.«
Nun saß die kleine Magd schon neben dem langen Jungen auf der Bank.
259 »Gelt, da drinnen tut dir's weh, im Magen, und es zieht sich so nacheinander 'rauf bis in den Hals, und es wird dir alles zu eng, und das Wasser treibt's dir auch zu den Augen 'raus?«
»Wie du nur alles so weißt!« sagte der Junge verwundert.
»No, 's ist mir doch selber schon so 'gangen, wie ich mich vor zwei Jahren herein in die Stadt verdingt hab'.«
»So?« murmelte der Junge. »Am End' bist du auch nit gern von daheim fort?«
»Ach mein –, gar nit gern.«
Klas blickte nun eine Weile starr vor sich hin und dachte nach. »Warum bist denn fort von daheim?« fragte er endlich.
»Warum?« Sie lachte. »Sei nit so närrisch, wir sind unser zehn Kinder daheim gewesen und hätten unsern Vater zum Haus 'naus'gessen. Drum sind wir halt zu dritt fort von daheim. – Und warum bist denn du bei den wüsten Bauern?«
»Warum?« Er kämpfte mit dem Weinen. »Sie haben mich doch auf den Boden geschmissen und haben mir meine Gäul' ausgespannt und haben gesagt, sie gehen nach Würzburg. Jetzt sind sie aber gar nit gleich auf Würzburg, bis ganz zuletzt.«
Ueber dem Hofe drüben öffnete sich ein Fenster, und eine schrille Stimme ertönte.
260 Hastig sprang die Magd vom Bänklein empor. »Leb wohl für heut. Und grein nit so!«
Lange noch sah Klas auf die Türe, hinter der sie mit ihrer Butte verschwunden war.
›Grein nit so!‹ murmelte er nach einer Weile und preßte die Faust auf den Magen.
*
Am nächsten Abend kam das Mägdlein wieder zur Stalltüre.
»Du – wo bist du denn eigentlich daheim?«
Klas lachte sie ganz glücklich an: »No, halt bei mei'm Vater und bei meiner Mutter.«
»Das glaub' ich dir schon.« Jetzt lachte sie. »Hast gehört – meinst denn, die andern Bauern bleiben die ganze Zeit in Würzburg? O nein, die gehen auch allzumal heim, und nachher kommen sie wieder, wenn's ihnen paßt. Das weiß ich ganz gewiß.«
»Ja, ich hab's ihnen aber doch geschworen!« sagte Klas.
Sie hatte die Arme gekreuzt und besann sich. »Ja, was hast ihnen geschworen?«
»Daß ich dableib',« antwortete der Junge.
»Ich mein' halt,« sagte sie nach einer Weile, »wenn du so gar arg Heimweh hast, nachher sagst du's einmal deinem Hauptmann, daß er dich auf ein paar Tag' heimläßt. Kommen mußt freilich 261 wieder, wenn du's ihnen geschworen hast.« Sie wurde ein wenig rot und murmelte: »Ganz gewiß mußt du wiederkommem – – Ja, wo bist denn aber daheim?«
Klas schüttelte den Kopf und besann sich. »Daheim halt,« sagte er endlich, »im hinteren Hof droben.«
»Na, so sag's halt, wie dein Dorf heißt!«
»Es ist doch kein Dorf, es ist nur ein einzelner Hof,« antwortete Klas, »der hintere Hof ist's.«
»'ne Einöd' ist's? Ja, zu welchem Dorf gehört ihr denn aber nachher? Wo pfarrt ihr denn hin?«
»Halt 'nein ins Dorf,« meinte Klas treuherzig.
Da schlug sie die Hände zusammen: »Ach, du lieber Gott, ich mein', du weißt's nit einmal, wo du her bist! Na, da kannst ja gar nit mehr heim, wenn du auch willst?«
Klas wurde sehr nachdenklich. Endlich meinte er kleinlaut: »Ich kommet' schon wieder heim.«
»Ist denn keiner aus dem Dorf in Würzburg?«
Klas schüttelte den Kopf.
»Ist's denn weit hin?« fragte sie angstvoll.
Klas schüttelte den Kopf. Er wußte wahrhaftig nicht, wo er daheim war.
*
262 Das Mägdlein vermochte lange nicht einzuschlafen. ›Er weiß nit, wo er daheim ist!‹ Da mußte sie helfen.
Mit offenen Augen lag sie da und sann und sann. Endlich – ja, so konnte es gehen. Sie legte die zerarbeiteten Hände zusammen, sie murmelte ein Vaterunser. Ja, so mußte die Sache gehen. Dann schlief sie ein.
Am andern Morgen wartete sie schon vor der Stalltür, als Klas heraustrat.
»Kannst nit ein wenig mit mir gehen?« bat sie schüchtern.
Verwundert fragte der Junge: »Wohin denn?«
»Das wirst schon sehen, geh nur zu, geh mit!« schmeichelte sie.
Leichtfüßig trippelte sie aus dem Hof. Klas tappte schwerfällig hinterdrein. Von Zeit zu Zeit sah sie um und winkte.
Durch enge Gassen führte sie ihn, endlich blieb sie stehen vor einer hohen Kirchenmauer, öffnete eine schmale Pforte und winkte.
Schnaufend betrat der lange Klas einen dunkeln Raum.
»Paß recht auf!« mahnte sie und begann eine steinerne Wendeltreppe hinanzusteigen.
Klas tappte hinterdrein.
Nach kurzer Zeit war die Steintreppe zu Ende, 263 und wieder warnte das Mägdlein: »Paß recht auf!« Wie ein Eichhörnchen kletterte sie eine Leiter empor.
Schnaufend folgte Klas von Leiter zu Leiter im finsteren Kirchturme.
Da plötzlich wurde es ganz hell über ihm.
»Na, bist aber du so langweilig!« lachte sie und öffnete schon den zweiten Holzladen. »So hohe Berg'!« murmelte sie enttäuscht. Dann aber rief sie: »Da guck jetzt einmal hinaus, und nachher weist mir's, wo du daheim bist!«
Klas streckte den Kopf aus einem Fenster und stieß einen Laut der Ueberraschung aus: »Die vielen, vielen Hausdächer und die vielen, vielen Türm', und da drunten die Menschen, wie Käfer krabbeln sie herum!« Er lachte. Er wußte gar nicht, wohin er zuerst schauen sollte und was ihm von dem allen am besten gefiel: die roten Dächer, die krabbelnden Menschen oder das gewaltige Schloß drüben auf der andern Seite des glitzernden Stromes!
Eine Zeitlang ließ ihn das Mägdlein gewähren. Dann wiederholte es dringend: »Geh, sag's – wo bist denn hergekommen?«
Klas guckte aus seinem Fenster und schwieg. Im Sonnenlichte schwamm das Maintal. Von nah und fern tönten Trommeln und Pfeifen. Tauben strichen tief drunten über die roten Dächer.
»Guck einmal da 'naus!« sagte die Kleine und 264 zog ihn am Aermel zum nächsten Fenster. »Da ist Heidingsfeld. Seid ihr nicht von Heidingsfeld her'kommen? Wo bist denn jetzt daheim? Sag's!«
Klas guckte und schwieg.
Endlich wandte er den Kopf zurück und sagte treuherzig. »Ich kenn' mich wirklich nit aus.«
Mit gefalteten Händen, mit entsetzten Augen stand sie vor ihm. »Aber das ist doch ärger als arg, Klas!«
Der meinte: »Ja, ich kann aber ganz gewiß nix dafür.« Dann begann er zu schluchzen.
Nun ward sie vom Mitleid gepackt: »Sei still, Klas, sei still, wir werden's schon noch 'rausbringen. Sei still!« Sie zog ihn zu einem Bänklein.
Da saßen sie nun nebeneinander wie zwei Kinder. Sie hatte seine Hand genommen und strich liebkosend darüber. Und seine Tränen versiegten.
»Du,« sagte er nach einer Weile, »für dich hab' ich was.« Damit stand er auf und suchte in seinen Taschen.
»Ach Gott, jetzt hab' ich's verloren!« rief er mit kläglichem Gesicht. – »Nein, doch nit – da ist's!« Er zog ein verschnürtes Bündelein hervor.
Neugierig stand sie neben ihm, während er die Schnur löste.
»Da –!« sagte er endlich und reichte ihr den goldenen Ring mit dem rotglühenden Stein hinüber.
265 Sie schlug die Hände zusammen in heller Verwunderung. Dann ging ein Schatten über ihr Gesichtchen. »Klas – wo hast ihn denn hergebracht?«
»Von der Gräfin; die hat mir doch den Ring geschenkt!«
»Ist denn das gewiß wahr?« fragte sie, noch immer ein wenig ängstlich.
»Freilich, 's ist ganz gewiß wahr,« sagte er und erzählte, so gut er vermochte, die lange Geschichte.
Sie hatte den Ring an den kleinen Finger gesteckt. An den paßte er, sonst an keinen. »Vergelt's Gott!« sagte sie und konnte die Augen nicht abwenden von dem rotglühenden Stein.
»Aber jetzt geh zu!« rief sie, streifte den Ring ab und steckte ihn sorgsam in die Tasche. Und eilig kletterte sie die Leiter hinab in die Tiefe.
*
Es war um die Mittagszeit. Klas hatte seines Vaters Pferd gefüttert und hielt ihm gerade den Wasserkübel vor. In langen Zügen trank das Tier.
»Klas, Klas!« Der Bucklige stand in der Stalltüre. »Klas, 'raus sollst!«
Der Junge stellte den Kübel ab und kam langsam heran.
»Geschwind, geschwind!« drängte der Kleine, faßte ihn am Aermel und zog ihn hinaus in den Hof.
»Da, guck –!« sagte er, hielt seinen Arm 266 umkrallt und wies mit dem langen Zeigefinger zur Sonne empor. »Siehst's?«
Blinzelnd schaute Klas zum Himmel.
»Weißt, was das ist?«
»Ein – ein – Regenbogen,« meinte Klas.
»Hast ganz recht, Klas, ganz recht, es ist ein Regenbogen, und es ist aber doch kein Regenbogen,« sagte der Schneider geheimnisvoll. »Hat's denn geregnet? Es hat nix geregnet, drei Wochen hat's schon nix mehr geregnet. Hat's geblitzt und gedonnert? Ich hab' nix davon gehört. Vielleicht du? Sind Regenwolken am Himmel? Siehst du Regenwolken? Du siehst keine und ich auch nit. Kann's nachher ein Regenbogen sein?«
Verwundert guckte der lange Klas zur Sonne empor, die nun mattleuchtend am dunstigen Himmel stand inmitten eines kreisrunden Regenbogens.
»Ich sag' dir, Klas, es ist kein Regenbogen, mein Lebtag ist das kein richtiger Regenbogen,« murmelte der Bucklige.
»Was ist's nachher?« fragte Klas und senkte die schmerzenden Augen.
Geheimnisvoll tat der Schneider, tippte ihn vertraulich vor den Bauch, zwinkerte mit den roten Augenlidern und raunte: »Was es ist? Ein heiliges Zeichen ist's, Klas! Was denn sonst?«
Wieder blinzelte der Junge zur Sonne empor.
267 »Und weißt, was das heilige Zeichen bedeutet?«
Klas schüttelte den Kopf.
»Es bedeutet, daß die Bauern heut nacht das Schloß da droben 'runterbrennen sollen. Verstehst mich?«
»Ja,« meinte Klas und kam wieder zur Erde mit seinen Augen.
»Willst mitmachen, Klas, bei der heiligen Sach'?«
»Ja, was soll ich mitmachen?«
»Was die andern machen heut nacht, sonst nix. Denk, es muß doch einmal ein End' werden mit unserm Krieg. Wir wollen doch auch wieder heim – verstehst?«
»Heim?« Die Augen des Jungen begannen zu leuchten.
»Zuerst aber müssen wir dem Bischof sein Schloß 'runterbrennen, eher können wir nit heim. Verstehst?«
»Und wenn ich das Schloß 'runtergebrennt hab', darf ich nachher heim?«
Der Schneider lachte. »Ja, Klas.«
»Bald?«
»Bald«
»Morgen?«
»Ja, morgen.«
»Du!«
»Was denn?«
268 »Du, ich weiß nimmer, wo ich daheim bin. Kannst mir's nit sagen?«
»Freilich, Klas.«
»O, du, sag mir's!«
»Wenn das Schloß heruntergebrennt ist, Klas, vorher nit.«
»O gelt!« Der Junge faltete die Hände und sah jammervoll aus.
»Aber heut nacht mußt alles nachmachen, wie's die andern machen!«
»Machst du's auch nach?« fragte Klas schüchtern.
Da zwinkerte der Kleine mit den entzündeten Aeuglein. »Na, freilich, freilich, Klas.«
»Es ist mir recht,« sagte der arme Junge.
»So geh hurtig mit, daß die Brüder dein' guten Willen sehen!« –
Und eilig zog der Kleine den Großen mit sich fort durch die Gassen bis vor die Herberge »Zum grünen Baum«.
Da standen viele Bauern dichtgedrängt. Klas und der Schneider warteten in der hintersten Reihe, und über ihnen stand am dunstigen Himmel der seltsame Regenbogen.
»Es ist ein gutes Zeichen,« sagte einer.
»Es ist ein schlechtes Zeichen,« meinte ein andrer.
»Es ist ein heiliges Zeichen, und also ist es ein gutes Zeichen,« entschied der Bucklige mit wichtiger Miene.
269 Langsam schoben sich die Bauern nach vorne, und bald standen die beiden, Klas und der Schneider, mitten im Haufen. Aus der Küche des Wirtshauses kam süßer Bratenduft; denn im »Grünen Baum« wohnten viele Hauptleute. Und aus den offenen Fenstern des ersten Stockwerkes klang eintöniges Gemurmel.
»Die machen alle mit heut nacht,« raunte der Kleine.
Die Haustüre stand offen, und immerfort stiegen auf der einen Seite der Freitreppe bewaffnete Bauern hinan und verschwanden im hinteren Hausflur, und immerfort kamen aus der Tiefe des Hausflures bewaffnete Bauern und gingen die andre Seite der Freitreppe hinunter.
Endlich waren die beiden ganz vorne, und der Bucklige schob den Riesen in das Haus.
Im großen Saale des oberen Stockwerkes stand ein Tisch. An dessen hinterer Seite saßen die Hauptleute in Harnisch und Sturmhaube, und neben ihnen etliche Schreiber.
Der Bucklige schob den Riesen an den Tisch. Da stand er nun mit dem Hut in der Faust, und die Tischkante reichte ihm nur wenig über die Mitte der Schenkel.
Einer von den Hauptleuten lachte: »Der wird's auch ohne Sturmleiter zuwege bringen heut nacht.«
270 Und alle die finsteren Männer am Tische lachten. Sehr laut aber lachte der Schneider.
Klas wurde rot und getraute sich nicht mehr aufzusehen.
»Er kann gut mit dem Schießen umgehen,« bemerkte nun der Bucklige. »Er trifft den Vogel im Flug.«
»Das ist recht,« sagte der erste Hauptmann. »Brenn dem Domprobst eins hinauf heut nacht, wenn er den Kopf 'rausstreckt!«
Da lachten sie wieder.
»Machst freiwillig mit?« fragte der Hauptmann.
»Freiwillig,« antwortete der Schneider für den Langen.
»Wie heißt denn?« fragte der Hauptmann.
»Der lange Klas halt,« antwortete der Schneider und lachte. »So kennt ihn jeder im fränkischen Heer.«
»Also – Klas Lang,« wiederholte der Hauptmann, und diesen Namen trugen die Schreiber in ihre Sturmlisten ein.
»Sollen wir dich auch einschreiben?« fragte der Hauptmann den Verwachsenen, und alle am Tische lachten sehr.
»Morgen früh,« grinste dieser und machte einen Kratzfuß. – –
»Das ist fein so viel wie geschworen,« erklärte 271 er dem Langen auf der Stiege. »Oder vielleicht nit?« fragte er einen Bauern.
»Hat er's Handgeld genommen?«
Klas zog ganz stolz einen Gulden aus der Hosentasche und zeigte ihn her.
»Nachher ist's so viel wie geschworen,« sagte der Bauer und tappte in den Saal.
»Gib mir das Geld, du könntest's verlieren,« befahl der Schneider. »Ich will dir's aufheben.«
Klas reichte ihm den Gulden hin. Es war ihm feierlich zumute. Er hatte nun zum zweitenmal geschworen, und morgen ging's heim – heim!
*
Die Nacht war gekommen, und am dunstigen Himmel blinkte kaum da und dort ein schwaches Sternlein.
Klas hockte auf der Bank neben der Stalltüre. Ueber seinen Knien lag das Feuerrohr, und auf dem Kopfe trug er eine alte Eisenhaube.
Er lächelte vor sich hin und dachte an das Mägdlein, das heute abend wieder so lange neben ihm gesessen war. Sie hatte geweint, und er hatte ihr doch immer von seiner Heimat erzählt. Den Schneider mochte sie nicht leiden; sie fürchtete ihn. ›O, bleib, Klas!‹
›Ich hab's ihnen geschworen.‹
›O, Klas, es ist mir so angst um dich.‹ –
272 Er saß nun allein und lächelte vor sich hin, hob auch zuweilen die Augen hinauf zur Feste des Bischofs, die schwarz und massig gen Himmel ragte. Und dann schüttelte er die Faust gegen den Koloß. –
Der Bucklige kam in den Hof und rief mit unterdrückter Stimme: »Klas – es ist jetzt Zeit!«
Da stand der Junge auf.
»Geh mit!«
Klas äußerte kein Wort und ging gehorsam mit seinem Herrn und Gebieter. Auf der Gasse draußen fragte er bedächtig: »Morgen geht's aber ganz gewiß heim?«
»Freilich, ganz gewiß,« antwortete der Schneider leichthin, rückte das uralte Kettenhemde zurecht, das an seinem Leibe klirrte, und schob den Eisenhut in den Nacken. »Und merk dir's, Klas« – er trat dem Jungen in den Weg, und Weindunst wehte aus seinem Munde – »merk dir's, was du geschworen hast: nur immerzu mit den andern, und wenn einer 'rausguckt im Schloß droben, dann brennst ihm eines hinauf; nur immerzu mit den andern, mag kommen, was will. Hast's verstanden?«
Er lallte bedenklich, der kleine Schneider.
»Nur immerzu mit den andern!« wiederholte Klas.
»Hast dein Schießzeug in Ordnung?«
273 »Ja.«
»Nur immerzu mit den andern!« mahnte der Schneider. »Und jetzt mach vorwärts, wir müssen noch Leitern holen in der Domkirch', lange Leitern zum Stürmen.«
Die Tore des Domes waren geschlossen. In Finsternis lag das gewaltige Schiff. Nur die ewigen Lampen glühten vor den Altären, glühten als brennrote Punkte, glühten, ohne zu leuchten.
Draußen auf der gepflasterten Straße rannten viele Menschen in schweren genagelten Schuhen. Aus fernen Gassen klang gedämpfter Schall von Trommeln und Hörnern.
Da öffnete sich neben dem Hochaltar ein Pförtlein. Murmelnde Stimmen, schleifende Tritte nahten. Windlichter flackerten auf. Schwarze Gestalten schoben sich herein. Halblaute Befehle ertönten. Lichtschein strich über den Hochaltar, sank in die dunkeln Ecken, strich über die Steinplatten der Grüfte, fuhr wieder hinauf bis zu den Hörnern des Altars.
Keuchend, murmelnd bewegten sich die Gestalten mit schweren Lasten zum Hochaltar. Körbe wurden zu Boden gesetzt.
»Vorwärts –!«
Etliche begaben sich hinter den Hochaltar, und ihre Schritte weckten den Widerhall der Gewölbe.
274 Wie ein riesiges Ungetüm hob sich der Altar von dem Lichtscheine ab, der nun hinter ihm zur Rechten und Linken flackernd ausstrahlte. Vorne aber, inmitten des Chores, unter dem ewigen Lichte entleerten andre die Körbe. Und es klirrte, wenn sie die silbernen Statuen der Heiligen auf die Steinplatten legten, wenn sie goldene Monstranzen an die Steinstufen des Altars lehnten.
Ganz gedämpft ertönte es hinter dem Hochaltar: »Ho – ho – hub!« Sie hoben Schweres und ließen es vorsichtig nieder. Dennoch dröhnte es durch das Schiff des Domes und hallte wider von seinen Gewölben.
»Fertig, Euer Gnaden,« rief einer mit halblauter Stimme hinter dem Altare vor.
»Auf!« befahl der Domherr und hob mit eignen Händen eine Statue vom Pflaster. Alle griffen zu.
Eilfertig tappten die Schuhe über die Steinplatten, und hinter dem Altare ging's hinab und wieder hinauf, hinab und hinauf, bis alle Schätze geborgen waren in der Tiefe der Gruft – alle bis auf eine große Statue, die am Altare lehnte.
Da entstand vor dem Hauptportale wildes Geschrei. »Macht auf! Es ist ja Licht drinnen! Macht auf!« Und harte Hammerschläge fielen dröhnend auf die eisenbeschlagenen Flügel.
Lautlos quollen schwarze Gestalten zur Rechten 275 und Linken des Hochaltars hervor, glitten durch das Schiff und versteckten sich in allen Winkeln. Die Lichter waren ausgelöscht. Nur vor dem Hochaltar flackerte ein Lämpchen, das man vergessen hatte. Und in seinem schwachen Scheine blinkte und gleißte der hohe silberne Heilige.
Wieder und wieder dröhnten die Hammerschläge an die Eisenbänder der Torflügel. Mit verhaltenem Atem lauschten die verscheuchten Menschen.
Gegenüber der Kanzel, hinter einer Säule, standen ihrer zwei, dicht aneinander gedrängt.
»Macht auf und gebt die Leitern her!« brüllte es vor dem Tore. Hammerschläge dröhnten.
»Sie wollen die Leitern zum Stürmen,« flüsterte einer von den zweien, »die Leitern, sonst nichts.«
Hammerschläge dröhnten.
»Ich hab' geglaubt, wir sind verraten,« sagte der andre.
»Wer hätt's verraten sollen?«
»Ist keinem zu trauen,« murmelte der andre. »Aber da schau!«
Er hatte den Arm seines Nachbarn gepackt und wies zur Kanzel empor. Dort stand regungslos eine dunkle Gestalt.
Hammerschläge dröhnten. Der Mann auf der Kanzel aber begann zu sprechen; dumpf klangen seine Worte durch das Schiff des Domes:
276 »Die Mütter müssen weinen, und die Kindlein müssen wehklagen; denn die Männer laufen mit verbundenen Augen, und die Knaben rennen sorglos zum Abgrund –«
»Der verrückte Prädikant!« flüsterte einer von den zweien hinter der Säule.
»Wie kommt der herein?«
Die Bauern hatten sich nun verlaufen. Es war stille geworden vor dem Dome. Aber dumpf klangen die Worte des Wahnsinnigen und weckten den Widerhall der Gewölbe.
»Hoch oben auf dem goldenen Stuhle sitzt einer, aus der Höhe sieht einer herab auf das Treiben der Menschen. Und er vermöchte zu helfen mit einem Hauch seines Odems, mit einem Worte könnte er die Armen und Elenden erretten. Doch ich höre eine Stimme wie fernes Donnern, und eine Stimme wie Klang der Posaune erhebt sich.«
»Fort, fort!« raunte der eine von den zweien hinter der Säule, und nun glitten die beiden quer durch das Schiff. Aus allen Ecken kamen die dunkeln Gestalten. Und wie gepeitscht vom Entsetzen flohen sie hinein in die enge Pforte neben dem Hochaltar. Mit mächtiger Stimme rief der Wahnsinnige über die leeren Betstühle:
»Eure Fackeln rauchen im Tale, aber meine Sonne halte ich zurück hinter den Bergen. Ihr 277 Toren, was habt ihr begonnen ferne von mir – ihr Narren, warum habt ihr mich nicht gefragt? Wann ich will, legt sich der Schnee auf die Hügel, und auf mein Gebot reifen die Trauben. Ich lenke die Jahre wie Rosse am Zügel und die Tage wie Füllen, wohin mir's gefällt. Hättet ihr doch gewartet auf die Morgenröte, hättet ihr gelauscht, bis ich sage: es werde Licht! – Eure Füße straucheln über den Stein, der im Wege liegt; aber meine Augen blicken von Stern zu Stern. Eure Fackeln rauchen im Tale. Meine Sonne steht noch hinter den Bergen.«
Das Lämplein vor dem silbernen Heiligen war erloschen. In Finsternis lag das gewaltige Schiff. Nur die ewigen Lampen glühten als brennrote Punkte, glühten ohne zu leuchten.
Auf der Kanzel kniete der Wahnsinnige und betete murmelnd.
*
Am Eingang einer engen Seitengasse wartete der Bucklige mit Klas.
Trommeln rasselten, Pfeifen quiekten die Straße herunter.
»Das sind die Unsern!« sagte der Schneider und schulterte seine Axt.
Viel hundert genagelte Schuhe klapperten einher, und das Pflaster dröhnte.
278 Ein dunkler Haufe wälzte sich lärmend heran. Matt leuchtete das Eisen der Rüstungen und Waffen im Sternenscheine. Fähnlein flatterten in der Nachtluft.
Der Schneider tastete nach der Hand des Jungen und zog ihn aus der Gasse, dem Haufen zu. Sie tauchten ein und wurden mitgerissen in der Menschenflut.
Klas dachte gar nichts mehr. Zwischen den Häusern ging's dahin. Schwarze, lichtlose Fenster glotzten zur Rechten und Linken. Ein hoher Turm stand im Wege. Ein finsteres Tor gähnte. Langsam quoll der lärmende Haufe hinein. Furchtbar klang das Trommelgerassel und Pfeifengequieke unter dem hallenden Torbogen, das trübe Licht einer schwankenden Oellaterne fiel auf die wimmelnden Eisenhauben und Hellebardenspitzen, Schulter an Schulter drängten sich die Bauern durch die Pforte. Dann ging's im Schutze der Steinbrücke auf verankerten Flößen über den Strom, ging im Laufschritt weiter zwischen Gartenzäunen dahin.
Die Trommeln und Pfeifen schwiegen, und keuchend rannten die Menschen. Befehle ertönten. Alle standen.
Angstvoll sah sich der Junge nach seinem Begleiter um: der Bucklige war nirgends zu sehen. Ratlos stand der lange Klas zwischen den Fremden im Haufen.
279 »Gebt acht!« erscholl es, und eine Leiter ward nach vorn geschoben.
Von der Seite herüber tönte ein Hornruf. Wiederum rasselten die Trommeln, wiederum quiekten die Pfeifen, brausend erhob sich das Geschrei, und im Laufschritt stürmten die Massen bergan.
Die andern schrien, mit ihnen schrie Klas. Die andern rannten, Klas rannte mit ihnen. ›Nur immerzu mit den andern!‹ Er hatte sich's wohl gemerkt, was er geschworen. ›Nur immerzu mit den andern!‹
Da stockten sie in ihrem Laufe. Palissaden versperrten die Bahn. Alles drängte zur Rechten und Linken, den Zaun entlang.
»Drauf! Drauf!«
Und wer eine Axt hatte, der schwang sie gegen das Holz.
»Drauf!« schrie auch Klas mit den andern.
Krachend fielen die Hiebe auf den starken Zaun, die Trommeln rumorten darein, die Pfeifen quiekten. Da begann es in der Luft zu sausen und zu pfeifen, und hinterher kam Donnern und Knattern von der Höhe des Berges. Wildes Geschrei antwortete von unten herauf. Mit verdoppelter Wucht prasselten die Aexte auf die Palissaden, krachend stürzten die Balken, mit Gebrüll ging's vorwärts über die Trümmer, die Schanze hinan, die steile, glatte Schanze hinan.
Klas lief mit den andern. In der Linken hielt 280 er sein Feuerrohr, mit der Rechten zerrte er an einer Sturmleiter. Nun glitt er aus und brach ins Knie. Andre griffen nach der Leiter. Keuchend raffte er sich empor und kam kletternd auf die Höhe.
In bedrohlicher Nähe ragten die Mauern der Feste jenseits des tiefen Grabens, hohe, finstere Mauern. Da fuhren Feuerströme aus den Luken, der Donner krachte, stinkender Pulverrauch quoll über den Graben. Getroffene schrien auf und rollten rückwärts die Schanze hinunter.
»Pack an!« schrie einer und stieß den Klas in die Seite. Und Klas griff sinnlos nach der Leiter und half sie emporzerren.
»Freiwillige!« befahl einer. Die Leitern sanken in den tiefen Graben, stießen auf den Boden und ragten noch weit empor über den Rand.
Viele stürmten mit Geschrei herzu, packten die Leitern und tauchten hinab in die Tiefe. Da griff auch Klas in die Sprossen der nächsten Leiter und tauchte hinab. Denn er wußte gar wohl, was er geschworen: ›Nur immerzu mit den andern, nur immerzu!‹
Es wimmelte von Bauern im Graben, und immer noch schwankten die Leitern unter den schwarzen Gestalten, die schweigend herniederkletterten.
Totenstill lag die Feste. Kein Lichtstrahl kam aus den Luken.
»Vorwärts!« hieß es. Die Leitern wurden 281 gehoben und schwankten schräg aufrecht gegen die Mauer. Keuchend schleppte Klas mit den andern. Zitternd lehnte seine Leiter an der schwarzen Wand.
Befehle tönten. Er sah, wie die andern emporklommen. Schon standen fünf Männer hoch über ihm. Nun griff auch er mit der Linken in die Sprossen und wollte den andern nach; krampfhaft hielt die Rechte das Feuerrohr.
Da ward ihm auf einmal, als stünde die Mauer in Flammen. Die Leiter mit all den Bauern bewegte sich rückwärts auf ihn, er bekam einen harten Stoß, er schlug hintenüber, und seine Sinne schwanden.
*
Als er aufwachte, fror ihn sehr, und er kannte sich gar nimmer aus. Ein scharfer Geruch benahm ihm fast den Atem; er mußte heftig husten. Erst allmählich kam ihm alles wieder ins Gedächtnis. Rechts von ihm brannte ein Feuer. Da wandte er das Haupt und sah einen qualmenden Topf. Aus dem stieg der Schwefelgeruch. Mit ächzenden, stöhnenden Menschen war der ganze Graben erfüllt.
Eine Gestalt schwankte aus der Finsternis heran, stolperte und stürzte keuchend über den brennenden Topf, raffte sich auf und rannte schreiend mit brennenden Kleidern zurück in die Finsternis.
›Nur immerzu mit den andern!‹ murmelte Klas und versuchte aufzustehen. Noch immer hielt seine 282 Rechte das Feuerrohr umklammert. Er konnte sich nicht erheben. Wie tot war sein rechtes Bein, und ein fürchterlicher Schmerz preßte ihm das Wasser aus den Augen. Mit klappernden Zähnen lag er da. Endlich getraute er sich's und tastete nach seinem Schenkel. Der fühlte sich naß an und klebrig. Blut war's. Da graute dem Knaben.
Regungslos blieb er liegen und sah lange zu den Sternen empor; dann fielen seine Augen zu.
Da fuhr gerade über seinem Haupte hoch oben an der schwarzen Mauer ein Licht auf, und aus schmaler Luke schob sich eine Eisenhaube.
Klas blickte empor.
Mit Lachen rief einer: »Wie die Roßkäfer liegen sie da drunten und zappeln mit den Beinen!«
Dem Klas fuhr's durch den Kopf: ›Da schaut einer 'raus – geschworen hast!‹
Er nahm seine letzten Kräfte zusammen, biß die Zähne aufeinander und legte an.
Der Schuß krachte. Ein dumpfer Schrei kam aus der Luke. Das Licht erlosch, und ein schwerer Leib schlug klirrend auf hohlen Boden.
Mit dem rauchenden Rohr in der Faust lag Klas und blickte zum Sternenhimmel. Der Schwefeltopf war ausgebrannt, die Luft war rein. Leicht atmete der Junge. Auch seine Schmerzen waren geschwunden. Aber es fror ihn. –
283 Auf allen Türmen der Stadt schlugen die Uhren, jede zuerst viermal, dann zweimal.
Klas leckte seine trockenen Lippen.
Ein Windstoß fuhr über die Schloßdächer, und kreischend drehte sich eine Wetterfahne hoch über dem Gefallenen. Ringsum ächzten die Verwundeten.
Regungslos lag der Junge, und es war ihm, als läge er daheim in seinem Bette.
Jawohl, er lag nun daheim in seinem Bette. Und da kam auch von der Mauer langsam seine Mutter gegangen. Sie hielt den Kopf ein wenig gesenkt nach ihrer Art, sie trug ein Lämplein und schützte das Flämmchen sorgsam mit der hohlen Hand. Das rote Blut schimmerte durch die Haut ihrer Finger.
Da ward dem Knaben wohlig zumute, und lächelnd sah er der Mutter entgegen.
Nun stand sie hart vor ihm, nun beugte sie sich herab auf ihr Kind und machte das Zeichen des Kreuzes über seine Augen, wie alle Abende.
Der Junge ließ das Feuerrohr fahren, hob mühsam die Hände, faltete sie über der Brust und bewegte murmelnd die trockenen Lippen. Dann schlief er ein mit starren, offenen Augen und kam schlafend nach Hause am frühen, kühlen Morgen des sechzehnten Mai – genau wie ihm der bucklige Schneider geweissagt hatte.
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284 Kinder und Kindeskinder lauschten mit gefalteten Händen und stockendem Atem, wenn ein zahnloser Mund beim qualmenden Kienspan raunend erzählte von diesen Geschichten. Aber das Gedächtnis der Sterblichen gleicht einer zerbrochenen Tafel mit grauer, vergänglicher Schrift.
Eine Saat war ausgestreut worden unter der trügerischen Maiensonne des Jahres 1525. Dann legte sich der Frost über die aufgerissenen Fluren. Aber die Saat ist trotzdem nicht verloren gewesen. Und umsonst hat keiner sein Blut vergossen in jenem Vorfrühling des deutschen Volkes, nicht die wenigen, die das Ziel kannten, und nicht die zahllosen Mitläufer.