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43.

E r fand die kalte und von abgestandenem Tabaksrauch noch immer reichlich getränkte Luft der Wachtstube, nachdem er einige Zeit vor dem Ofen gesessen und in die langsam glimmenden Scheite gestarrt hatte, unerträglich. So zündete er sich eine Cigarre an, knöpfte sich den Paletot wieder zu, und bestieg den hohen Wall, der sich unmittelbar hinter dem Wachthause erstreckte und in eine Bastion auslief, deren Höhe die des Walles noch bedeutend überragte. Hier schritt er lange auf und ab. Mit langem klagendem Stöhnen strich der Nachtwind über die Ebene heran, raschelte in dem dürren Laub der Bäume auf dem Glacis und pfiff um die Spitzen der Pallisaden. An dem nächtlichen Himmel jagten die schwarzen Wolken unter den hier und da durchblickenden Sternen, deren wechselndes Licht die Nacht nur noch dunkler und unheimlicher zu machen schien. Links zu seinen Füßen schlief die Stadt lautlos, als würde sie nie wieder erwachen. Wie vermummte Riesen standen die schwarzen Thürme ihrer Kirchen und alle überragend der Koloß ihres Domes wie der Fürst in diesem Reiche der Finsterniß. Vergeblich bemühte sich Wolfgang die Form eines Gegenstandes deutlich zu erkennen; je länger er hinblickte, desto phantastischere Gestalt nahm Alles an; die Kanone auf dem Wall sah wie ein Ungeheuer aus, das, zum Sprunge bereit, auf Beute lauert …

Diese traurig-ernste, schwarze, wehende Nacht stimmte durchaus zu Wolfgang's Seelenstimmung. Wie waren doch seine schlimmsten Befürchtungen so schnell und so vollkommen in Erfüllung gegangen! In welches Elend hatte er sich gegen seine Ueberzeugung, gegen sein besseres Wissen und Gewissen gestürzt! Und wem war dies Opfer zu gute gekommen? Nicht dem Vater, der nach wie vor über seine gedrückte Lage klagte; nicht der Mutter, die sich immer scheuer und ängstlicher vor dem Leben zurückgezogen hatte und deren Körperleiden mit ihrem Seelenleiden in schrecklicher Steigerung gewachsen waren? Und doch hatte er nur für das Wohl der Eltern das schwere Kreuz auf sich genommen, unter dessen Last seine Seele sich schier erdrückt fühlte. Wie sollte dies enden? So konnte es nicht bleiben, sollte er nicht an Leib und Seele zu Grunde gehen, und doch, wie ändern, was unabänderlich wie ein böses Schicksal schien?

»Das Schicksal macht aus uns, was wir selber aus uns machen.« … Wolfgang konnte diese Worte des Onkel Peter nicht vergessen. Er hörte sie in dem klagenden Heulen, wie in dem spöttischen Pfeifen des Windes. Die stumme grause Nacht schien Sprache zu gewinnen und nichts weiter zu klagen und zu sagen, als das eine grause Wort: »Das Schicksal macht aus uns, was wir selber aus uns machen.«

Was hatte es aus Onkel Peter gemacht? einen armen Mann, der in seinem funfzigsten Jahre den Hoffnungen seiner Jugend, an deren Verwirklichung er ein Menschenalter voll nimmermüder Thätigkeit gesetzt hatte, entsagen und zu dem Anfang der Bahn, von der er ausgegangen war, zurückkehren mußte. Und doch, wie reich war Onkel Peter! wie reich in dem Bewußtsein, während dieser langen Zeit nie auch nur eines Haares Breite von dem geraden Wege der mannhaften Ueberzeugungstreue abgewichen zu sein! in dem Bewußtsein, immerdar das Rechte gewollt zu haben, immerdar mit sich selbst im Einklang gewesen zu sein! Wie unsäglich reich war Onkel Peter! wie wohl stand es ihm an, den trotzigen Kopf mit den trotzigen krausen grauen Haaren in den Nacken zu werfen und in seiner kurzen knappen Weise, bei der jede Sylbe wie ein Hammerschlag klang, die Worte zu sprechen: »Das Schicksal macht aus uns, was wir selber aus uns machen.«

Was hatte es aus ihm selbst gemacht? Das Gegentheil von dem, was er zu sein wünschte – jetzt lebhafter wünschte, als je zuvor. Die letzten Monate, die er in der Residenz, im Mittelpunkte des politischen Treibens, im Verkehr mit Münzer und dessen Freunden, ein aufmerksamer Beobachter von Allem, was vorging, verbrachte, hatten aus dem Jüngling einen Mann gezeitigt. In immer größerer Klarheit hatten sich ihm die Ziele des ungeheuren Kampfes, der nicht blos im engeren Vaterlande, sondern in ganz Deutschland, ja in ganz Europa entbrannt war, enthüllt; immer deutlicher, faßlicher, verständlicher waren ihm aus diesem ungeheuren Bilde die einzelnen Gruppen der Kämpfer hervorgetreten; immer wärmer war aber auch mit dem helleren Verständniß seine Sympathie für die heilige Sache der Freiheit geworden, und für die wackeren Kämpen, die unter ihrem glorreichen Banner stritten; immer entschiedener aber auch sein Haß gegen die brutale Willkür und ihre gefügigen Werkzeuge. Und während seine andächtigen Blicke auf die leuchtende Spur des Weges schauten, der vorwärts in das sonnige Land der Freiheit führt, trugen ihn seine widerstrebenden Füße rückwärts, immer rückwärts die dunkle Bahn, auf der es von den Cohorten des Reiches der Gewalt wimmelt. Der grelle Widerspruch seiner Ueberzeugungen und der Pflichten des Berufes, dem er sich nothgedrungen gewidmet hatte, drängte sich ihm mit jedem Tage schmerzlicher auf. Zwischen dem Geist der Zeit und dem Geist, der in dem Stande gepflegt wurde, zu dem er jetzt gehörte, gab es keine Versöhnung; – sie mußten sich bekämpfen wie Ormuz und Ariman, die Götter des Lichtes und der Finsterniß sich bekämpfen müssen, ob auch der Kampf Jahrtausende währe und Keiner der Kämpfer, die jetzt auf dem Plan sind, den Tag des Sieges und der Niederlage schaue. Nein! keine Versöhnung, kein Friede! und über die wohlwollenden Vermittler, die gutherzigen Friedensstifter, rollt die entfesselte Schlacht und tritt sie nieder in den Staub! – Das konnte Wolfgang aus dem Schicksal des trefflichen Mannes lernen, der ihm bei seinem ersten Eintritt in das Waffenhandwerk mit Gruß und Handschlag und freundlich beruhigenden Worten entgegengetreten war, – an dem Schicksal des Majors von Degenfeld. Man hatte im Nu herausgefunden, daß er und nur er der Verfasser jener Broschüre sein konnte, die mit so patriotischem Freimuth die Schäden gerade des heimischen Heeres aufdeckte. Er hatte sich auf die erste Anfrage als den Verfasser bekannt und sich erboten, den Beweis der Wahrheit für jedes Wort in jeder seiner Behauptungen anzutreten. Aber mit diesem Anerbieten war denen, die seine Kläger und zugleich seine Richter waren, wenig gedient. Was Wahrheit! was Beweis! Subordination, unbedingte Subordination, blindes Schwören auf die Paragraphen des Dienstreglements und auf die Unfehlbarkeit des Kriegsherrn! Das sind die Erfordernisse eines guten Officiers! und wer das nicht kann und das nicht thut, ist ein schlechter Officier, der dem Corps Schande macht; und die Ehre des Corps und der ganzen Armee erfordert, daß man einen solchen Officier vor das Kriegsgericht stellt, und das Kriegsgericht cassirt einen solchen Officier. – Dies Schicksal hatte den Herrn von Degenfeld wenige Tage nach Wolfgang's Rückkehr aus der Residenz betroffen; es war ein Vorspiel des Belagerungszustandes, der eine Woche darauf über Rheinstadt verhängt wurde.

Wolfgang war über diese Vorgänge außer sich gewesen, und nur der Gedanke an seinen Vater, der in den verflossenen Monaten um eben so viele Jahre gealtert schien, und an die Mutter, deren schwankender Gesundheitszustand das Schlimmste befürchten ließ, hatte ihn vermocht, den Degen, welchen er nicht durch die Hand des Fürsten vom Staat, sondern durch die Hand des Fürsten vom Fürsten bekommen haben sollte, in die fürstliche Hand zurückzugeben. Herr von Degenfeld selbst hatte ihm zugeredet, zu bleiben; und wäre es auch nur auf kurze Zeit. »Thun Sie es mir zu Liebe,« hatte er gesagt; »ich habe das lebhafte Bedürfniß, diese meine Sache allein auszufechten. Ihr Austritt in diesem Augenblick würde mir in den Augen mancher Leute schaden, deren gute Meinung ich vorläufig noch nicht wohl entbehren kann.« Wolfgang mußte nachgeben, obgleich er sich nicht überzeugt fühlte. Offenbar konnte oder wollte Herr von Degenfeld nicht mit der Sprache herausgehen.

So thürmten sich die Wolken von allen Seiten drohend um Wolfgang's Horizont, und ach! der Stern, der eine goldne Stern, zu welchem er im Parke von Rheinfelden mit so gläubiger Seele aufgeschaut – der Stern, von dem er gehofft hatte, er werde ihm ein ewiges Licht der Kraft und des Muthes sein in allen Gefahren dieser Welt – der Stern war im Erlöschen, oder vielmehr leuchtete nur noch in der Erinnerung. Zwar hatte man sich offenbar Mühe gegeben, den fatalen Eindruck der letzten Scene vor Wolfgang's Abgang von Rheinstadt wieder gut zu machen. Man hatte auf das zarteste Rosapapier einen Brief über den andern geschrieben, sich wegen des »lächerlichen Mißverständnisses« zu entschuldigen, und den »Verlobten« der »überschwänglichsten Liebe« zu versichern. – Wolfgang hatte im Anfang mit der Gläubigkeit des Liebenden diese Versicherungen entgegengenommen; er hatte die schöne Schreiberin gebeten, das Geschehene vergessen sein zu lassen, und war dann auf die Themata übergegangen, die seine Seele so ganz in Anspruch nahmen, und über die sich auszusprechen, gegen Diejenige auszusprechen, die sich ihm zur Gefährtin seines Lebens verlobt hatte, seinem Herzen Bedürfniß war. Aber man hatte sich auf diese Themata nicht eingelassen; man hatte so lange fortgefahren, nichtssagende und überdies schlecht stylisirte Billetchen auf das zarteste Rosapapier zu kritzeln, bis Wolfgang's Gläubigkeit vor dieser vollkommenen Ideenlosigkeit stutzig wurde und zuletzt in eine Verzweiflung an dem Idol umschlug, vor welchem seine junge, liebebedürftige Seele so innig angebetet hatte.

Vielleicht trug mehr, als Wolfgang selbst es wußte, zu dieser Wandelung ein Brief bei, den er aus dem Hause in der Ufergasse erhielt, nachdem er schon einige Wochen in der Residenz gewesen war, und den er im Laufe des Sommers so oft las, daß er ihn schließlich auswendig wußte. Auch jetzt, während er in der dunklen Nacht auf dem Walle der Bastion stand und sich von den naßkalten Schwingen des winterlichen Westwindes die heiße Stirne kühlen ließ, mußte er immer wieder dieses Briefes denken …

 

»Lieber Wolfgang!

Die Tante trägt mir auf, Dir zu schreiben, daß sie Dich noch immer sehr liebt, und daß Du ihr um dieser ihrer Liebe willen die Unfreundlichkeit verzeihen möchtest, deren sie sich an jenem unglücklichen Abend vor Deiner Abreise gegen Dich schuldig gemacht hat. Ich glaube, daß es Dir nicht schwer werden wird, diese Bitte zu erfüllen, denn Du weißt so gut wie ich, daß die Tante das bravste Herz auf der Welt ist, und daß sie es niemals bös meint, auch wenn sie sich noch so weit von ihrer Leidenschaftlichkeit hinreißen läßt. Du solltest nur hören, wie sie Deine Partei gegen den Onkel nimmt, der – ich muß es leider bekennen – noch immer nicht so gut, wie ich es wohl wünschte, auf Dich zu sprechen ist. Freilich liebt Dich auch der Onkel – ich weiß es aus tausend Kleinigkeiten und höre das selbst aus seinem Schelten heraus; aber Ihr Männer seid hart, wenn es sich um Eure Ueberzeugungen handelt, und Ihr müßt es auch wohl sein in diesem rauhen Leben, das Euch so viel zu schaffen macht und Eure ganze Kraft in Anspruch nimmt. Und doch meine ich immer – und ich habe es dem Onkel schon oft gesagt – zwei gute und verständige Menschen müssen zuletzt, und wenn sie auch auf noch so verschiedenen Wegen gingen, an dem Ziele zusammentreffen, denn das Ziel ist doch dasselbe. So hoffe ich denn zuversichtlich, daß auch Du und der Onkel nicht so sehr in Euren Ansichten auseinander seid, als es jetzt den Anschein hat. Ihr müßt nur nicht gleich ungeduldig und heftig werden, dann verständigt man sich schon. Ich sehe das alle Tage an der Tante und dem Onkel, die über keine einzige Sache dieselbe Ansicht zu haben scheinen, und im Grunde immer dasselbe wollen. – Bei Deiner Mutter bin ich jetzt schon ein paar Mal gewesen. Sie ist so lieb und gut und wir sprechen auch manchmal von Dir.« …

 

Wolfgang fiel es ein, daß man von einem andern Punkte des Walles auf das Quartier der Stadt, in welcher die Ufergasse lag, müsse hinabblicken können. Er ging dorthin. Der Himmel hatte sich etwas aufgeklärt und bei dem Licht der Sterne konnte man in ungefähren Umrissen die langen Häuserzeilen erkennen, in denen hier und da eine Laterne brannte, oder durch ein Fenster der trübe Schein einer nächtlichen Lampe dämmerte. Und wie er so dastand und hinabschaute, ergriff es ihn wie Heimweh nach dem alten Hause in der Ufergasse, in dessen verfallenen Räumen er die glücklichsten Stunden seiner Knabenjahre verträumt und verspielt hatte, und das ihm immer als das eigentliche Asyl aus dem Sturm des Lebens erschienen war, – eine Sehnsucht nach den guten Menschen, die dort wohnten und sich so muthig gegen das Unglück vertheidigen und im Glück so freundlich sein konnten, – nach dem grauköpfigen, allzeit geschäftigen Onkel – nach der guten, heftigen, mitleidigen Tante Bella, und nach dem schlanken Mädchen mit den tiefblauen, ernsten, liebevollen Augen, das ihm wie eine große, schöne, lang entbehrte Schwester, so vertraut und doch auch wieder so fremd, entgegengetreten war und das er gewiß so herzlich lieb hatte, wie nur ein Bruder seine Schwester lieb haben kann. Es kam ihm wie ein Wahnsinn vor, daß er während der Wochen, die er wieder in seiner Vaterstadt war, das Haus in der Ufergasse scheu gemieden hatte, als wäre er ein Verbannter, ein Ausgestoßener, der die Schwelle des Tempels seiner Heimathgötter nicht zu überschreiten wagen darf. Wäre er doch gegangen, wie es die Mutter wünschte, wie sein eigen Herz es ihm gebot! man hätte ihn sicher freundlicher empfangen, als in jenem andern Hause an dem Gouvernements-Platz, wo ihn die Oede aus jedem Gesicht und aus jedem Prunkmöbel anstarrte! wäre er doch gegangen! er hätte dort sicher Trost und Labung gefunden in dem Fieber des Zweifels und der Reue, das ihn verzehrte; – er hätte heute Nacht dem Onkel ganz anders unter die Augen treten können; er hätte mit ruhigerem Gewissen die Worte hören können: »Das Schicksal macht aus uns, was wir selber aus uns machen.«

So trieben und stürmten die Gedanken durch Wolfgang's Seele, wie die Wolken hoch über ihm an dem nächtlichen Himmel trieben und stürmten. Das langgezogene »Raus!« des Postens vor dem Gewehre riß ihn aus seinem Sinnen und erinnerte ihn wieder an seine leichten Pflichten, die so centnerschwer auf ihm lasteten.

»Ablösung vor!« – »Wann wird für mich die Stunde schlagen, die mich mir selbst zurück giebt; die Stunde der Befreiung aus diesem elenden Joch?«

»Nicht eher, als bis ich selbst sie rufe. Das Schicksal macht aus uns, was wir selber aus uns machen!«



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