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W olfgang hatte die ersten Stunden seiner Gefangenschaft in einer durch die Umstände erklärlichen Aufregung zugebracht. Ohne sich einer bestimmten Schuld bewußt zu sein, konnte er sich doch auch im Sinne derer, welche Gewalt über ihn hatten, nicht für einen Unschuldigen halten. Seine Freundschaft zu Münzer und Degenfeld, die häufigen Zusammenkünfte, welche er mit ihnen und anderen Führern der demokratischen Partei gehabt hatte, seine Intimität mit dem Onkel Peter, sein neulicher Ritt nach Antonien's Gut (wenn dieser Umstand, was anzunehmen war, in der Untersuchung zur Sprache kam), seine Briefwechsel, seine schriftlichen Versuche über staatsrechtliche Themata, die man jedenfalls mit Beschlag belegen würde, das Alles war ja genug und übergenug, um ein strenges kriegsrechtliches Erkenntniß auf ihn herabzuziehen.
Doch diese Aussicht auf ein Schicksal, das Anderen als sehr schrecklich erschienen sein würde, bekümmerte den jungen Mann keineswegs. Was ihn peinigte, war der Gedanke, daß man ihm, nicht mit Unrecht, den Vorwurf des zweideutigen Verhaltens würde machen können. Es wäre seine Pflicht gewesen, sich nie auf ein Verhältniß einzulassen, in welches er seiner ganzen Denkweise nach nicht gehörte, oder zum wenigsten aus demselben zu scheiden, sobald sich die Unmöglichkeit; mit Ehren in demselben zu verharren, für ihn klar herausgestellt hatte. Was sollte er auf diesen Vorwurf erwidern?
Die brennende Röthe der Scham stieg dem jungen Manne in's Gesicht, wie er in seinen Gedankengängen an diesen schlimmen Punkt gekommen war. Er sprang von seinem Sitze auf und ging mit heftigen Schritten in dem kleinen Gemache hin und her.
»Was kann ich erwidern? womit kann ich ihnen antworten? Mit einem vollständigen Glaubensbekenntniß – das ist eine Pflicht, die ich gegen mich selber habe. Ich will ihnen Alles sagen, was ich über diese Zustände denke; ich will aussprechen, was noch kaum Einer auszusprechen gewagt hat; will ihnen ihre kleinliche Tyrannei, ihre engherzige Pedanterie, ihr verrottetes Junkerthum mit Flammenworten vorwerfen – mögen sie dann mit mir machen, was sie wollen.«
Wolfgang dachte sich immer mehr in seine Lage hinein. Er sah sich vor seinen Richtern stehen; er arbeitete die Rede, die er ihnen halten wollte, in Gedanken aus. Aber dann fiel ihm ein, daß eine gute Rede im besten Falle eine schwächliche That sei im Vergleich mit der wirklichen That, wie sie dem Manne zukommt. Und was konnte eine solche Rede nützen? was hatte Degenfeld's begeisterte, scharfsinnige Schrift genutzt? nichts, absolut nichts! höchstens hatte sie die Engherzigen, Kurzsichtigen in ihren schimpflichen Vorurteilen bestärkt.
Was hätte er in diesem Augenblicke für die Möglichkeit gegeben, der großen Sache seinen Arm und sein Leben weihen zu können! während er hier in dieser engen Zelle sich mit nutzlosen Grübeleien und leeren Hirngespinsten quälte, verspritzten Andre in offenem, ehrlichem Kampfe ihr Blut für die Freiheit … »O, Münzer, Degenfeld: Ihr habt einen schlechten Rath ertheilt! Ihr habt den Löwenantheil für Euch behalten und mir einen Knochen hingeworfen, daran zu nagen! Wäre ich doch der Stimme meines Herzens gefolgt! ich säße jetzt nicht hier gefangen, wie ein Vogel im Käfig, der sich vergeblich an dem Gitter die Flügel zerschlägt.«
Das Geräusch des Schlüssels, der leise im Schlosse umgedreht wurde, erregte Wolfgang's Aufmerksamkeit. Die Thür wurde vorsichtig geöffnet und der Unterofficier Rüchel schlüpfte in das Gemach.
Wolfgang hatte die tröstlichen Worte, die ihm aus dem dunklen Gange zugeflüstert wurden, für den wohlgemeinten Zuspruch eines ihm wohlgesinnten Unterofficiers gehalten; es war ihm nicht eingefallen, darauf irgend eine Hoffnung der Befreiung zu bauen. Der unerwartete Anblick des zierlichen, schwarzäugigen Mannes, dessen Ergebenheit er bei wiederholten Gelegenheiten erprobt hatte, erfüllte ihn mit einem freudigen Schrecken.
»Sie sind es, Rüchel!« rief er, mit Lebhaftigkeit die Hand des Eingetretenen ergreifend. »Wie kommen Sie hierher, da das andere Regiment heute die Wache hat?«
»Combinirte Wache, Herr Lieutenant,« erwiderte Rüchel; »habe mich speciell beim Feldwebel gemeldet; aber sprechen Sie leise, Herr Lieutenant; die Wände haben Ohren. Liegt Ihnen daran, frei zu werden, Herr Lieutenant?«
»Können Sie das fragen,« erwiderte Wolfgang in demselben leisen Ton.
»Ich meine, ob Sie Lust haben, selbst etwas zu Ihrer Befreiung zu thun?«
»Alles, was in eines Menschen Kraft steht.«
»Dann halten Sie sich gegen zehn Uhr bereit; der demokratische Club bereitet einen großen Schlag; ich kann nichts weiter sagen; man darf nicht wissen, daß ich hier bin. Ich werde Ihnen das Abendbrod in Gegenwart des Fähndrich's bringen müssen; bitten Sie dann, um ihn sicher zu machen, daß man Ihnen die nöthigen Sachen aus Ihrer Wohnung bringt; um zehn Uhr komme ich wieder. Halten Sie sich bereit.«
Der Unterofficier Rüchel lauschte an der Thür, ob auch Niemand auf dem Gange sei; dann schlüpfte er schnell und leise, wie er gekommen war, wieder hinaus.
Es waren peinliche Stunden, die Wolfgang jetzt verlebte. Die gewaltige Sensation, die seine Flucht erlegen würde, wenn sie gelang; die Gefahr, der er sich aussetzte, im Falle sie nicht zu Stande kam; der Eindruck, den sein Schicksal auf die ihm nahe stehenden Personen, auf seinen Vater, auf Münzer und Degenfeld, auf Onkel Peter, Tante Bella, Ottilie machen würde – das Alles ging ihm wieder und wieder durch den Kopf, ohne daß sein Entschluß, das Aeußerste zu seiner Befreiung zu versuchen, erschüttert worden wäre. Die zweideutige Lage, in der er sich so lange befunden hatte, war ihm so unerträglich geworden, daß im Vergleich mit dieser der Tod selbst eine Wohlthat schien.
Am längsten weilten seine Gedanken in dem lieben Hause in der Ufergasse. Von Ottilie ohne Abschied sich trennen zu müssen, erschien ihm beinahe als eine Unmöglichkeit. Wenn er noch nicht gewußt hätte, daß er Ottilien liebte, so hätte er es jetzt erfahren können. Immer wieder drängte sich ihre theure Gestalt in alle die bunten und verworrenen Bilder der Möglichkeiten seiner verhängnißvollen Lage, die seine aufgeregte Phantasie ihm zeigte. Er sah sie bei der Nachricht seiner Gefangenschaft erbleichen, bei der Kunde von dem Gelingen seiner Flucht in freudigem Schrecken erglühen; und dann wieder kam er als Sieger und Verkünder der Freiheit zurück und schloß sie in seine Arme und küßte sie und nannte sie seine liebe Braut. Die Freiheit und Ottilie – das war ein und dasselbe Werben! Die beiden Sterne sollten fortan seiner Bahn vorleuchten!
Das Erscheinen seines Vetters, des Portépée-Fähndrichs Odo und des Unterofficiers Rüchel, von denen der Erstere fragte, ob er besondere Wünsche habe, und der Letztere ihm das frugale Abendbrod auf den Tisch stellte, erinnerten Wolfgang daran, daß er vorläufig jene glänzende Bahn noch nicht betreten habe. Er ersuchte seinen Vetter – dessen albernes Gesicht bei dieser Gelegenheit noch um Vieles alberner war – einen offenen Zettel, den er schon geschrieben hatte, an seinen Vater gelangen und ihm außerdem durch seinen Burschen Wäsche und einiges Andre, was er auf einem zweiten Zettel notirt hatte, zukommen lassen zu wollen. Vetter Odo erklärte, daß der Erfüllung dieser Bitten nichts im Wege stehe und entfernte sich darauf mit seinem Begleiter, der während dieser Scene ein barsches, fast grobes Benehmen gegen den Gefangenen beobachtet hatte.
Wolfgang mußte über die dummstolze Herablassung, welcher sich Odo befleißigt hatte, lachen. Offenbar handelte der junge Mensch im Einverständniß mit seiner Familie, vielleicht im speciellen Auftrage seines Vaters. In dem Augenblick, daß man in ihm nicht mehr den Günstling des Generals sah, kam das wahre Gesicht zum Vorschein. Wolfgang war erstaunt, daß er sich durch die heuchlerische Freundschaft seiner Verwandten jemals hatte täuschen lassen. Als ob zwischen freiem Menschenthum und exclusivem Familien- und Kastenstolz jemals eine Vereinigung bestehen könnte! »Wohl Dir, daß Du, wenn auch spät, so hoffentlich doch nicht zu spät von diesem Wahne zurückgekommen bist! In einer Zeit, wo die Gegensätze sich so schroff gegenüberstehen, ist das schwächliche Vermittelnwollen ganz unnütz und durchaus vom Uebel. Hier heißt es: siegen, oder unterliegen. Sie treten uns unter ihre Füße, wo sie die Macht haben; darum dürfen wir nicht ruhen, bis sie am Boden liegen.«
Wolfgang versuchte etwas von der ihm vorgesetzten Mahlzeit zu essen; aber die Kost des Gefangenen wollte ihm nicht schmecken. Er warf sich, des Umhergehens müde, auf das harte Lager und er hatte nicht lange gelegen, als die Abspannung nach so großer Aufregung ihn trotz seines Bestrebens, wach zu bleiben, einschlafen machte.
Er wurde durch eine Hand, die sich auf seine Schulter legte, geweckt. Er fuhr empor; es war vollkommen dunkel; die Stimme des Unterofficiers Rüchel sagte leise: »Es ist Zeit; wir müssen fort; sind Sie bereit?«
»Ja!«
»Geben Sie mir Ihre Hand und treten Sie leise auf!«
Sie traten aus dem Zimmer auf den schmalen dunklen Gang. Am Ende desselben schloß Rüchel eine Thür auf, durch die sie auf einen kleinen Hof gelangten, aus dem eine zweite Thür, die ebenfalls verschlossen war und von Rüchel geöffnet wurde, in einen langen verdeckten Gang führte, aus dem sie nach einigen Zickzackwendungen durch die Werke schließlich auf dem Wall der Bastion ankamen.
»Nun schnell den Wall hinauf und auf der andern Seite wieder herunter bis an die Hecke,« flüsterte Rüchel.
Sie krochen den ziemlich steilen Wall in die Höhe und rutschten auf der andern Seite hinunter bis sie zu der sehr dichten Hecke gelangten, die sich am Fuße des Walles den breiten und tiefen Graben entlang zog.
»Bleiben Sie nur immer dicht hinter mir,« flüsterte Rüchel.
Sie liefen an der Hecke hin ungefähr hundert Schritt; dann gelangten sie an eine Oeffnung derselben, wo an einem Pflocke ein kleines Boot, dessen sich der Wallmeister zu bedienen pflegte, befestigt war.
»Wenn wir ungeschoren über den Graben kommen, so ist das Schlimmste überstanden,« sagte Rüchel; hoffentlich wird uns die Wache, die oben bei dem Pallisadenhause steht, nicht sehen. Im schlimmsten Falle müssen wir einmal auf uns schießen lassen. Bis der Bursche sich dazu entschließt, sind wir aber drüben.«
Es kam genau so, wie Rüchel gesagt hatte. So leise sie auch zu Werke gingen, sie konnten, als sie die Kette, mit welcher das Boot befestigt war, lösten, nicht alles Geräusch vermeiden. Der Mann auf dem Posten war ein junger Soldat, der es mit seiner Instruction ernst nahm. Er trat an den Rand des Walles und blickte hinab. Glücklicherweise waren die Büsche der Hecke gerade an dieser Stelle sehr hoch, so daß das Boot fast ein Drittel des Grabens durchschnitten hatte, bevor es dem Soldat zu Gesicht kam. Zwischen diesem Punkte und dem Schatten der Bäume des Glacis von der andern Seite war ein Streifen, den der eben aufgegangene Halbmond ziemlich hell erleuchtete. Das Boot trat in den hellen Streifen.
»Werda!« rief der Soldat.
»Rudern Sie zu, Herr Lieutenant!« sagte Rüchel, der am Steuer stand.
»Werda!« rief der Soldat noch einmal.
Die Spitze des Bootes schoß in den Schatten.
Ein Blitz und ein Knall; die Kugel schlug hinter dem Boot in das Wasser.
»Hurrah!« schrie der übermüthige Rüchel und schwenkte die Mütze; »ehe er wieder geladen hat, sind wir drüben.«
Sie landeten an der andern Seite, und liefen durch das Wäldchen. Rüchel hatte Wolfgang an der Hand gefaßt.
»Ich weiß hier besser Bescheid,« sagte er; »und wir dürfen den Punkt nicht verfehlen, wo uns Cajus erwartet.«
Wolfgang fragte nicht, wie Cajus hierher komme; in dem Drang des Augenblicks erschien Alles, auch das Unbegreifliche, wenn es nur dem Endzweck der Flucht förderlich war, natürlich und selbstverständlich.
Sie gelangten am Rande des Hölzchens, das hier von Promenadenwegen durchschnitten wurde, zu einer Stelle, wo mehrere Bänke einen Ruheplatz bezeichneten. Als sie aus dem Gebüsch traten, kam ihnen ein Mann entgegen, der auf einer dieser Bänke gesessen hatte.
Es war Cajus; er trug ein Bündel in der Hand.
»Ihr kommt sehr spät, Rüchel,« sagte er in seiner barschen, rauhen Weise; »fünf Minuten noch und Ihr hättet mich nicht mehr gefunden.«
»Wir konnten nicht eher, lieber Schatz,« sagte Rüchel, dessen natürliche Munterkeit nach der so weit glücklich überstandenen Gefahr zum Durchbruch kam; »ich hatte zu viele neue Arrestanten einzusperren; es ging heute bei uns zu, wie in einem Taubenschlage.«
»Wir werden lange Beine machen müssen, bis wir die Andern einholen,« brummte Cajus. »Beeilen Sie sich mit dem Umziehen, mein Herr.«
Cajus hatte schon das Bündel aufgeschnürt und die Kleider, die es enthielt, herausgenommen. »Es sind Ihre eignen Sachen,« sagte er, »ich habe sie mir von Ihrem Burschen geben lassen. Dies ist für Sie, Rüchel.«
Der Wechsel der militairischen Kleider mit der bürgerlichen Tracht war bald geschehen. Rüchel stieg auf eine der Bänke und hing die ausgezogenen Sachen an einen Baumzweig.
»Die Nürnberger hängen Keinen, sie hätten ihn denn zuvor,« spottete er.
Cajus schalt; »Lassen Sie die Possen, Rüchel,« sagte Wolfgang.
Da krachte ein Kanonenschuß von dem Fort her.
Rüchel sprang von der Bank herab.
»Jetzt wird es wieder Ernst,« rief er; »wer hat die längsten Beine!«
Die Drei eilten jetzt aus dem Wäldchen über die Landstraße in einen schmaleren Weg, der sich zwischen Gärten und Häusern fort, in das freie Feld zog. Als sie das letztere erreicht hatten, bog Cajus, der die Führung übernommen hatte, rechts, bis sie den Fluß erreichten. Dann ging es in immer gleicher Eile am Ufer hin zwischen dem Wasser und dem niedrigen Uferrand auf dem Leinpfade.
Wolfgang erfuhr nun von Rüchel, der sich neben ihm hielt, während der schweigsame Cajus einige Schritte voran ging, wie seine Flucht zu Stande gekommen war. Ueber den Punkt, daß er sich erboten hatte, das Fort den Verschworenen auszuliefern, ging der muntere Gesell leicht fort; vielleicht fürchtete er, Wolfgang dürfte diese Verrätherei doch noch etwas mit den Augen des Officiers ansehen. »Ohne Ihren Burschen, Herr Lieutenant,« sagte er, »wäre die Sache nicht so leicht gewesen. Ich gab ihm, als er gegen neun Uhr Ihre Nachtsachen brachte, einen Zettel an Cajus mit: daß Sie gefangen säßen, und daß, wenn aus der Ueberrumpelung nichts würde, wir, das heißt: der Herr Lieutenant und ich, um elf Uhr auf dem Platze in dem Wäldchen sein wollten, von wo uns dann die Herren vom demokratischen Club weiter helfen müßten; denn daß die heute Abend auf jeden Fall einen Streich ausführen würden, wußte ich von dem Cajus. Ja, ja, man kann sich auf die Herren verlassen; das sind Tausendsappermenter, und deshalb bin ich auch entschlossen, es mit ihnen zu halten, mag's nun biegen oder brechen.«
»Aber wohin führt uns Cajus?« fragte Wolfgang.
»Ich weiß es nicht,« sagte Rüchel, »ich habe ihn nicht fragen mögen; thun Sie's einmal, Herr Lieutenant.«
Cajus scharfes Ohr mußte die Unterredung gehört haben, denn er mäßigte plötzlich seine Schritte und sagte, als die Beiden herangekommen waren: »Ich habe von den Herren Münzer und Degenfeld, die mit ungefähr zweihundert der Unsrigen eine halbe Meile vorauf sind, den Auftrag, Sie zu unserm Corps zu geleiten, wenn es Ihnen recht ist.«
»Gewiß ist es mir recht!« sagte Wolfgang, dessen Herz bei dieser Aussicht, so unmittelbar in den Kampf zu gelangen, vor Freuden erbebte; »und wohin geht der Zug?«
Cajus nannte den Namen der insurgirten Stadt, der zu Hülfe zu ziehen man beschlossen hatte.
Wolfgang bedurfte keiner langen Auseinandersetzung, um zu wissen, um was es sich handelte. Er hatte noch am Abend vorher mit Degenfeld und Münzer die Möglichkeiten eines solchen Zuges erwogen. Damals hatte er freilich nicht geglaubt, daß aus dieser Möglichkeit so bald eine Wirklichkeit werden sollte, und noch weniger, daß er selbst in diesen Streich verwickelt sein würde.
»Aber wo sollen wir Waffen hernehmen?« rief er.
»Wir sind eben im Begriff, uns welche zu holen,« erwiderte Cajus.
Wolfgang hätte wohl Genaueres zu hören gewünscht; aber Cajus hüllte sich in seine mürrische Schweigsamkeit und Wolfgang tröstete sich darüber mit der frohen Aussicht, so bald mit seinen Freunden wieder vereinigt zu sein.
Unterdessen machte ein heraufziehendes Gewitter die Nacht immer dunkler und der ohnehin schon sehr beschwerliche Weg wurde dadurch noch beschwerlicher. Zuletzt fing es sogar erst leise, dann immer stärker, zuletzt in Strömen zu regnen an. Wolfgang begann an einer unbequemen Mattigkeit zu fühlen, daß er seit dem Morgen so gut wie nichts gegessen hatte; selbst Rüchel hörte auf, Schnurren zu erzählen und seine Lieblingslieder leise vor sich hinzusummen, wie er es den ganzen Weg über gethan hatte; nur Cajus schritt mit ungebrochener Kraft voran und jetzt sogar noch schneller, als zuvor.
»Die Dunkelheit war gut, aber der Regen taugt ganz und gar nichts,« sagte er; »wenn das noch eine Stunde so fortregnet, haben wir statt zweihundert nicht zwanzig mehr zusammen.«
»Ich wundre mich,« sagte Wolfgang, »daß Sie für die Expedition diesen Weg gewählt haben. Was Sie an Sicherheit gewinnen, büßen Sie durch den Zeitverlust wieder ein.«
»Bis wir Waffen haben, ist Sicherheit die Hauptsache,« entgegnete Cajus.
»Aber wo wollen Sie auf diesem Wege Waffen finden?«
»In Rheinfelden, in dem Waffensaal Ihres Großonkels,« entgegnete Cajus.
Wolfgang erschrak. Münzer und Degenfeld hatten über diesen Punkt ihres Planes gestern Abend kein Wort gesagt.
»Wer hat den Gedanken gehabt?« rief er.
»Ich!« erwiderte Cajus lakonisch.
»Man wird sie Ihnen nicht gutwillig geben,« sagte Wolfgang.
»So nehmen wir sie mit Gewalt,« erwiderte Cajus.
Wolfgang schwieg betroffen und verwirrt. Die Aussicht auf ein sehr wahrscheinliches Zusammentreffen mit seinem Großonkel, vielleicht gar mit Camilla und der Präsidentin unter diesen Umständen hatte etwas unbeschreiblich Peinliches für ihn. Indessen sah er keinen Ausweg aus diesem Irrsal. Nachdem er einmal den Schritt gethan hatte, mit dem er sich der Revolution in die Arme warf, mußte er die Folgen dieses Schrittes tragen, sie mochten sein, wie sie wollten.
Auch war ihm keine Zeit gelassen, sich eines Anderen zu bedenken, denn Lichter, die plötzlich aus der Dunkelheit linker Hand in geringer Entfernung aufleuchteten, bewiesen, daß sie an dem Schlosse angelangt waren.
»Sie wissen hier besser Bescheid, als ich,« sagte Cajus stehen bleibend; »wollen Sie die Führung nach dem Schlosse übernehmen?«
»Folgen Sie mir,« sagte Wolfgang entschlossen.
Er verließ den Uferpfad und schritt auf dem ihm so wohlbekannten Wege an der Parkmauer hin nach dem Thore, das auf den Schloßhof führte.
An dem Thore wurde ihnen ein Werda? entgegengerufen.
»Freiheit!« antwortete Cajus.
»Könnt passiren!« sagte die Wache.
»Wie steht's?« fragte Cajus.
»Schlecht; die Hälfte ist zu Hause geblieben, die andre Hälfte ist unterwegs davongelaufen.«
»Dachte mir's!« brummte Cajus; »der Plan taugte von vornherein nichts.«
Sie traten auf den Schloßhof, auf dem ein wunderliches Treiben herrschte. Ungefähr funfzig Männer standen hier, von dem Licht eines Reisighaufens, den man eben entzündet hatte, seltsam beleuchtet. Sie verteilten Waffen unter sich; aus der weitgeöffneten Hausthür trugen andere Männer noch immer Waffen heraus. Münzer war bei dem Feuer und leitete die Vertheilung der Waffen. Er begrüßte Wolfgang mit einem flüchtigen Druck der Hand und einem, wie es Wolfgang schien, sehr traurigen Lächeln.
»Es ist gut, daß Du hier bist,« sagte er; »obgleich die Sachen hier schlecht genug stehen. Die Leute werden schwierig und haben die größte Lust, davonzulaufen; Degenfeld ist im Waffensaal und verliert unnöthige Zeit mit Aussuchen besonders guter Gewehre. Geh' zu ihm hinein und sag' ihm: ich ließe ihn bitten, auf jeden Fall ein Ende zu machen. Wir müssen weiter; es ist die höchste Zeit.«
Wolfgang lag selbst sehr daran, sobald als möglich von dieser Stelle fortzukommen, als daß er Münzer's Auftrag nicht gern hätte annehmen sollen, obgleich er allerdings, wenn es zu vermeiden gewesen wäre, das Schloß lieber nicht betreten hätte. Indessen durfte er hoffen, von keinem der Bewohner erkannt zu werden.
Er eilte durch den weiten Vorsaal und dann den langen schmalen Corridor hinab. Noch immer begegneten ihm einzelne Leute, die Waffen heraustrugen; er mahnte zur Eile, man antwortete mit höhnischem Lachen: nun solle das Plündern erst recht angehen. Als er in den Gartensaal trat, der, wie auch der Hausflure und die Corridore von einzelnen Lichtern, die man in aller Eile entzündet hatte, spärlich erleuchtet war, hörte er aus dem Zimmer des Generals, welches dem Waffensaal gegenüberlag, Geschrei von Weibern, heftiges Schelten und Fluchen der Männer, dazwischen glaubte er die Stimme Degenfeld's zu vernehmen, die, wie es ihm schien, sich vergeblich bemühte, den Lärm zu übertönen. Von Neugier und von Besorgniß um Degenfeld zugleich getrieben, stieß Wolfgang die halb geöffnete Thür auf; ein Blick genügte, ihm klar zu machen, was hier vorging.
Degenfeld stand mit dem Rücken gegen den erbrochenen Schreibsecretair des Generals, in der erhobenen Rechten eine Pistole, die er auf einen Haufen von Kerlen gerichtet hatte, welche, den Schlossergesellen Christoph Unkel an der Spitze, mit wildem Geschrei und wüthenden Gebehrden auf ihn eindrangen. An der Erde umhergestreute Wertsachen, zerschlagene Spiegel und andere Zeichen der Zerstörung bewiesen, daß die Plünderung schon im besten Gange gewesen war, als Degenfeld dazukam.
In der Nähe des Fensters, und noch von Degenfeld zum Theil gedeckt, saß der alte General, in den Schlafpelz gehüllt, auf seinem Rollstuhl, neben ihm standen die Präsidentin und Camilla, deren weinende Gesichter und zum Theil zerrissene Nachtkleider bewiesen, daß sie persönlichen Beleidigungen nicht entgangen waren, nachdem sie sich eilig aus den Betten erhoben hatten.
Es war außer allem Zweifel, daß Degenfeld's Leben ernstlich bedroht war. Nicht blos Christoph Unkel, auch seine Spießgesellen trugen Waffen in den Händen: Schwerter, Flinten, Aexte, die sie so eben erbeutet hatten; und ihre Mienen und Worte bewiesen, daß sie die größte Lust verspürten, diese zum Dienst der Freiheit erbeuteten Waffen vorläufig mit dem Blute ihres Anführers zu besudeln.
»Nieder mit ihm!« tobte Christoph Unkel; »das fehlte noch, daß wir uns hier von so einem verdammten Aristokraten befehlen ließen. Weg von den Weibern, oder wir schlagen Ihnen den Schädel ein.«
»Hülfe, Rettung!« kreischte die Präsidentin; »um Gotteswillen, Herr von Degenfeld, schützen Sie uns!«
Wolfgang hatte einem der ihm zunächst Stehenden eine Büchse aus den Händen gerissen und war im Nu an Degenfeld's Seite.
»Zurück!« schrie er, die Büchse am Lauf erfassend und zum Schlage ausholend.
»Da ist noch so ein Aristokrat,« schrie eine Stimme aus dem Haufen; »schlagt ihn todt!«
Die Brechstange, die er in den Händen hielt, über dem Kopfe schwingend, mit wüthendem Geheul stürzte Christoph auf Degenfeld los. Degenfeld gab Feuer; Christoph fiel vornüber zu Boden, todt oder tödtlich verwundet.
Die Andern, als sie ihren Rädelsführer gefallen sahen, eilten in wilder Flucht zum Zimmer hinaus. Degenfeld beugte sich über den am Boden Liegenden. Der muskelstarke Arm, den er anfaßte, fiel bleiern nieder.
»Er wollte es nicht anders,« murmelte Degenfeld.
Dann sich wieder aufrichtend, sagte er mit trauriger Stimme zu Wolfgang:
»Beschützen Sie die Frauen, lieber Wolfgang, im Falle die Canaillen zurück kämen; ich muß zu Münzer hinaus. Vielleicht sehen wir uns nicht wieder. Leben Sie dann wohl!«
Er drückte Wolfgang die Hand, verbeugte sich vor dem General und den halb ohnmächtigen Frauen und verließ das Gemach.
Wolfgang trat auf den Großonkel zu und sagte: »Sind Sie im Stande, sich in das Zimmer nebenan zu begeben?«
Der Alte stierte ihn mit blöden Augen an und streckte mechanisch die Knochenhände nach ihm aus. Wolfgang faßte ihn unter dem Arm, zog ihn aus dem Stuhl empor und führte ihn in das Nebenzimmer, des Generals Schlafgemach. Die Präsidentin und Camilla folgten.
Wolfgang ließ sich den Alten in seinen Lehnstuhl setzen.
»'S ist der Junge,« rief der Alte, der ihn erst jetzt erkannte, »wahrhaftig, 's ist der Junge! Was habt Ihr mir denn von ihm vorgelogen, verdammte Frauenzimmer! hab's ja immer gesagt, daß er es gut mit seinem alten Großonkel meint!«
Die Präsidentin, die sich auf einen Stuhl geworfen hatte, streckte die fetten Hände, wie um Verzeihung bittend, nach Wolfgang aus, und machte einen Versuch in alter Weise gnädig zu lächeln; Camilla warf sich an seine Brust.
»Liebster Wolfgang!« rief sie, »kannst Du mir verzeihen!«
Wolfgang machte sich aus dieser Umarmung mit einer Schnelligkeit los, die Camilla'n deutlich genug zeigte, daß ihre Bemühung, das Geschehene vergessen zu machen, vergeblich sei.
»Verzeihen Sie,« sagte er kalt; »aber Sie irren sich vollständig.«
»Lieber Sohn, wollen Sie denn noch immer zürnen?« rief die Präsidentin mit überströmenden Thränen.
»Befrei' mir von diesen Banditen, Junge,« rief der Alte, »und Du sollst das Mädel haben, und sie soll den verdammten Fuchs von Medicinalrath zum Teufel schicken.«
Camilla bedeckte das Gesicht mit den Händen.
»Ich bedaure, Sie aus Ihrem allseitigen Irrthum reißen zu müssen,« sagte Wolfgang. »Sie müssen wissen, daß ich zu jenen Banditen gehöre, wenn ich auch, wie Sie sehen, so wenig wie Herr Degenfeld, das Banditenthum wörtlich nehme. Ich komme so eben aus dem Gefängniß; Sie werden wohl keinen Deserteur heirathen wollen, Fräulein Camilla?«
»O, mein Gott, er will uns umbringen,« rief die Präsidentin.
Camilla warf sich vor der Mutter nieder und verbarg ihr schönes Gesicht im Schooß derselben.
»Dazu habt Ihr ihn gebracht, verdammte Frauenzimmer,« sagte der General.
»Ich spreche die Damen von dieser Schuld los,« sagte Wolfgang; »ich lasse Fräulein Camilla die freieste Verfügung über ihr Wort, das sie ja auch, wie ich höre, bereits anderweitig vergeben hat. Sie erlauben, daß ich diese peinliche Scene abkürze und mich nach meinen Freunden umsehe.«
»Er will uns umbringen,« schrie die Präsidentin.
In diesem Augenblicke ertönte ein Schuß und gleich darauf ein zweiter und dritter, dann krachte eine Gewehr-Salve, daß die Fensterscheiben erklirrten.
Wolfgang stürzte aus dem Zimmer und durch das vordere Gemach, in welchem der Leichnam des wilden Christoph noch immer auf dem Teppich lag, in den Gartensaal. Hier begegnete ihm Rüchel.
»Gott sei Dank, daß ich Sie finde!« rief der treue Bursche; »wir kommen nicht mehr auf den Hof; sie sind mir auf den Hacken.«
Der Schritt von Soldaten, die den Corridor herauf stürmten, bestätigte diese Worte. Nur ein Ausweg war: durch die Glasthür in den Park. Wolfgang riß seinen Gefährten nach dieser Seite. Glücklicherweise war die Thür nicht verschlossen. Es war die höchste Zeit. Von den Kugeln, die man ihnen nachschickte, flogen ihnen die Glasscherben um die Köpfe.
»Wo sind die Unsern?« fragte Wolfgang, als sie eiligen Laufs den Rand des Teiches erreicht hatten.
»Gott mag's wissen,« entgegnete Rüchel; »es geht Alles drunter und drüber.«
»Wir müssen sie finden,« sagte Wolfgang.
»Ich gehe, wohin Sie gehen,« sagte Rüchel.
Das Schießen, das zuerst vom Hofe her erschallt war, kam jetzt, aber schwächer, von der rechten Seite des Parks, aus den Weingärten, die zwischen dem Parke und dem Dorfe Rheinfelden lagen.
»Folgen Sie mir!« sagte Wolfgang; »ich weiß den kürzesten Weg.«
»Nur immer zu!« sagte Rüchel.
Sie waren kaum funfzig Schritte von dem Teiche fort, als ganz in ihrer Nähe von der rechten Seite mehrere Gewehre auf sie abgefeuert wurden. Sie wandten sich nach links. Wer da! erschallte es auch hier und wiederum krachten Schüsse. Glücklicherweise beschützte sie die Dunkelheit, welche, trotzdem der Regen aufgehört hatte und der Mond wieder vom Himmel leuchtete, unter den Bäumen und zwischen den Büschen noch ziemlich dicht war.
»Sie haben eine Postenkette um das Schloß gezogen,« flüsterte Rüchel; »wir müssen uns durchzuschleichen suchen.«
Sie blieben ein paar Minuten liegen, um wo möglich die Stellung der Posten zu recognosciren. Als sie sich über die der nächsten unterrichtet zu haben glaubten, krochen sie vorsichtig weiter und gelangten unangefochten bis an den Saum des Gebüsches, das hier einen ziemlich großen Rasenplatz umkränzte, in dessen Mitte ein verfallener Pavillon stand. Der Mond schien hell auf den Platz und glitzerte auf den Bayonnetten der Gewehre von ungefähr einer halben Compagnie, dem Gros der Plänklerkette, durch die sie soeben glücklich gekommen waren. Während sie noch überlegten, was sie nun thun sollten, wurde das Feuern in den Weingärten, das in der letzten Zeit fast ganz aufgehört hatte, wieder lebhafter. Der Führer der Compagnie ließ das Signal zum »Sammeln« geben; Wolfgang und Rüchel wußten sehr wohl, daß die Postenkette sich jetzt auf das Soutien zurückziehen werde und sie selbst in Folge dessen zwischen zwei Feuer kommen würden.
»Es bleibt nichts Anderes übrig, als ruhig liegen zu bleiben und abzuwarten, ob sie an uns vorübergehen werden,« flüsterte Rüchel.
»Ich denke, wir suchen uns an dem Rande der Wiese weiter zu schleichen,« erwiderte Wolfgang; »von jener Stelle dort, wo die großen Bäume stehen, ist es nur wenige Schritte bis zu einer kleinen Pforte in der Parkmauer, die so von Gestrüpp überwuchert ist, daß sie Niemand kennt.«
»Ist mir auch recht,« sagte Rüchel.
Im Schutz des tiefen Schattens der Bäume schlichen sie nun vorsichtig an dem Rande der Wiese hin und sie hatten die von Wolfgang bezeichnete Stelle fast erreicht, als sie ganz plötzlich auf eine Patrouille stießen, die nach dieser Seite abgeschickt gewesen war, und jetzt, durch das Knacken der trockenen Zweige aufmerksam gemacht, Gewehr bei Fuß auf die Herankommenden, die sie für einen zurückkehrenden Doppelposten gehalten haben mochten, gewartet hatte.
»Wir müssen uns durchschlagen,« flüsterte Wolfgang.
»Ist mir recht,« erwiderte Rüchel.
»Halt! wer da?« rief der Führer der Patrouille.
»Gut Freund!« rief Wolfgang, indem er auf den Ueberraschten und Erschrockenen zusprang und ihm das Gewehr aus den Händen riß. Rüchel stürzte sich auf einen zweiten. Ein Handgemenge entstand. Die Verzweiflung gab den beiden Angreifern mehr als gewöhnliche Kraft. Sie warfen nieder oder stießen bei Seite, was sich ihnen in den Weg stellte, und hatten bald das Pförtchen erreicht. Aber sie konnten nicht unbemerkt durch dasselbe entschlüpfen, denn die Verfolger waren dicht hinter ihnen. Da ihnen außerhalb des Parkes die Strecke bis zum Dorfe, mit Ausnahme der Bäume, die an der einen Seite des die Felder durchschneidenden Grabens standen, fast gar keinen Schutz gewährte, so war ihre Lage jetzt mißlicher, als je. In der That hatten sie kaum die Hälfte der Entfernung zurückgelegt, als die Soldaten aus dem Pförtchen hervorbrachen. Sie riefen sich gegenseitig zu, um sich zur eifrigeren Verfolgung anzufeuern; sie glaubten jetzt offenbar, ihrer Beute sicher zu sein. Dazu kam, daß vom Dorf her Trommelschall ertönte; also auch das Dorf war besetzt. Jede Rettungshoffnung schien verloren.
»Wir wollen sie herankommen lassen und unser Leben so theuer wie möglich verkaufen!« rief Wolfgang.
»Mir auch recht!« sagte Rüchel.
Plötzlich stand eine Gestalt hinter ihnen, die aus den mit Buschwerk dicht überwachsenen Trümmern der eingestürzten Dorfmauer hervorgetaucht war.
»Ich bin's, der Balthasar,« sagte eine Stimme, deren milden Klang Wolfgang nicht wieder vergessen hatte; »schnell, lieber junger Herr, und wer bei Ihnen ist: folgen Sie mir und kein Mensch soll Ihnen das liebe Leben rauben.«
Balthasar ergriff Wolfgang an der Hand und zog ihn in die Büsche. Rüchel folgte ihnen auf dem Fuße.
»Jetzt auf die Kniee und mir nur muthig nachgekrochen,« sagte Balthasar.
Wolfgang wiederholte das Wort an Rüchel.
»Mir auch recht,« sagte Rüchel.
Sie krochen auf Händen und Füßen in eine Spalte, die aus den übereinander gestürzten Steinen entstanden schien. Die Spalte war so eng, daß es an mehr als einer Stelle Wolfgang sehr schwierig war, seine breiteren Schultern hindurchzuzwängen; auch Rüchel schien seine große Noth zu haben, denn er brummte sehr und machte dazwischen lustige Bemerkungen über die bedenkliche Lage.
»Jetzt halt!« rief Balthasar.
»Halt!« sagte Wolfgang.
»Mir recht!« sagte Rüchel; »aber, wenn ich bitten darf, nicht zu lange, ich bin gar nicht müde.«
»Es geht jetzt eine Leiter von zehn Sprossen hinauf,« sagte Balthasar, und kletterte voran. Wolfgang folgte. Rüchel kam hinterdrein und zog, auf Balthasar's Geheiß, die Leiter nach.
Sie konnten jetzt aufrecht stehen; Balthasar zündete eine kleine Laterne an. Sie sahen nun, daß sie in einem etwa vier Fuß breiten und sechs Fuß hohen, gleichmäßig gemauerten Gange standen, der erst allmählig, dann steiler in die Höhe in vielfachen Windungen bis an eine schwere eiserne Thür führte, die Balthasar öffnete und nachdem sie hindurchgegangen waren, mit Schloß und Riegel wohl verwahrte. Sie befanden sich in einem kellerartigen Raum, der zu groß war, als daß ihn das schwache Licht von Balthasar's Laterne nach allen Seiten hätte erleuchten können. Aus diesem Raum führte eine sehr schmale und steile Treppe durch die Dicke der Mauer in die Höhe auf einen niedrigen Gang, aus welchem sie auf einer kleinen Leiter durch eine Fallthür in das Wolfgang bereits bekannte Thurmgemach traten. Balthasar zog die kleine Leiter herauf, deckte die Klappe über die Oeffnung, stellte die Laterne auf den Tisch und begrüßte Wolfgang, indem er ihn an beiden Händen faßte und mit herzlichsten Worten willkommen hieß.
»Habe ich es nicht gesagt,« rief er, »daß ich Sie einst hier auf meinem Malepartus in Sicherheit bringen würde! Wie das doch so wunderbar eingetroffen ist!«
Dann bemühte er sich mit einer rührenden Sorglichkeit für seine Gäste. Er brachte grobe, aber reinliche Wäsche herbei und drang in die beiden jungen Männer, sich vollständig umzukleiden, denn der heftige Regen während des Marsches und sodann ihr Umherkriechen in Busch und Gras hatte sie ganz und gar durchnäßt. Unterdessen räumte er die Bücher von dem Tisch und trug Brod, Butter, Käse und eine Flasche Wein auf; bereitete dann wieder, während die Beiden ihren Hunger stillten, aus Decken und Röcken ein Lager, auf welches sich die beiden Abenteurer bald darauf mit einer Müdigkeit ausstreckten, die nach den ungeheuren Anstrengungen dieses Abends erklärlich genug war. Rüchel hatte die kecken schwarzen Augen, mit denen er die wunderliche Einrichtung des Thurmgemaches wie etwas, das sich ganz von selbst verstand, betrachtet hatte, kaum zugemacht, als er auch sofort einschlief. Wolfgang sah noch, wie durch einen Schleier, daß Balthasar in dem Gemache mit leisen Schritten hin und wieder ging und die entstandene Unordnung möglichst beseitigte; dann sah er ihn an dem Tische sitzen und beim Schein seiner Laterne in einem dicken Buche lesen, und dann umhüllte ihn, wie ein weiches, köstliches Gewand, ein tiefer, traumloser Schlaf.
Ende des dritten Bandes.