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Drittes Buch.

Erstes Kapitel.

Was für Justus folgte, war eine lange, lange Fortsetzung des Deliriums, das ihn bereits auf der Flucht durch den Wald ergriffen und dessen Nacht der Schrecken beim Erblicken des toten Vaters nur für einen Moment fürchterlich hatte lichten können. Seine wahnwitzige Phantasie erging sich in Grauenbildern, die er so packend malte, daß dem guten Pfarrer Szonsalla die kurzen Haare unter dem Käppchen zu Berge standen, während der alte Doktor Malthus aus T. es natürlich minder tragisch nahm.

Das alles geht in der Region des Unbewußten vor, sagte er; das heißt da, wo der Mensch all das Schreckliche, was er sich zusammenphantasiert, nicht direkter auf sich bezieht, als wir im Theater den Mord und Totschlag auf uns beziehen, wenn wir auch sentimentale Thränen darüber vergießen. Er wird von all dem tollen Krimskrams nichts mehr wissen, sobald er wieder bei Verstande ist. Dann wird erst das wahre Elend für den armen Schelm beginnen. Sollte er sich auch wirklich erinnern, den Vater tot gesehen zu haben – und ich glaube es, denn er spricht von ihm nur immer als von einem Toten – so wird doch der Tod der Mutter für ihn ein fürchterlicher Schlag sein. Für die Ärmste selbst war es freilich ein Segen; ihr Herzleiden hatte solche Fortschritte gemacht, daß der Rest ihres Lebens nur eine grausame Qual gewesen wäre, die ihr nun ein einziger schrecklicher Augenblick erspart hat. Aber Justus dürfte es doch nicht von diesem Gesichtspunkt sehen, und Sie werden gut thun, Hochwürden, ihn so lange in Unwissenheit zu halten, bis er die Wahrheit ertragen kann. Und was ich fragen wollte, Hochwürden – es gehört ja eigentlich nicht zu meinem Ressort; aber man hat sich doch auch, alter Praktikus wie man ist, ein Stück vom Herzen bewahrt, und das Schicksal des armen Jungen geht mir nah – sein Verhältnis zu der gräflichen Familie wird doch wohl durch diese ganze häßliche Geschichte nicht weiter alteriert werden?

Pfarrer Szonsalla kraute sich hinter dem Ohr und erwiderte:

Ja, ja, es ist eine häßliche Geschichte, und in der ich noch durchaus keineswegs klar sehe. Der junge Graf hat jetzt zugegeben, daß über eine Kleinigkeit ein Streit zwischen ihnen entstanden sei, der dann in eine Rauferei ausgeartet. Er giebt weiter zu, daß Justus aus der Nase geblutet habe, wie ja denn auch die Flecken im Zimmer bezeugen, daß Blut geflossen ist; stellt aber durchaus in Abrede, daß Justus' Wunden von einem Schlage herrühren könnten, den er ihm mit einem scharfen Instrumente versetzt –

Das will ich vor Gericht auf meinen Sachverständigeneid nehmen, sagte der Doktor.

Irren ist menschlich, sagte der Pfarrer, und ich wollte, Sie irrten sich in diesem Falle, und Justus hatte sich seine Wunden im Walde an einem Baumstamm oder vertrockneten Aste geholt. Dunkel genug war es in der Nacht. Dann mag sich ja alles wieder zurechtziehen. Gräflicherseits, scheint mir ja, hat man den besten Willen. Es ist immerhin eine – in Anbetracht seiner bekannten Sparsamkeit, um es mit christlicher Milde zu bezeichnen, – erfreuliche Thatsache, daß, der Herr Graf nicht nur die Begräbniskosten übernommen, sondern auch alle durch Justus' Krankheit erwachsenden Ausgaben zu decken versprochen hat. Auch weiß ich, daß der junge Graf hart angelassen ist, weil er nicht alsbald Lärm geschlagen; und Doktor Müller beinahe um seine Stelle gekommen wäre, weil er am anderen Morgen die Damen hatte abreisen lassen, ohne sie von dem Vorgefallenen in Kenntnis zu setzen. Von einer Wiederaufnahme unseres lieben Jungen in sein früheres Verhältnis verlautet freilich in den Briefen des Herrn Grafen nichts. Vielleicht nimmt er das als selbstverständlich an; vielleicht hält man dafür, daß man es Justus überlassen müsse, zu entscheiden, ob er nach der erfahrenen Mißhandlung zurückkehren wolle oder nicht. Ich glaube, er wird wollen, wenn sie will.

Wer?

Meine Isabel.

Nun, und sie?

Der Pfarrer kraute sich wieder hinter dem Ohre.

Es ist nicht immer leicht zu wissen, was sie will, oder nicht will; erwiderte er, Sie hat anfangs gesagt: Justus gehört nicht in das Schloß. Dann hat sie, ich weiß nicht warum, es doch durchgesetzt, daß man ihn aufforderte, und er die Aufforderung annahm. Gestern schreibt sie mir –

Der Pfarrer suchte in der Innentasche seines Schlafrockes nach dem Briefchen, das er herausnahm und mit zitternden Händen entfaltete:

Hier! »Sag' Base Anna, daß in meiner Kommode« – nein, das ist es nicht – hier: »Sag' Justus, sobald er es verstehen wird, daß er hier, wenn er kommt, willkommen ist und ebenso, wenn er nicht kommt, willkommen bleibt; und daß ich glaube, es ist besser für ihn, wenn er willkommen bleibt, als wenn er willkommen ist.« – Verstehen Sie das, Doktor?

Hm! sagte der Doktor, für eine junge Dame von vierzehn Jahren alles Mögliche an Spitzfindigkeit. Aber sie hat uns ja immer vollauf zu raten gegeben.

Das weiß der liebe Gott! sagte der Pfarrer seufzend.

Nun, ich will darüber nachdenken, sagte der Doktor, den Rest Tokaier langsam ans dem Glase schlürfend. In der Behandlung mit unserem Patienten bleibt es beim alten. Ich komme morgen wieder und hoffe, daß wir dann schon einige lichte Momente haben werden. Wir hatten heute nur noch achtunddreißig und fünf Strich. Nach den vierzig und mehr, die wir wochenlang gehabt haben, eine Bagatelle. Übrigens hat Skapzeck gestern dem Untersuchungsrichter Bertram gestanden, daß er dabei gewesen ist, woran allerdings auch kein vernünftiger Mensch gezweifelt hat; ebensowenig wie daran, daß der intellektuelle Urheber des Verbrechens der Löb ist, dem Arnold, seitdem er die Kerls nicht mehr ungehudelt durch sein Revier ließ, ein Dorn im Fleische war. Sie haben ihn übrigens gestern nach Skapzecks halbem Geständnis ebenfalls beim Kragen genommen. Seine Complicen zu nennen, verweigert der Kerl vorläufig. Ich denke, man wird ihn wohl mürbe kriegen. Bertram meint, es müssen mindestens ihrer sechs gewesen sein; unter dem hätte das Gesindel nicht gewagt, mit Arnold anzubinden; und dazu müßten sie ihn noch in einen Hinterhalt gelockt haben. Gut, daß er wenigstens noch einen Schuß hatte abgeben können, der den Forstläufer, den er thörichterweise eben, nach Hause geschickt hatte, wieder umkehren ließ. Er hätte sonst lange an der einsamen Stelle liegen können.

Der alte Arzt verabschiedete sich; der Pfarrer hatte sich hinter die erst halb geleerte Flasche wieder in seine Sofaecke gesetzt. Der Kranke bedurfte eben seiner nicht, da Marthe Anders sich erboten hatte, während der Nachmittagsstunden, wo sie zu Hause abkommen konnte, bei ihm zu wachen. Und auf Marthe Anders durfte man sich verlassen.

Was mochte die wahre Meinung von Isabels sibyllinischen Worten sein? Es war eigentlich dumm von ihm, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Früher! o ja, auf dem Seminar, als er für den scharfsinnigsten Kopf galt, den keine schroffste theologische Antithese, kein verzwicktestes Dilemma verblüffen konnten! Aber jetzt half ihm das Nachdenken über die einfältigsten Dinge rein gar nichts mehr, nur daß ihm davon noch wüster im Gehirn wurde. Vielleicht meinte sie, daß Justus besser daran thäte, nicht zurückzukommen und statt dessen für seine paar Schuljahre und die Universitätszeit die Unterstützung anzunehmen, die ihm der Graf zugesagt hatte und anständigerweise nicht wieder entziehen konnte. Anständigerweise! der Graf war für seinen Anstand in Geldsachen nicht berühmt. Und würde der stolze Justus das annehmen? Schwerlich. Was aber dann? Der gute Gott wußte, wie gern er den lieben Jungen an Sohnesstatt genommen und gehalten hätte; aber er hatte ja nie einen Groschen in der Tasche; wie sollte er das Geld aufbringen? Und selbst, hätte er's, die Anna würde ja nicht dulden, daß er es dem Justus gab.

Ein Lärm aus der Küche unterbrach den guten Mann in seinen Meditationen: es war Anna, die sich dort mit der polnischen Aufwartefrau zankte. Er schüttelte den Kopf, that einen Schluck aus seinem Glase und sank mit einem tiefen Seufzer wieder in seine Ecke zurück.

Die entsetzliche Person, die an nichts dachte als an ihren Vorteil, in deren Herzen nie ein honettes Gefühl sich auch nur regte! Und hatte nie den Mut gehabt, sie fortzujagen, aus dummer Gutmütigkeit erst und dann aus feiger Furcht, sie möchte thun, was sie jedenfalls trotzdem gethan hatte: ihn an Isabel verraten. Ja, sie mußte ihn an Isabel verraten haben, und die Kleine wußte es – wußte, was sie niemals, niemals hätte wissen dürfen. Das war's, weshalb sie ihn oft so sonderbar aus den großen Augen angesehen, und weshalb es dabei so eigen um ihren hübschen Mund gezuckt, und weshalb sie ihn so leichten Herzens verlassen hatte! Sein Juwel, sein Idol, sein Abgott, sein Alles!

Der unglückliche Mann drückte die Hände vor das Gesicht und stöhnte laut.

Dann fuhr er wieder in die Höhe und schlug mit der welken zitternden Faust auf den Tisch, daß das Glas, welches er sich bis an den Rand gefüllt, überfloß.

Mag sie mich verlassen! ich bin es nicht besser wert, ich alter vertrunkener häßlicher Mensch; aber wenn sie Justus verläßt, der so gut und brav ist und sie so liebt – das könnte ihr Gott im Himmel nicht verzeihen. Aber sie wird ihn verlassen, ich weiß es; sie hat es schon gethan, denn ihr Sinnen und Trachten steht nur nach Glanz und Prunk, und wer ihr die nicht bieten kann, gilt nichts in ihren Augen. Ach, und es war mein Wunsch und mein Gebet, daß sich die Kinder einmal lieben und heiraten möchten. Das sollte mich für alles entschädigen, wonach mein Herz einst verlangt und was ich gewiß erreicht hätte, nur daß ich die Gaben, die mir Gott verliehen, verzettelt und vergeudet: Ruhm und Ehre eines gelehrten, streitbaren Dieners unserer allerheiligsten Kirche und einen Kardinalshut und einen Palast in Rom mitten zwischen duftenden Orangenbäumen und Bosketts von blühendem Oleander und ragenden Pinien, in deren Schatten eine Fontaine plätschert in einem großen Marmorbassin, um das herum Faune und Nymphen gelagert sind. Ja, ja, sie hat den Schönheitssinn, die Kleine, von mir! Und zu denken, daß ich nun hier sitze in dem zerfetzten Schlafrock, ungewaschen und ungekämmt, in diesem gräßlichen Zimmer, das von Schmutz starrt, vor diesem wackligen Tisch, auf dem die dicken häßlichen Fliegen sich an dem übergelaufenen Wein betrinken – willst du fort, du abscheuliches Tier!

Er schlug nach der grauen Maus, die durch die Fliegen gerannt war, ohne daß sich eine gerührt hätte.

Ein Schauder überlief ihn. Er starrte auf die Tischplatte, über die jetzt die erschreckten Fliegen schwärmten, um sich alsbald wieder auf die klebrigen Weinreste zu stürzen.

Kommen sie schon am helllichten Tage, murmelte er; dann ist das Maß meiner Sünden voll.

Wieder drückte er die Hände in die Augen und weinte bitterlich um sein verkommenes Leben und um die, die er so sehr geliebt, und die ihn so grausam verlassen; und um Justus, der jetzt niemand hatte auf der weiten schlimmen Welt als ihn, den verlorenen Mann, zu dem am helllichten Tage die Schreckensgespenster seiner Nächte kamen.


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