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Der Titel ist nicht neu; aber ich habe zwei Gründe, ihn für diese Aufzeichnungen zu wählen. Erstens fällt mir kein besserer ein, und zweitens scheint er in der That die passende Flagge, um die Ware zu decken.
Ich vermute nämlich stark, daß die Ware etwas bunt sein wird, wie es sich für ein richtiges Buch nicht schickt, aber in einem, das keinen Anspruch darauf macht, von fremden Augen gelesen zu werden, sondern nur meinem eigenen Nutzen und Frommen dienen soll, verzeihlich, ja, selbstverständlich ist.
Meinem Nutzen und Frommen. Ganz gewiß, wenn sie mit dem Worte, das sie mir heute nachmittag im Garten sagte, recht hat – und wann hätte sie das noch nicht gehabt? – »Es kommt jetzt gar nicht so sehr auf das an, was Sie schreiben, sondern darauf, daß Sie schreiben. Mein Vater pflegt zu sagen: er denke überhaupt nur, wenn er schreibe. Das ist eines der Paradoxen, in denen er sich gefällt. Aber ein gut Teil Wahrheit steckt doch darin.«
Sie citiert ihren Vater so gern und behauptet, sie verdanke ihm alles, womit sie mir nur beweist, daß sie seine Neigung zu Paradoxen allerdings von ihm geerbt hat. Und ihre erstaunliche Belesenheit, ihre intime Kenntnis der modernen Sprachen, und daß sie ihren Horaz und ihren Tacitus mindestens so fließend liest wie ein guter Primaner – das alles und so noch vieles mag sie ihm wohl zu verdanken haben. Aber wenn jemand fest in seinen eigenen Schuhen steht, so ist sie es. Ich meine, wenn sie von ihrem Gatten sagt, daß er ein self-made-man sei, so darf man sie – die Sache vom praktischen Gebiet auf das moralische und rein geistige übertragen – mit allem Fug ein self-made-woman nennen.
Heute nachmittag die zwei Stunden im Garten! Ich habe mir schon beinahe ein Anrecht auf diese Sonntagnachmittagstunden erworben, das nun leider das Spätherbstwetter nicht mehr voll gelten lassen will. Aber heute war es wunderlieblich. Der mildeste Sonnenschein fiel durch die schon halb kahlen Bäume, von denen manchmal ein todmüdes Blatt lautlos zu den anderen auf den Boden herabschwebte. Aus den hohen Fichten, die als Grenzwächter zwischen dem Direktorgarten und dem gräflichen Park stehen, sang eine Schwarzdrossel. Die süßen, langgezogenen Töne störten unser Gespräch nicht; aber auch nicht der gelegentliche Jubel der auf dem Rasen spielenden Kinder: des sechsjährigen braunäugigen Wolfgang und der fünfjährigen Erna, die ihrer Mutter geistvolle graublaue Augen hat und mein Liebling ist. Auch Baby that es nicht, die in ihrem Wiegewagen den beneidenswert tiefsten Schlaf schlief; auch Hanka nicht, das hübsche polnische Kindermädchen, das keine hundert Wörter deutsch versteht und von dem, was wir sprachen, kaum eines verstanden hätte.
Von dem, was wir sprachen! Was war es doch nur? Nun ja, daß ich schreiben soll – was ich hiermit gehorsamst thue – und – es ist sträflich, wie wenig ich eigentlich von dem behalte, was sie sagt. Der Grund, glaube ich, ist, weil sie es so gut, so sehr gut sagt. Es ist bewunderungswert; und in der Bewunderung der schönen Form achte ich nicht, wie ich sollte, auf den tiefen Gehalt. Es kommt gar nicht vor, daß sie, wie wir anderen Menschen, nach einem Worte suchte; und so klingt, vielmehr ist denn alles so ungesucht, erscheint so selbstverständlich, als ob es gar nicht anders sein könnte. Wenn sie vielleicht ein wenig weniger schnell spräche! Es wird mir manchmal schwer zu folgen. Aber dann ist wieder der Klang ihrer Stimme so sympathisch! Seltsam! Und sie schreibt eine so schwere, ungefüge, fast kindische Hand, ganz das Gegenteil von den klaren, sicheren, wie hingezauberten Schriftzügen einer anderen Hand, die –
Liebes, sogenanntes Tagebuch, so vertraut bin ich mit dir in dieser kurzen Stunde noch nicht geworden, daß ich dir alles sagen könnte. Später vielleicht, wenn wir erst besser miteinander bekannt sind, und mir nicht, wie jetzt, in dem Moment, wo ich an sie denke, das Herz in der Brust bleiern schwer wird –
Da fällt mir doch noch eines ihrer Worte ein. Wir sprachen – vielmehr sie sprach über unsere moderne Literatur. Es ist seltsam, sagte sie, früher rühmten sich die Dichter, von der Muse auserwählt zu sein, und nannten sich Bewohner des Parnaß. Heute schlagen unsere jungen Leute vor dem bloßen Verdacht, sie möchten sich so himmlischer Gnade rühmen, drei große Kreuze; sagen, – leider nicht im Sinne des Béranger'schen Chanson, der auch der meine ist: – Je suis vilain et très-vilain, und sind stolz, wenn die Wissenschaft sie als bescheidene Helfershelfer gelten läßt. Wollen sie denn lieber dienen als herrschen, ist das ihre Sache. Aber sägen die Herren so eifrig an dem Ast, auf dem sie sitzen, dürfen sie sich freilich nicht wundern, wenn der Ast bricht und sie, in den Augen aller Verständigen wenigstens, tiefer fallen, als ihre Philosophie sich träumen läßt. (NB. Ich habe noch nichts von Beranger gelesen und muß sie gelegentlich um die »Chansons« bitten.) –
Nein, in der Gesellschaft der besten der Frauen bin ich wirklich nicht einsam; aber, als ich später bis zum Einbruch der Nacht durch die Umgegend streifte – ja, da ist mir der Titel zu meinem Tagebuch gekommen. Außer den Rehen, die auf den Stoppelfeldern standen und aus sicherer Entfernung den Wanderer ruhig betrachteten, ein paar Hasen, die ich gelegentlich aus der Ackerfurche aufstieß, den Krähen, die um die Ruine des Burgbergs krächzten und flatterten – kein lebendes Wesen weit und breit. Der Burgberg ist derselbe, den wir an dem Nachmittage ihres Namensfestes zu Wagen besuchten, und den ich, weil ich ihn nicht gut vermeiden kann, in den Bereich meiner Spaziergänge gezogen habe. In den Park, trotzdem er unmittelbar hinter unserem »alten Schloß« beginnt, habe ich noch keinen Fuß gesetzt. Neulich habe ich zum erstenmale das »neue Schloß« wieder gesehen. Ich kam aus einer Richtung, wo ich die Wege noch nicht kannte, und da lag es plötzlich über die Wiesen weg von der Terrassenseite im vollen Abendschein. Mir war, als wenn die Wunde an meiner Schläfe wieder aufbräche, im Herzen fühlte ich wie einen Stich und ich wandte schnell die Augen weg. Wenn die Bäume erst völlig kahl sind, werde ich den Anblick auch von uns aus nicht mehr ganz vermeiden können. Vielleicht bin ich bis dahin zur Vernunft gekommen.
Auch den Wald betrete ich freiwillig nicht. Er soll als eine breite Mauer zwischen meiner Gegenwart und der Vergangenheit liegen. Freilich dem guten Anders werde ich doch die zwei Besuche, die er mir im Laufe der Zeit hier bereits gemacht hat, erwidern müssen; aber dann soll es auf der Chaussee geschehen, die ich sonst verabscheue. »Q'y a-t-il de plus beau qu'un chemin?« sagt George Sand in »Consuelo«. Dabei hat sie sicher nicht an eine Chaussee gedacht; und wenn sie unsere gekannt hätte mit den traurigen Pappeln und der noch traurigeren Staffage der Einspänner, an deren überlanger Deichsel der abgetriebene Gaul trottet, während der Bauer betrunken auf seinem Sitze nickt; und der armen Männer, Burschen und Weiber, die zur Arbeit gehen, oder von der Arbeit kommen und ihr Schuhzeug – wenn sie welches haben – um es zu schonen, in der Hand tragen – beim Himmel, sie hätte gesagt: Q'y a-t-il de plus laid!
Ja, ich habe niemand drüben als den alten Freund, der die Trennung von seinem geliebten Kinde mit dem Stoicismus eines Cato trägt. Und wen hätte ich hier? Sie freilich, die einzige Frau, und die süßen Kinder. Aber sonst? Menschen freilich genug. Und mein oberster Chef – doch das ist ein langes, schwieriges Kapitel, dem ich mich heute nacht nicht mehr gewachsen fühle. Da will ich lieber – es kommt ja nicht darauf an, was ich schreibe, sagt sie! – das Gedicht endlich zu Papier bringen, das in dem schrecklichen Augenblick geboren wurde, als sie mir mit so kühlen Worten ihre Verlobung meldete:
Da stehst du nun an deiner Liebe Grabe!
O Gott, was ist da alles mitgebettet!
Von deines Herzens übervoller Habe
Für deine Zukunft hast du nichts gerettet.
Sie starrt dich an mit grassen, hohlen Blicken:
Was suchst du weiter noch auf dieser Erden?
Für ihn, der einst so reich, will sich's nicht schicken,
So kläglich arm, so bettelarm zu werden.
Ja, hättest du ein Königreich verloren,
Dir blieben doch der Wahlstatt Schranken offen;
Hätt'st Schwert und Lanze, Roß und gold'ne Sporen,
Und wer noch kämpfen kann, der darf noch hoffen.
Wie aber willst du dir zurückerjagen
Das Herz, das sich von deinem hat gewendet?
Hier gilt's nichts mehr zu wetten und zu wagen;
Der Vorhang fiel; das Stück, es ist beendet.
So schleich' denn still hinweg in deine Kammer;
Da rinn' dir von der Wange Thrän' um Thräne,
Doch besser tausendmal: erwürg' den Jammer
Und klemm' zusammen deine starken Zähne.
O, glaube dies mir: der hat überwunden,
Der gänzlich Schiffbruch litt mit seinem Herzen;
Ihn äffen nicht mehr liebesel'ge Stunden,
Ihn foltern nicht mehr todesbitt're Schmerzen,
Noch gestern Sklav', heut' ist er Herr geworden,
Und hoch darf er das Haupt, das stolze, tragen,
Der Ärmsten spottend, die im Narrenorden
Als Schächer an das Kreuz sich lassen schlagen.
Der Wächter pfeift die Mitternachtsstunde ab. Es klingt genau so wie das Geschrei eines großen Kauz. Im Anfang hielt ich es auch dafür: warum sollten um das graue Gemäuer nicht die Käuze schreien? Man sagte mir, es sei der Wächter. Ich glaubte es nicht, bis ich ihn selber sah. Da war die Sache denn freilich klar: er sieht einem alten, vermauserten Schuhu zum Verwechseln ähnlich.
Ist das ein Wetter heute nacht! Um meinen Turm heult der Sturm wie ein hungriges Raubtier; die mächtigen Fichten vor dem Fenster stöhnen und knarren, als sei ihre letzte Stunde gekommen. Mit den schönen Sonntagnachmittagsstunden ist es definitiv zu Ende. Wie lieb von ihr, mich dafür heute zum Kaffee einzuladen! Es war in demselben behaglichen Raum, in welchem ich an jenem Abend mein Märchen erzählte. Sie hat es wirklich halb auswendig behalten, während ich es aus dem Gedächtnis nicht mehr reproduzieren könnte. Ich sagte ihr, daß Komtesse Sibylle den »praktischen« Schluß vorzöge, wo Hubert, als Maiennacht ihm entschwunden ist, zum Eremiten geht, selber Eremit wird und noch viele, viele Jahre im Dienst der Armen und Elenden verbringt. »Das ist gewiß auch ein schöner Gedanke und ganz im Geiste der frommen jungen Dame;« sagte sie, »aber so poetisch wie der andere, wo dem jungen Jäger nach dem Tode der Geliebten das Herz bricht, ist er nicht. Die Poesie soll eben logischer sein, als das Leben, und was in der Wirklichkeit sich zerfasert, zu einem straffen Knoten zusammenschürzen. Die Wirklichkeit kann nicht konsequent sein, wenn sie sich erhalten soll; die Poesie muß es sein und erhält sich nur dadurch.«
Dann kamen wir auf Béranger zu sprechen, in dessen »Chansons« ich seitdem fleißig gelesen hatte, und natürlich auch auf das Gedicht, dessen Refrain ist: »Je suis vilain, vilain, vilain.« Es ist die Antwort des Dichters auf die hämische Bemerkung seiner Feinde, daß er, der liberale Sänger, doch ein ›de‹ vor seinem Namen habe:
»Eh quoi! j'apprends que l'on critique
Le ›de‹ qui précède mon nom.
Etes-vous de noblesse antique?
Moi, noble? oh, vraiment, messieurs, non –«
Er will nichts mit dieser Sorte Noblesse zu schaffen haben: »J'honore une race commune –«
Ich sagte, ich möchte nur deshalb ein Von vor meinem Namen haben, um es ironisieren zu können, wie Béranger hier sein de, und mochte dabei wohl etwas eifrig geworden sein. Denn sie lächelte ein paarmal und sagte endlich: alles ganz schön und gut und schließt doch nicht aus, daß Sie, wie alle Dichter, ein geborener Aristokrat sind. – Ich wollte erwidern, es würde darauf ankommen, was sie unter Aristokrat verstehe, kam aber nicht mehr dazu. Der Chef trat herein und das Gespräch nahm eine andere Wendung. Ich empfahl mich auch bald. Ich muß im Gebrauch der Freiheit, die man mir gewährt, vorsichtig sein.
Nein! Dies Wetter! Nun klatscht auch noch der Regen gegen die Scheiben, jedenfalls nur, um mir das Gefühl der Sicherheit und Wohligkeit hier in meinem Turmgemach zu erhöhen.
Und das alles verdanke ich ihr! Sie ist so gut wie sie klug ist, und das will wahrhaftig etwas sagen. Wie hat sie es verstanden, mir hier eine Position zu schaffen, die ganz meinen Wünschen entspricht. Es ging mir doch sehr gegen den Strich – ich fürchte, die Phrase zeichnet sich nicht durch Eleganz aus – wie könnte man es sonst ausdrücken? Es wurmte mich doch? – Das ist häßlich! – Es wollte mir doch gar nicht gefallen? – Das ist matt! – Lassen wir es also – daß ich, wenn ich in eines der Bureaus kam, in den Dienst des Grafen trat. Aber ich sagte nichts; wie hätte ich auch in meiner Lage Bedingungen stellen dürfen! Sie hat es ohne dies herausgefühlt, und ich bin nicht Schreiber in einem gräflichen Bureau, sondern Privatsekretär des Oberdirektors; arbeite auf seinem Privatbureau, werde aus seiner Tasche bezahlt, habe ein Zimmer in seiner Wohnung, über deren Räume er, wenn es auch eine Dienstwohnung ist, selbstverständlich frei verfügen kann. Meine Mahlzeiten nehme ich in dem Wirtshaus, und das ist wiederum weise von ihr geordnet. Es wird so wenigstens der Schein einer gewissen Unabhängigkeit gewahrt, der verloren ginge, wenn sie mich, wie ihre Dienerschaft, im Hause verköstigte. Unter Marthes Regime war das anders. Da war ich Gleicher unter Gleichen und konnte mit der Familie an demselben Tisch aus derselben Schüssel essen –
Wie mir bei jeder Gelegenheit der Vergleich zwischen Frau Eva – ich darf sie ja wohl in der Verschwiegenheit meines Tagebuches so nennen? – und Marthe kommt! Es ist freilich nicht zum Verwundern. Gleichen sie sich doch in dieser Beziehung völlig: in der selbstlosen Güte, mit der sie sich des von aller Welt Verlassenen angenommen haben, daß die liebevollste, treueste Schwester es nicht besser vermöchte. Und wie ähneln sie sich in so vielem anderen! nur daß bei Frau Eve, wie es ja nicht anders sein kann, alles um ein paar Töne höher und feiner gestimmt ist, ungefähr so, wie die beiden Kinder verschieden sind auf dem Stahlstiche nach einem niederländischen Bilde, den ich neulich in einem ihrer Albums sah, und der ein kleines Prinzeßchen, oder dergleichen, und ihr Milchschwesterchen vorstellt. Auch spricht sie von Marthe, die, wie es scheint, ihr von Zeit zu Zeit schreibt, mit unbedingter Achtung. Mir hat Marthe noch kein einziges Mal geschrieben. Ich weiß nicht, warum nicht.
Nun aber wird's doch fast zu toll. Das Wasser bleibt schon nicht mehr draußen; es hat, wie es scheint, auf dem breiten Fensterbrett einen stattlichen See gebildet, aus dem jetzt eine Kaskade plätschernd auf die Dielen fällt. Wenn es noch der Trockenheit meines Tagebuches Abhilfe schaffte!
Ob ich wohl dem Chef eine persona grata bin, oder er mich nur duldet, weil sie es wünscht? Ein hohe Meinung hat er von mir nicht – das ist sicher, und ich wäre der letzte, ihm das zu verübeln. So viel Mühe ich mir auch gebe, meine Sache gut zu machen: wie sorgfältig ich auch seine Konzepte mundiere, seine Brouillons ausarbeite, wie schnell und sicher ich auch nach seinem Diktat schreibe – es sind das, lieber Oktavio, erstens keine Heldenstücke, und zweitens hat der Mann längst heraus, daß er trotzdem mit mir schon bis an die Grenze meiner Leistungsfähigkeit gekommen ist, oder, es anders auszudrücken, daß ich ein Dummkopf bin. Ich muß es in seinen Augen sein, der offenbar ein praktisches Talent allerersten Ranges, meinetwegen ein Genie ist. Wenn ich sehe, was der Mann alles in seinem Kopfe hat, befällt mich ein Schwindel. Ich glaube, da ist kein abgelegenstes Gebiet menschlicher technischer Thätigkeit, das er nicht nach allen Richtungen durchmessen hat. Handelt es sich um Kohle, Stahl, Eisen, Cellulose, Gold, Kupfer, Linnen, Baumwolle, – er kennt jede Industrie, jede Methode der Herstellung, Gewinnung, als hätte er sein Leben lang in der betreffenden Branche und nur in ihr gearbeitet. Als Frau Eve mir sagte, daß er mich in unserer Fabrik gesehen, schien mir das verwunderlich, jetzt nicht mehr. Er sieht eben einfach alles. Ich weiß es, seitdem ich bereits mehrmals das etwas ängstliche Vergnügen gehabt, ihn auf seinen Inspektionsfahrten begleiten zu dürfen. Der Himmel weiß, welche Mühe ich mir in diesen zwei Jahren gegeben, hinter die Geheimnisse der Cellulose- und Papierfabrikation zu kommen, um am letzten Tage von den sieben Siegeln des verschlossenen Buches kaum den einen ein wenig gelöst zu haben. Was da in den Stahlhämmern, den Kohlenwerken u. s. w. vorgeht, ist wahrlich nicht minder kraus – er liest es herunter wie ein A-B-C-Buch. Er kennt jede Maschine, als habe er sie selbst gemacht. Chemie, Statik, Physik und wie die unheimlichen Wissenschaften sonst heißen – er ist in ihre schwärzesten Tiefen eingedrungen und steckt den Herren vom Fach, welche die Sache doch eigentlich besser wissen müßten, oft Lichter auf, die ihnen in die Augen beißen. So ist er denn auch von seinen Beamten wohl mehr gefürchtet, als geliebt, obgleich ich ihn nie heftig, kaum unfreundlich gesehen habe, und überzeugt bin, daß er einer Ungerechtigkeit völlig unfähig ist. Es kommt ihm überall nur auf die Sache an; aber, sagt Frau Eve, gerade das ist in den Augen so vieler Menschen eine Todsünde.
Da wäre ich denn glücklich wieder bei ihr angelangt: der Lieben, Guten, Klugen, die ich wohl auch die Schöne nennen würde, wenn mein Schönheitsideal nicht ein für allemal fest stände. Ja, ein für allemal, obgleich sein irdisches Abbild, zu dem ich so lange anbetend aufgeblickt, von dem Piedestal herabgestürzt ist und in Trümmern auf dem Boden liegt.
Die Lampe findet, daß sie für heute abend ihren Dienst gethan hat. Gute Nacht denn! Wem? Wer fragt danach, ob ihm der Einsame gute Nacht wünscht!
*
Ich habe ihr das Gedicht vorgelesen; ich war in der rechten Stimmung: den Tag vorher war ihre Vermählungsanzeige eingetroffen, adressiert an den Chef, mit dem Baron Schönau in geschäftlicher Verbindung gestanden hat, oder noch steht. Da sie weiß, wo ich jetzt bin – ich hatte es ihr geschrieben, als ich ihr im Herbst in ein paar Zeilen zu ihrer Verlobung gratulierte – galt die Adresse vielleicht auch mir. Jedenfalls habe ich keine Anzeige bekommen. Das verlohnte sich nicht der Mühe!
Die Vermählung hat wirklich in England stattgefunden, wo das junge Paar auch einen Teil des Winters bei nahen Verwandten des Barons auf dem Lande zubringen will. Im ersten Frühjahr gehen sie nach Italien. So hat mir Frau Eve aus einem Briefe der Frau Dr. Eberhard vorgelesen. – Sie ist jetzt beinahe siebzehn. Wie schön sie gewesen sein mag – –
Als ich das Gedicht vorlas, zitterte meine Stimme, und ich kam mir mit einem Male recht albern vor, als ich dann aufblickte und ihre klugen Augen mit einem so ernsten Ausdruck auf mir ruhen sah. Ich hatte das Gefühl, daß diese Augen mir bis auf den tiefsten Grund der Seele blickten. Auch hat mich dies Gefühl gewiß nicht betrogen, wenngleich die herrliche Frau alles, was sie dann sagte, in Ausdrücken und Wendungen vorbrachte, die in keinem Worte persönlich waren und deren tieferen Sinn ich doch, wenn ich Ohren zu hören hatte, wohl verstehen konnte.
Zuerst fand sie das Gedicht, obgleich einzelnes zu loben sei, im ganzen nicht gut: die Empfindung, die der Dichter schildern wolle, sei noch nicht hinreichend abgeklärt, habe einen Stich ins Pathologische, der den feineren Hörer verletze. Der Dichter, und besonders der lyrische, müsse immer Schillers Wort im Auge behalten, daß die Hand, die von Leidenschaft zittert, die Leidenschaft nicht schildern solle, weil künstlerisch nicht schildern könne; und in jungen Dichterseelen nehme die Wärme, mit der sie ihr – ihnen sonst gemütlich gleichgültiges – Thema erfaßten, oft einen Hitzegrad an, der der wirklich gefühlten Leidenschaft gleich zu erachten sei und dieselben poetisch üblen Folgen habe. Ich dachte, wie das zu Franzens Wort im Götz stimme: jetzt wisse er, was den Dichter mache: »ein ganz von einer Empfindung volles Herz« – war aber klug genug, zu schweigen. Sie aber wußte sicher, wovon mein Herz voll war, und, wenn mein Mund auch davon nicht übergehen durfte, es mir eine Wohlthat sei, von ihr reden zu hören. So redete sie denn von ihr – ach, so süß! – ich hätte jauchzen und weinen mögen zu gleicher Zeit! Sie habe nie ein anmutigeres Geschöpf gesehen und würde den Mann, der so vielem Zauber widerstehen könne, kaum für einen Mann halten. Da sei es denn freilich begreiflich, daß der jungen Schönheit die ganze Männerwelt zu Füßen gelegen habe und vermutlich weiter liegen werde. Und sie habe wohl daran gethan, so früh zu heiraten, um der Gefahr zu entgehen, in dem Huldigungstaumel, der sie umschwärmt, ihre Empfindungen zu zersplittern und ihr Herz abzustumpfen. Auch müsse sie aus gewissen Andeutungen in den Briefen der Frau Dr. Eberhard schließen, daß sie, indem sie das gräfliche Haus verließ, einen Beweis ihres Taktes und ihrer Ehrlichkeit geliefert habe. Sie hätte, wie es scheint, nicht länger bleiben können, ohne die Zwietracht, die so schon in der Familie herrsche, noch höher zu schüren, vielleicht eine Katastrophe heraufzubeschwören. Möge der Himmel geben, daß diese Bedenken und Rücksichten nicht für sie allein maßgebend gewesen seien! Wenn sie bedächte, wie tief Baron Schönau in intellektueller Beziehung unter ihr stehe, so könne es fast den Anschein gewinnen. Dann dürfe man aber auch wieder nicht vergessen, wie kapriciös die Neigungen gerade hochbegabter Frauen seien, und es wäre ungerecht, Baron Schönau nicht eine Reihe löblicher Eigenschaften zuzubilligen. Er sei, trotzdem er ein Lebemann gewesen, wie andere seines Standes, eines ehrlichen Attachement wohl fähig, wirklich harmlos, im hohen Grade gutmütig – mit einem Worte zum Gatten eines schönen, mit Recht anspruchsvollen und – wie denn das zu sein pflege – etwas selbstherrlichen, nicht leicht traitablen Wesens ganz geeignet. Sie habe nur eine Sorge: er wisse nicht mit Geld umzugehen, das er nach dem frühen Tode seiner Eltern unter der Leitung, vielmehr Mißleitung eines mehr als nachsichtigen Vormundes immer vollauf gehabt habe. Hoffentlich werde die junge Frau da ein Einsehen haben, das jedenfalls not thue. Die drei Schönauschen Güter repräsentierten ein stattliches Vermögen, aber seien bereits mit einigen schweren Hypotheken belastet, und dergleichen Lasten hätten die leidige Natur der Schwämme im Wasser. Sie brauche mir wohl nicht zu sagen, daß sie ihre Wissenschaft, wie alles, was den Weltlauf angehe, ihrem Gatten verdanke.
Wie mich diese Mitteilungen aufgeregt hatten! Ich bin hernach durch die abendlichen Felder geschweift, ohne einen Gedanken festhalten zu können, ziellos, bis ich mich endlich auf dem Burgberg fand. Da – im Licht der Sterne, die aus dem schwarzen Himmel machtvoll herabfunkelten – habe ich mich auf die Knie geworfen und dem Mund, der mir heilig ist, aus tiefster Seele gedankt, daß er sie so brav, wie schön genannt hat; und zu den Mächten, die Gewalt über uns haben, gefleht, sie möchten an ihr das bittere Herzeleid, das sie mir angethan, nicht heimsuchen und sie glücklich machen, glücklich – glücklich –
Freilich, als ich dann wieder hier in meinem engen Zimmer war und die hohen Sterne mir nicht mehr leuchteten, der Nachtwind nicht mehr auf feierlichen Schwingen über die weiten Flächen herangerauscht kam – da wurde es wieder dunkel in mir und mein Herz krampfte sich zusammen in bitterem Groll. Was hat der Mann vor mir voraus? seine paar Lebensjahre, und daß er Baron ist und drei Rittergüter sein nennt,– Dinge, die des Zufalls sinnlose Hand ausstreut, wie der Wind den Tannensamen. In jeder anderen Eigenschaft, in der Herz und Geist mitsprechen – und meinetwegen auch die Sehnen und Muskeln – will ich es mit ihm wagen. Und ich habe sie geliebt seit meiner frühesten Knabenzeit; ich habe Jahre und jahrelang nur für sie, nur ihr zu Gefallen gelebt; für sie Leiden erduldet, die meine Jugend und Jugendlust versehrt haben, wie Mehltau die frischen Blüten! Und sie wird mit dem Manne nicht glücklich werden – es ist unmöglich, wenn es auch kein böser Ogreprinz ist, sondern ein gutherziger Dutzendkavalier. Kind dieser Welt, wie sie scheint, sie kann wohl ihre Feennatur verleugnen, nicht sich von ihr lösen. Und der Tag wird kommen, wo sie sie nicht länger wird verleugnen wollen und dann – armer gutherziger Dutzendkavalier! Dann wirst du heulend wünschen, du hättest dir dein Weib gesucht unter den Töchtern deinesgleichen, denen nicht im Traum danach verlangt, tanzen zu wollen in den Lüften mit ihren Gespielinnen beim Schein des Mondes in der Maiennacht.
Ich fange an zu fühlen, daß die Hand, die von Leidenschaft zittert, nicht nur keine guten Verse schreiben kann, sondern auch keine gute Prosa. Und am Ende kommt es doch auch ein wenig darauf an, wie wir schreiben. Auf jeden Fall ist es für heute nacht genug.
*
Vergangenen Sonntag brachte mich ein glücklicherweise schnell Vergangenes Unwohlsein Babys um meine Nachmittagsstunde bei ihr. Ich benutzte die frei gewordene Zeit, meinem lieben Anders den längst schuldigen Besuch abzustatten. Die Wahl des einzuschlagenden Weges war nicht länger von meiner Empfindung abhängig; ich mußte die Chaussee nehmen; im Walde lag der Schnee zu tief. Auch die Chaussee war kaum gangbar, trotzdem hier und da ein Dutzend Leute thaten, als ob sie die Passage frei machen wollten, und ein kupfernasiger Landgendarm auf einem mageren Klepper sich eine besonders böse Stelle nachdenklich betrachtete. – Mein altes Dorf sah in dem trüben Nachmittagslicht mit seinen halb im Schnee begrabenen Hütten unsäglich traurig aus, und der Aufenthalt in des alten Freundes freudlosem Hause war wahrhaftig nicht geeignet, mich heiterer zu stimmen. Sie hatten mich erwartet, und wir tranken zusammen Kaffee: Anders, Albinka und ich, während die Jungen in der Kammer neben der Wohnstube ein etwas geräuschvolles Wesen trieben. Anders rauchte seine Pfeife; Albinka strickte an einem Strumpf – jedenfalls mir zu beweisen, daß sie jetzt ein häusliches Weib sei. Die Unterhaltung schlich mühsam dahin. Ich konnte es nicht verhindern, daß die Rede auf den bösen Zufall kam, der mich um den freien Gebrauch meiner Hand brachte, die ich vorzeigen mußte: ob keine Aussicht sei, daß die beiden zusammengekrümmten Finger wieder gebrauchsfähig würden? ob ich noch manchmal Schmerzen verspüre? u. s. w. Die arme Albinka that mir leid; sie wurde abwechselnd blaß und rot. Endlich konnte sie es nicht mehr aushalten und verließ unter irgend einem gemurmelten Vorwande das Zimmer. Ich weiß nicht, was mit ihr ist, sagte Anders. Sie hat sich ganz verändert, will nicht mehr tanzen, kaum, daß sie einmal aus dem Hause geht. – Albinka kam wieder herein; ich fragte nach Marthe. Sie ist mit Dr. Eberhard aus dem kleineren Hospital, in welchem sie anfänglich war, nach der Charité übergesiedelt, es geht ihr gut; aber sie schreibt selten und immer ganz kurz: sie habe keine Zeit zum Schreiben.
Endlich durfte ich wieder aufbrechen; Anders begleitete mich noch ein Stück des Weges in den dunkelnden Abend hinein. Natürlich wurden unsere alten Themata wieder durchsprochen. Es ist rührend, wie fest der Mann in seinem Glauben an die allein seligmachende Kraft der socialdemokratischen Lehre steht. Und in dem einen hat er ja zweifellos recht: unsere herrschende Wirtschaft ist ohnmächtig gegenüber dem immer massenhafter auftretenden Elend der breiten unteren und untersten Schichten des Volkes. Ihre Anhänger bekennen sich ja auch zu dieser Ohnmacht, wenn sie einräumen, daß dieses Elend ein für allemal eine gesellschaftliche Notwendigkeit und nicht auszurotten, im besten Falle abzuschwächen und abzulindern sei. – Und die wenigstens diese Konzession machten, seien noch die besten, meinte Anders; die anderen lebten gedankenlos in den Tag hinein und ließen den lieben Gott sorgen; und dann gäbe es ganz schlechte, die ordentlich ihre Freude daran zu haben schienen, wenn sie den Armen noch tiefer in sein Elend stießen. Zu denen gehöre unser Graf. Bis vor kurzer Zeit hätten von alters her die notorisch Armen die Vergünstigung gehabt, die Bretter zu den Särgen ihrer Verstorbenen von den Förstereien unentgeltlich geliefert zu erhalten; jetzt habe der Graf dekretiert, daß davon in Zukunft Abstand genommen werden solle. – Ich konnte Anders sagen, daß der Oberdirektor auf das energischste gegen diese barbarische Knickerei, leider vergeblich, remonstriert habe. Ich hätte das betreffende Schreiben selbst mundiert. – Ich glaube es schon, sagte Anders; aber siehst Du, das ist es eben: auch die Besseren, zu denen der Oberdirektor gewiß gehört, sie haben keine Macht und können keine haben, so lange sie sich nicht entschließen, das Übel an der Wurzel anzufassen, das heißt: ihre ganze Gesellschafts- und Wirtschafts-Theorie und -Praxis über Bord zu werfen. Und davon ist der Herr Oberdirektor schließlich so weit entfernt, wie der Herr Graf selbst.
Wollte Gott, ich hätte dem guten Anders unrecht geben können. Ich konnte es nicht.
Ich kam sehr traurig nach Hause.
*
Ich kann die Erinnerung an den Nachmittag bei Anders nicht aus dem Gedächtnis bringen. Wie grenzenlos häßlich war das kahle Zimmer! wie dumpfig die Luft! Es war nur eine Stunde, die ich da zubrachte, und ich habe zwei Jahre und darüber dort verlebt! Wenn ich daran denke, komme ich mir vor wie der Reiter über den Bodensee. Sollte sie doch recht haben, wenn sie mich einen Kryptoaristokraten nennt? Nun ja, ich habe einen instinktiven Abscheu gegen alles Häßliche. Aber ist das Aristokracismus? In einem gewissen Sinne vielleicht, in dem höheren und höchsten gewiß nicht. In höherem und höchsten Sinne ist Vater Anders ein tausendmal besserer Aristokrat als unser Graf, obgleich er gelassen durch eine Pfütze geht, wenn er sich damit einen Umweg erspart, und es mit dem Wechsel seiner Leibwäsche nicht allzu genau nimmt. Es giebt eben physische, meinetwegen ästhetische Häßlichkeiten und moralische. Im gewöhnlichen Verstande billigt man nur dem aristokratische Neigungen, oder Gesinnungen zu, der einen Widerwillen gegen die ersteren hat, mag er die letzteren auf eine noch so leichte Achsel nehmen. Aber Goethe läßt seinen Orestes sagen: »Und habe die Sonne nicht zu lieb und nicht die Sterne, komm, folge mir ins dunkle Reich der Schatten!« Freilich haben Goethe und sein Griechenprinz dabei schwerlich an die Schatten gedacht, die über ihrem dunklen Reich in den Hütten der Armen und Elenden drohend schweben.
*
Wenn es so fortgeht, wirst du, liebes Tagebuch, weder dick werden, noch ein hohes Alter erreichen. Die letzte Aufzeichnung ist von Ende November und jetzt schreiben wir Ende Februar. Aber ich mußte wirklich meine freien Stunden zusammenhalten; ich habe zu viel nachzuholen. Ich kam dahinter, als sie mich um die grammatische Erklärung einer Stelle im Tacitus fragte, und ich ihr die Antwort schuldig bleiben mußte, mich jedenfalls nicht mit vollen Ehren aus der Affaire zog. Ich habe mich fürchterlich geschämt, obgleich sie mich liebreich damit zu trösten suchte, daß eine Cellulosefabrik schließlich kein lateinisches Gymnasium sei. Und mit dem Lateinischen geht es noch, nachdem ich jetzt die alten Freunde wieder vorgenommen habe; aber die Lücken im Griechischen werden wohl so weiter und weiter klaffen. Vater Homer ist mir noch immer gnädig und soll und wird es bleiben; die Tragiker e tutti quanti müssen sich als Ersatzmänner gute Übersetzungen gefallen lassen. Es ist ein großer Trost für mich, daß es Goethe und Schiller nicht besser ergangen ist; und ein noch viel größerer, daß sie sich durchaus damit einverstanden erklärt und mich dringend ermahnt, in meinen Studien stets des Wortes von Benjamin Franklin eingedenk zu sein, und »meine Pfeife nicht zu teuer zu kaufen«.
*
Nun ist der Frühling wieder da in all seiner Pracht und – sie schon seit zwei Wochen in Italien! Welch ein seltsam elend Ding ist doch das menschliche Herz! Als die liebe Frau mir das heute aus einem Briefe der Frau Dr. Eberhard mitteilte, nun ja! es stieg ein dumpfes Wehgefühl in meiner Brust auf, und die Augen wurden mir heiß. Aber es ging doch schnell vorüber, wie die Schmerzen, die ich manchmal noch in meiner Hand spüre, wenn das Wetter umschlägt. In Italien! mein Gott, ich denke noch daran, wenn der gute Pfarrer in der Geographiestunde, die er uns gemeinsam gab, von Italien erzählte: dem Monte Pincio, von dem man über die ewige Stadt wegsieht bis zu St. Peter; dem Forum, dem Kolosseum, der Via Appia, die durch die braune Campagna, vorüber an zerfallenen Grabmälern und den Ruinen stolzer Aquädukten, zu den blauen Albanerbergen führt; dem lachenden Neapel mit dem Vesuv, von dessen Spitze ein Rauchwölkchen flattert; der schimmernden Kette der Städte und Städtchen, die sich um den Golf schlingt; von einem Orte, hoch oben auf dem Vorgebirge, den er, glaube ich, Scaricatojo nannte, wie da die beiden Golfe von Neapel und Amalfi mit ihren ragenden Felseninseln: Capri, Ischia, Procida, zugleich vor den trunkenen Blicken des Beschauers liegen – und ich, wenn der gute Mann so begeistert sprach, nur in ihre Augen sah, die immer größer und glänzender wurden, während die roten Lippen sich öffneten und die feinen Nasenflügel zuckten, als wollte sie den Duft der Rosen einatmen, die an den weißen Mauern hinaufklettern, und der Goldorangen, die durch das dunkle Laub der Gärten schimmern – es war mein höchster Traum, all die Herrlichkeiten auch einmal in meinem Leben zu sehen – nicht allein! – mit ihr, die ja von allem Guten, was mir wurde, das Beste hatte – und jetzt! und jetzt! Jetzt ist sie in dem Lande meiner Sehnsucht – nicht mit mir! Mit dem, den ich hasse!
Thörichter Knabe, der ich bin! Da setze ich mich hin, mir zu beweisen, daß ich ruhig an sie denken, mich brüderlich ihres Glückes freuen kann; zu den Glücklichen gehöre, die, was einmal nicht zu ändern ist, vergessen, und schreibe mich in eine Aufregung hinein, die mir von alledem das Gegenteil beweist!
Was würde Frau Eve sagen, wenn sie mich so sähe? Mich schelten? Dazu ist sie zu gut, zu mitleidsvoll. Aber mir vielleicht raten, endlich das Gedicht fertig zu machen, mit dem ich ihr zeigen wollte, daß ich das Thema der verratenen und verschmähten Liebe auch mit einer Hand behandeln könne, »die nicht von Leidenschaft zittert«! Ich will's versuchen, obgleich – ach was! es sieht mir ja niemand über die Schulter!
Ein alt-neu Lied.
Und scheint die Sonne noch so schön –
Kennst du die alte Weise? –
Am Ende muß sie untergeh'n,
Verklingt sie trüb' und leise.
Am Ende muß sie untergeh'n
Mit ihrem Glanz und Schimmer;
Du wirst sie niemals wiederseh'n,
Und dunkel ist's für immer.
O, du kleingläubig Menschenkind,
Du brauchst nicht zu verzagen:
Mit Morgenstern und Morgenwind
Wird es dir wieder tagen.
Die Sonne dort am Himmelszelt,
Sie hat kein' Treu versprochen,
Und doch, so lange steht die Welt,
Die Treue nicht gebrochen. –
Ist es nicht mehr das alte Lied,
Ist's doch die alte Weise,
Die weiter so durchs Herz mir zieht,
Verklingend trüb' und leise:
Und scheint die Sonne noch so schön
Der Liebe dir im Herzen,
Am Ende muß sie untergeh'n
In Thränen und in Schmerzen.
*
Das war eine Reihe trüber Wochen! Wolfgang und mein Liebling Erna so krank am Scharlach, daß wieder und wieder das Schlimmste zu befürchten stand! Der Chef gerade jetzt übermäßig von seinem Dienst in Anspruch genommen, gezwungen, die todkranken Kinder tagelang – einmal die volle Woche hindurch – zu verlassen, sie allein in den schweren Sorgen, der gräßlichen Not! Welch heroische Frau! Mochte die Angst sie innerlich verzehren – nicht einen Augenblick habe ich sie ihre Fassung, ihre Ruhe verlieren sehen – der stoische Römer, der unerschrocken den Einsturz des Weltalls über sich ergehen lassen will, hätte von ihr lernen können. Ich habe geholfen, wo und wie ich konnte; aber wie wenig war es! Und doch war sie mir für das Wenige so dankbar! In der einen Schreckensnacht, die die Kleine nicht überleben zu sollen schien, ich nach der Stadt gefahren war, den Arzt zu holen, er uns wieder verlassen hatte mit einem Trostwort, das ihm sehr unsicher von den Lippen kam – wir saßen uns an dem Bettchen gegenüber, sie mit dem Gesicht nach dem Fenster, durch das der Morgen hereingraute – es war totenbleich, das liebe Gesicht, und so feierlich still, als sei alles Irdische daraus entwichen, und blicke nun so hervor aus einem Geisterreich, das wir anderen armen Menschen nur in schaudernder Demut ahnen – ich konnte nicht anders, ich mußte still vor ihr niederknien und ihre weiße Hand an meine Lippen ziehen. Sie ließ es ruhig geschehen. Es wurde kein Wort gesprochen; aber sie nennt mich seitdem mit meinem Vornamen. Ihr Mann blickte ein wenig verwundert auf, als sie es zum erstenmal in seiner Gegenwart that. Seitdem hat er sich daran gewöhnt, wenn ich auch für ihn Herr Arnold geblieben bin.
Und kaum war die schwarze Wolke, die so lange über uns gehangen hatte, verzogen, und wir durften wieder frei aufatmen – das entsetzliche Schwurgericht! Zwei und ein halbes Jahr schon hat sich oder hat man die schreckliche Sache hingeschleppt. Jetzt gerade vor zwei Jahren waren Untersuchungsrichter und Staatsanwaltschaft so weit, daß sie noch als letzte in der damaligen Session verhandelt werden konnte. Ich war glücklich, als man auf meine Aussage verzichtete – was hätte ich auch auszusagen gehabt! So brauchte ich den Mördern meines Vaters nicht in die schändlichen Gesichter zu sehen. Und habe es nun doch gemußt! Die ersten Erkenntnisse waren wegen eines groben Formfehlers vom Reichsgericht kassiert worden. Dann mußte man von vorn anfangen, weil ein neuer Staatsanwalt ganz neue Gesichtspunkte entdeckt hatte. Dann wurde die wieder aufgenommene Verhandlung in der Mitte abgebrochen, als ein neuer Verteidiger herausfand und dem Gerichtshof bewies, daß er auf einen gewissen Zeugen nicht verzichten könne. Dann monatelanges Suchen nach diesem Zeugen – Wawzjin Guompp, der sich inzwischen in Russisch-Polen unsichtbar gemacht hatte, bis man ihn endlich doch erwischte und die Sache – diesmal als erste in der Periode – wieder vor die Geschworenen gelangte. Was habe ich gelitten! Gott sei Dank, es ist vorüber! Skapzeck, der das erste Mal zum Tode verurteilt war, hat lebenslängliches Zuchthaus erhalten. Dafür sind dem Schurken Löb noch einige Jahre zudiktiert worden. Die anderen sind besser davon gekommen, als sie verdienten; der eine – ein blutjunger Mensch – ist freigesprochen. Gott sei Dank! er hatte so gute dumme Augen, und ist gewiß ein sehr unfreiwilliger Zeuge der Greuelthat gewesen. Ich habe am nächsten Tage die Gräber meiner Eltern besucht, das hat mir wieder einige Ruhe in die verstörte Seele geflößt. Und daß ich ihr dann von ihnen erzählen durfte: welch stattlicher, stolzer Mann der Vater gewesen; welch holde Blumenseele meine unvergeßliche Mutter!
*
Ich habe ihr »Und scheint die Sonne noch so schön« endlich vorgelesen. Sie findet, es sei ein tüchtiger Schritt über das andere Gedicht hinaus. Ich bin ganz glücklich. Aber jetzt muß ich die Novelle ernsthaft in Angriff nehmen. Ich bin so alt wie der spanische Infant und habe genau so wenig wie er für die Unsterblichkeit gethan. – Das brennt mir auf der Seele, seitdem Isabel es mir in ihrem letzten schrecklichen Briefe vorgeworfen hat.
*
Himmel, wie die Zeit vergeht! . Da fallen die Blätter schon wieder von den Bäumen, und noch ist das letzte Blatt der Novelle nicht geschrieben. Wie konnte ich aber auch wissen, daß aus der Novelle durchaus ein Roman werden wollte! Und hätte es doch wissen können. Eve hatte es mir ja vorausgesagt!
*
Endlich! Der halbe Winter ist auch darüber vergangen – gleichviel – gut Ding will Weile haben. Gut Ding! Ja, wenn's das wäre! Ich weiß es wahrlich nicht, und sie sagt: sie wisse es ebensowenig. Der Roman sei so unter ihren Augen entstanden – von Kapitel zu Kapitel. Sie habe ganz das Gefühl, als habe sie ihn selbst geschrieben. Ich sagte: ein feineres Lob könne mir aus dem Munde des größten Kritikers der Welt nicht werden. Sie sagte lächelnd: Justus, seit einiger Zeit verlegen Sie sich aufs Schmeicheln; ich warne Sie davor. Erstens steht es Ihnen ganz und gar nicht, und zweitens höre ich auf dem Ohre nicht, wie die Franzosen sagen. – Dann fuhr sie ernsthaft fort: Und gesetzt, ich könnte ohne alle subjektiven Nebenempfindung ganz objektiv urteilen und fände Ihr Buch gut, so wäre damit für uns nicht viel gewonnen. Mein Urteil ist nicht das der Welt, an die Sie sich wenden. Vielmehr, ich habe eine bange Sorge: die Welt, an die Sie sich wenden, existiert nicht, oder doch nicht mehr. Ich fürchte, Justus, wir – Sie und ich – sind hier in unserem stillen Winkel eine gute Strecke hinter der Zeit zurückgeblieben. Ich schließe das aus den Produktionen derer, welche jetzt – wenigstens sagen sie es selbst – an der Spitze der Phalanx marschieren. Ich habe in den letzten Monaten eine ganze Kollektion dieser Neuen und Neuesten gelesen und Sie absichtlich nicht damit behelligt – fremde Melodien stören uns nur, wenn uns eine eigene durch den Kopf geht. Und ich kann Sie versichern: es waren zum größten Teil sehr sonderbare Melodien, in denen Dissonanzen eine hervorragende Rolle spielten. Unaufgelöste, meine ich, denn eine, die dann doch harmonisch verklingt, lasse ich mir gern gefallen, ja, die Poesie und, ich glaube, keine Kunst kann dergleichen entbehren. Auch sonst fehlen Ihnen wohl noch einige für die moderne Belletristik notwendige Requisiten. Sie geben sich Mühe, einen fließenden Stil zu schreiben. Das ist nichts. Sie müssen lernen, Sätze zu bilden, die aus drei Worten bestehen, und in denen Subjekt und Prädikat fehlen; und solche, die der Autor in der Mitte abbricht, um dem Leser die Freude zu machen, sich aus den folgenden Punkten die andere Hälfte hinzuzudenken. Ich hoffe, Sie werden in sich gehen, wenn Sie jetzt, wo Sie wieder Zeit haben, die Bücher lesen. Ich habe sie Ihnen aufgehoben. Besser freilich wäre es: Sie hörten die Löwen nicht nur von ferne brüllen, sondern wagten sich in ihre Höhlen, wo sie vielleicht nicht ganz so grimmig sind, wie sie sich anstellen.
So hat denn jetzt mein sauber abgeschriebener Roman die Reise zu ihrem Vater angetreten, der sich gutmütig erboten hat, ihn zu lesen.
Mir bangt nicht vor seinem Urteil. Ich wünsche natürlich von Herzen, es möchte gut ausfallen; aber werde auch nicht verzweifeln, wenn das Gegenteil der Fall ist. In meiner Lage muß mir alles darauf ankommen, die Wahrheit zu hören. Und der Mann wäre nicht der Vater seiner Tochter, nicht der Gelehrte mit dem klaren Kopf und dem freien mutigen Herzen, wie er in seinen Schriften erscheint, die ich jetzt andächtig studiere, wollte er mir statt des Brotes, um das ich ihn bitte, einen Stein reichen.
*
Professor Richter pflegt zu sagen: nur wenn er schreibe, denke er. So muß ich heute schreiben. Ich muß versuchen, Klarheit in meine Gedanken zu bringen. Ihre Worte: es wäre besser, ich suchte die Löwen in ihrer Höhle auf, oder, es anders auszudrücken: ich machte meinem Aufenthalt hier ein Ende – wollen mir nicht aus dem Sinn. Und sie hat in letzter Zeit schon ein paarmal ähnliches gesagt. Hier sind nun drei Möglichkeiten. Entweder: Sie hält den Augenblick für gekommen, wo ich mich, will ich überall schwimmen lernen, in den Strom der Welt stürzen muß. Das wäre unverfänglich und nur ein weiterer Beweis ihrer vorsorglichen Güte. Oder der Chef ist meiner überdrüssig, und sie, die es weiß, deutet mir das in ihrer zarten Weise an, um mir die Beschämung einer offiziellen Kündigung zu ersparen. Bereits etwas verfänglicher, wenn auch von ihrer Seite nicht minder gütig. Oder aber: sie selbst will mich fort haben, weil sie – Mut, Justus, es muß heraus! – in meinem Bleiben Gefahr sieht – nicht für sich! was hätte sie für sich zu fürchten! – sondern für mich.
Sei aufrichtig, Justus, ganz aufrichtig! Wie ist es damit? Liebst Du sie?
Ich erschrecke, indem ich das Wort niederschreibe. Es kommt mir vor wie Sünde gegen den heiligen Geist, die ja aller Sünde größte sein soll, denn in jeder Liebe leben doch der Wunsch und die Hoffnung auf Gegenliebe, und so verstrickte ich sie, wenigstens in Gedanken, in meinen Frevel, zerrte sie in Gedanken von dem hohen Piedestal, auf welchem sie bis jetzt für mich gestanden, herab in meine Niedrigkeit. Aber bin ich nicht ein Thor, mich so zu quälen? Habe ich nicht in meiner Liebe zu der braunäugigen Zauberin eine Wehr und Waffe, die mich gegen jede andere Liebe schützt, wie den Siegfried das Drachenblut, in dem er sich gebadet, gegen jede Verwundung? Und mußte doch unter Hagens Speer verbluten! Ist da auch ein Lindenblatt auf meine Schulter gefallen und hat eine Stelle zurückgelassen, wo ich sterblich bin?
Ich bringe es nicht heraus. Geschwisterliebe, wie ich sie straflos für die um acht Jahre ältere Frau empfinden dürfte, ist es nicht: ich kann sie nicht mehr ruhig erscheinen, ruhig gehen sehen. Wenn die kurzen Stunden unseres Beisammenseins zu Ende eilen, möchte ich jede Minute festhalten; schließe ich ihre Thür hinter mir zu, ist mir, als sei es plötzlich dunkel geworden; kommt ein Tag, an dem ich sie nicht sehen kann, scheint er mir kein Ende nehmen zu wollen; naht sich die Stunde, die sie mir wieder bringt, schlägt mir das Herz vor Freude. Und denke ich der Zeit, die ja doch einmal kommen wird, wo ich nicht mehr ihre liebe Stimme höre, ihre schlanke, elastische Gestalt sich vor mir bewegen sehe; ihrer klugen Rede nicht mehr lauschen, durch ihr Beispiel mich zu allem Guten und Tüchtigen anspornen lassen kann – frage ich mich traurig: wie soll das werden? wirst du nicht, wie sie dich jetzt über dich selbst weggehoben, ebensoschnell wieder sinken, vielleicht unter das, was du hättest leisten können, wärst du immer auf die eigene Kraft angewiesen geblieben?
Ist das nun Liebe? Warum ist die Sprache so arm, daß sie dasselbe Wort für sehr verschiedene Empfindungen gebrauchen muß, wie jene Proletarierfamilie, die immer nur einen ihrer Angehörigen in die Kirche schicken konnte, weil sie nur einen heilen Anzug hatte? Liebe ist's gewiß; aber die, die ich meine, doch wohl nicht. Die ist, wenn die Berührung der geliebten Hand, des Kleides nur, das den holden Leib umschließt, unser Herz vor Wonne zittern macht; der Gedanke bloß, ihre Arme könnten uns liebend umschlingen, ihre Lippen sich auf die unseren pressen, uns wahnsinnig zu machen droht; die Todesgefahr, die zwischen uns und ihrem Besitz steht, keinen Schrecken für uns hat, ja ein Verbrechen selbst uns als kein zu hoher Preis erscheint. Und diese Hero- und Leander-, diese Romeo- und Julie-Liebe braucht nicht ein Jahr oder anderthalb, bis sie sich zögernd zum Kommen entschließt – sie ist da, wie der Blitz aus der Wolke, wie das Glück aus der Götter Schoß, wie der Tod unter des Henkers Beil. Ich weiß, meine Liebe zu Isabel wäre eine solche gewesen, hätte der Zufall nicht gewollt, daß wir als Kinder miteinander aufwuchsen. Ja, was ein Kindesherz von jener Liebe empfinden kann – und ich glaube, es ist das viel mehr, als man gewöhnlich annimmt – hat meines für sie empfunden, und obgleich ich wahrlich keine Freude am Bösen habe – ich weiß nicht, was sie von dem Knaben für einen Kuß hätte fordern können. Kind! Knabe! was denn? ist es anders jetzt, nachdem sie mir das Furchtbare angethan? würde ich nicht heute, wenn sie mich riefe, barfuß nach Rom pilgern? mich durch die ganze Welt zu ihr betteln?
Nein, du liebe, du gute, du beste aller Frauen, du brauchst mich nicht von dir zu schicken. Es hat keine Gefahr für mich, so lange die andere lebt. Und, wenn sie gestorben ist, auch nicht. Ich würde die Tote weiter lieben, wenn es möglich ist: inniger, als ich die Lebende je geliebt.
*
Roma locuta est! Triumph! ich habe gesiegt! Professor Richter schreibt: »Der Roman deines jungen Freundes hat mir sehr gefallen. Ausführliches in meinem nächsten Brief.« Sie warnt mich freilich, nicht zu früh zu frohlocken. Höchst impressionabel, wie der Vater sei, halte es nicht schwer, ihn im ersten Anlauf zu gewinnen; dann aber besinne er sich auf sein Arsenal voll kritischer Wenn und Aber, und ehe man sich's versehe, habe er einem den vermeintlichen Sieg aus den Händen gewunden. Ich habe mich das nicht anfechten lassen. Ich kann nicht sagen, wie mir dies: »Hat mir sehr gefallen« aus dem Munde eines Professor Richter gefallen hat!
*
Das Unglück kommt nicht allein, aber auch nicht das Glück! Ein Brief von ihr! ein so lieber, süßer Brief! Ich wollte ihn erst hier an dieser Stelle in das Tagebuch heften. Nun bin ich auf den gloriosen Gedanken gekommen, ihn abzuschreiben und jeden, den sie mir etwa noch schreibt. Ich werde mir dann einbilden können: es wäre unser gemeinschaftliches Tagebuch und ich sei nur, wie gewöhnlich, ein bißchen fleißiger bei der Arbeit gewesen, als sie.
»Rom. Albergo dell'Europa. Piazza di Spagna.
Februar 188*
Du mußt wahrlich ein Sonntagskind sein, sonst hättest Du sicher nicht das unverdiente Glück, diesen Brief von mir zu erhalten. Voller Talente, wie Du bist, Dein Talent zur Unhöflichkeit ist doch das größte unter ihnen. Auf jede Seite, die ich im Lauf der endlosen Jahre, die wir bereits getrennt sind, an Dich geschrieben habe, kommt vielleicht eine Zeile von Dir! Oder wäre Deine Unhöflichkeit am Ende nur Klugheit und Du sagtest Dir: ich habe kein Mittel, ihr zu imponieren, als wenn ich mich eben so lässig in ihrem Dienste zeige, wie ihre übrigen Verehrer eifrig. Ähnlich sähe es Dir schon, – Du bist bei all Deiner scheinbaren Harmlosigkeit ein tief verschlagener Mensch – und es würde mich so freuen! Denn, siehst Du, Sonntagskind, ich habe mich noch immer nicht entschließen können, Dich von der Liste meiner Verehrer zu streichen, auf der Dein Name sogar an erster Stelle prangt. Ach, Sonntagskind, es war doch eine schöne Zeit, die wir miteinander verlebt haben! Ich weiß nicht, wer einmal gesagt hat – es kann Börne, aber auch Konfuzius sein –: »welch ein großer Mann war ich, als ich noch ein kleiner Junge war!« Und so möchte ich sagen: wie glücklich war ich, als ich noch nicht wußte, was Glück war! Versteh' mich recht! Ich sage: »noch nicht wußte«, nicht: »noch nicht erfahren hatte«. Man kann sehr gut etwas wissen, ohne es erfahren zu haben.
Sonntagskind, hätte ich Dich hier in Rom, wo ich nebenbei schon zum zweitenmale bin – den vergangenen Herbst und die erste Hälfte des Winters habe ich wieder in England und Paris verlebt – hätte ich Dich hier! Die große internationale Gesellschaft, in der ich mich umtreibe, wäre vielleicht nicht ganz nach Deinem Geschmack, wofür ich denn an den Kirchen und Galerien, die Deine Wonne sein würden, längst, längst allen und jeden Sinn verloren habe. Aber wie wär's mit einem Spaziergange durch die abendlichen Straßen vorüber an der Fontana di Trevi und dem Kapitol durch das Forum zu dem Kolosseum, dessen Riesenmassen jetzt in dunklem Schatten drohen und jetzt, wenn der Mond aus den Wolken tritt, fast in Tagesklarheit gebadet sind? oder mit einem Morgenritt durch die Campagna nach Tivoli? Du und ich allein – niemand sonst! Ach, Sonntagskind, ich sehne mich so schrecklich danach, eine Menschenstimme zu hören! eine liebe Stimme, wenn alles still ist rings umher, wie in der Campagna, oder – unserem Walde. Mein Gott, wie deutlich ich Deine Stimme höre! Wenn Du erregt warst – und Du wurdest es so leicht! – hatte sie so sonderbare tiefe Schwingungen und einen eigentümlichen Timbre – unter tausenden würde ich sie heraushören. Wann werde ich sie wieder hören? Im Herbst vielleicht, wenn ich nach Schlesien muß, einen langweiligen Winter auf dem Lande zu verbringen? Wir wären dann ja benachbart. Würdest Du gute Nachbarschaft halten? Ich hoffe sehr. Du darfst schon deshalb Deine jetzige Stellung so bald nicht aufgeben.
Du mußt nämlich wissen, Sonntagskind, daß ich über alles, was Dich betrifft, völlig au courant bin – durch meine liebe Edith, die mir oft und viel schreibt. So weiß ich von dem Unglück, das Du mit Deiner linken Hand gehabt hast, Du armer Junge; und daß Du bei unserem Oberdirektor im alten Schloß in einer angenehmen, gesicherten Stellung lebst; ein hübscher, stattlicher Mensch bist von – laß mich sehen! wahrhaftig von schon einundzwanzig Jahren, den ein dunkler Schnurrbart gar nicht übel kleidet. Weiter: daß Du die liebenswürdige Frau Körner anbetest, mit ihr gelehrte Studien treibst, von denen die arme Maiennacht keinen blassesten Schimmer hat, und an einem großen Roman schreibst, dessen Heldin ich bin. Sonntagskind, unter dem thue ich es nicht! Und ich bin selbstverständlich ein Ausbund von Liebenswürdigkeit, Schönheit und Tugend. Auf das letztere Item lege ich ein ganz besonderes Gewicht. Wolltest Du mich nach den Äußerlichkeiten – Augen, Haar u. s. w. – so abkonterfeien, daß man mich sofort erkennen müßte, und mich dabei eine raffinierte Kokette sein lassen, une mondaine furieuse, eine Männerfischerin, – nie, nie würde ich Dir das verzeihen. Aber warum solltest Du? Du weißt ja, daß ich von alledem nichts bin. Und wäre ich es – auch dann dürftest Du es nicht aussprechen. Jeder Mensch – und nun gar ein Dichter – muß in seinem Herzen ein Ideal haben, das ihm heilig ist, wie unheilig das Leben sein mag, zu dem ihn ein grausames Geschick verurteilte. Ich bin von früh her Dein Ideal gewesen – ich weiß es, Sonntagskind, und würde es wissen, auch wenn Du es mir nicht hundertmal gesagt hättest – und ich muß und will es bleiben.
So! nun habe ich für einmal wieder genug gekritzelt und muß mich zu einer Gesellschaft schön machen. Eine alte Frau, wie ich, kann sich leider auf ihren etwaigen einstigen charme nicht mehr verlassen; da muß wohl oder übel die Toilettenkunst ein Übriges thun. Ach, und was versteht eine arme kleine Fee von Toilettenkünsten?
Leb recht wohl, mein geliebtes Sonntagskind, und behalte auch Du ein bißchen lieb
Deine Maiennacht.«
Da stehst Du, geliebter Brief! Glaub' mir, Du würdest es nicht, wäre in einer Deiner Zeilen sein Name genannt, ja, seiner nur Erwähnung gethan. Feen sind eben zartfühlend. Und klug! Woher weiß sie, daß sie die Heldin meines Romanes ist? Freilich, wenn noch alles, was ich gedichtet, von ihr inspiriert war, warum sollte es der Roman nicht sein? Wie ich immerdar zu ihr, so mögen die homerischen Sänger zu ihrer Muse gläubig und anbetend emporgeschaut haben.
Und sie kommt im Herbst hierher zurück, will den Winter auf dem Lande zubringen! Ich soll sie wiedersehen! An seiner Seite? Nimmer- und nimmermehr! Frau Eve, wenn Sie mich jetzt auch nicht fortschicken – jetzt muß ich fort.
*
Wiederum hat Rom gesprochen – aber ach! diesmal aus einem anderen Ton. Ja, wenn es keine Wenn und Aber gäbe! Sie hatte es mir vorausgesagt. Das dünne Lobesflämmchen ist ausgebrannt, und die Feuersäule des Tadels schlägt zum Himmel. »Die Komposition verrät den Anfänger, der seinen Stoff nicht beherrscht. Der Anfang ist viel zu breit im Verhältnis zum Ganzen und an und für sich, d. h. er ist nicht interessant genug. Später, wenn das Interesse des Lesers wirklich erweckt ist, fängt der Atem dem Autor an bedenklich auszugehen; er verzweifelt an der Lösung des geschürzten Knotens, zupft und zerrt daran herum, bis er ihn endlich durchhaut auf Kosten der Geschehnisse, die sich überstürzen, und der Charaktere, die nicht zur vollen Entfaltung gelangen. Seiner im übrigen löblichen Methode, den Leser mit seinen subjektiven Ansichten zu verschonen und zu demselben nur durch seine Personen zu sprechen, die sich durch ihre Handlungen und Reden selbst erklären mögen, fehlt es noch an der nötigen Sicherheit der Praxis, die nur das Wichtige heraushebt und sich um Bagatellen so wenig kümmert wie ein römischer Prätor. Seine Menschen sind gut beobachtet, wie aus der Anlage derselben ersichtlich ist, aber in der Ausführung läßt er sich durch seinen (übrigens löblichen) idealistischen Hang verleiten, ihrer Länge eine Elle zuzusetzen, oder abzunehmen und so nach beiden Seiten die Bescheidenheit der Natur zu verletzen. Damit im Zusammenhang steht seine Neigung zum Sentimentalen und Pathetischen, das mir erträglich ist, wenn ein gesunder, wenn erforderlich, derber Humor ihr das Gleichgewicht hält. In diesem Punkte hat er es, sei es aus Mangel natürlicher Begabung, sei es aus Zaghaftigkeit, allzusehr fehlen lassen.« –
So geht es noch eine ganze Strecke weiter. Und ein solches Machwerk, an dem, wie an einem Lazarettpferde, sämtliche Mängel und Gebrechen, die dem armen Geschöpf anhaften können, nachzuweisen sind, hat dem Manne »sehr gefallen!« Wie das möglich ist, mag Graf Örindur wissen; ich weiß es nicht.
*
Die liebe, die gute, die beste Frau! Daß sie bemerkte, wie schwer mich das väterliche Verdammungsurteil getroffen hatte, ließ sich nicht vermeiden – war sie doch selbst kaum weniger bestürzt. Und ihr Trost, der Papa habe das alles ja gar nicht so bös gemeint, es nur für seine Pflicht gehalten, mir das Ideal zu zeigen, nach dem ich ringen müsse, wollte nicht so recht verfangen. Da hat sie denn offenbar von dem gerechten an den milden Richter appelliert, und heute zeigte sie mir seine Antwort. – »Was sie nur eigentlich wolle? Ich müsse doch stolz sein, daß er mein Erstlingswerk sofort an den höchsten Maßstab gemessen habe! Übrigens habe er ja noch gar nicht sein letztes Wort gesprochen. Was er gesagt, sei nur die eine Seite der Medaille. Die andere wolle er vorläufig verdeckt lassen und nur bemerken, daß man ihn ungerechterweise eines Widerspruches zeihe, wenn ihm ein Werk sehr ›gefallen‹, an dem er so viel auszusetzen gefunden. Es gebe unverzeihliche Fehler und andere, die nicht nur verzeihlich seien, sondern den Kenner sogar entzückten, weil dergleichen nur das wahre Talent begehen könne, niemals das Nichttalent. Übrigens (ein Lieblingswort, wie es scheint, des trefflichen Mannes) habe er das Manuskript mit einem Brief, der kein Uriasbrief sei, an einen ihm befreundeten Verleger geschickt, und es sei nicht unmöglich, daß derselbe es annehme, vielleicht sogar (mäßig!) honoriere.
Nur eines müsse er hinzufügen: der Autor habe ganz offenbar sein Talent in der Stille, einer allzutiefen Stille, gebildet. Es fehle ihm noch zu sehr an dem A und O des Romandichters: Welt und Erfahrung. Das sei ein Mangel, den nur die Zeit auszugleichen vermöge, freilich nur eine, die der Dichter in einer Welt zubringe, wo man Erfahrungen machen könne. Daß der Autor nicht der Mode des Tages gefröhnt und den Leser mit der tausendsten Schilderung des Elendes der Fabrikarbeiter verschont habe, trotzdem in seinen jetzigen Verhältnissen die Versuchung zu dem Attentat wohl an ihn herangetreten sein möge, rechne er ihm hoch an. Sein Talent liege auch nach einer ganz anderen Richtung. Es könnten eben nicht alle Emile Zolas sein; es müsse auch Octave Feuillets geben, womit er keineswegs gesagt haben wolle, daß er den einen oder den anderen für einen wahrhaft großen Dichter halte. Er habe nur in die Richtung deuten wollen, in der ihm mein Talent zu liegen scheine.«
Nun, ich denke, ich habe von »der anderen Seite der Medaille« genug gesehen, um zufrieden sein zu dürfen.
*
Ich hatte gestern eine lange Unterredung mit ihr, die noch heute in mir nachzittert.
Zuerst: sie will mich nicht forthaben; sie hat nie anders geglaubt, als daß ich mindestens noch zwei bis drei Jahre hier zubringen werde. Was in aller Welt treibt mich fort? Wenn meine Leistungen als Privatsekretär ihres Gatten auch keine außerordentlichen seien, so habe er sich nie über mich beklagt, was sie mir gewiß gesagt haben würde, und so verdiene ich mein Gehalt redlich. Die Kinder würden mich schwer vermissen, und weil sie wisse, daß ich es wisse, dürfe und müsse sie dasselbe von sich sagen.
Doch das alles sei nebensächlich. Der Schwerpunkt liege in der Frage, ob der Vater recht habe, wenn er die kräftige Fortentwickelung meines Talentes von einer Veränderung meines Aufenthaltes, meiner Umgebung, meines gesellschaftlichen Verkehrs u. s. w. abhängig mache? Da nun könne sie ihm nicht ganz unrecht, aber auch ganz gewiß nicht unbedingt recht geben. – Ich will versuchen, ob ich ihre klugen, guten Worte wieder zusammenbringe.
Auch ich, sagte sie ungefähr, halte die Richtung, in welche der Vater Sie weist, für die Ihrem Talent, Ihrer Sinnes- und Denkweise gemäße. Er hat Feuillet genannt. Wenn Sie es ihm je an Eleganz gleich thun, dürfen wir gewiß zufrieden sein; aber ich weiß, Sie werden sich tiefere Probleme stellen, und sein markloser moralischer Latitudinarismus kann nie der Ihre sein. Immerhin wird sich Ihr Talent mehr zur Schilderung der höheren gesellschaftlichen Klassen eignen, als der der niederen; und die psychologische Analyse gebildeter Geister und feingestimmter Herzen Ihnen besser gelingen als die unwissender Seelen und roher Gemüter. Aber gerade daraus erwächst nach meinem Dafürhalten für Sie die Nötigung, dem Unfreien, Unschönen, Häßlichen mutig zu Leibe zu gehen, es doppelt sorgfältig zu prüfen und zu studieren, damit Sie es, wo es nötig ist, in Ihren Darstellungen verwerten können. Ich fürchte, es wird sonst dem Weltbilde, das Sie entwerfen, an der rechten Fülle, an der überzeugenden Wahrheit fehlen. Ihre Menschheit darf nicht, wie die Feuillets, mit dem Baron anfangen, aber auch nicht, wie die Zolas und seiner Nachbeter und Nachtreter, bei dem Baron, oder schon weit vorher, aufhören, – sie muß Ihnen bestehen aus allem, was Menschenantlitz trägt. Ich habe Sie oft damit geneckt, Sie seien ein Kryptoaristokrat; ich weiß aber, daß Ihre Seele sich gegen jede Anmaßung, jede Überhebung, jede Ungerechtigkeit empört; daß Sie die tiefste Sympathie mit den Armen und Elenden haben. Soll nun jener gerechte Widerwille nicht zum blinden Adels- und Fürstenhaß werden, diese Sympathie zum verschwommenen Liberalismus der dreißiger und vierziger Jahre, so müssen Sie eben wissen, wofür und für wen Sie plädieren, und daß innerhalb und außerhalb der Mauern Trojas gesündigt wird.
Sie werden mir sagen: ich habe reichliche, überreichliche Gelegenheit gehabt, die Armen und Elenden kennen zu lernen. Gelegenheit gewiß; aber daß Sie sie wirklich kennen gelernt haben, bezweifle ich. Man kann viel sehen und hören, ohne es eigentlich gehört und gesehen zu haben, weil Geist und Gemüt mit anderen Dingen beschäftigt sind. Das, glaube ich, ist Ihr Fall. In Ihrem Roman gerät Ihnen die Schilderung der geistreichen Personen viel besser, als die der einfältigen, der vornehmen weitaus treffender, als die der niedrig gestellten. Das muß ausgeglichen werden. Ich fürchte, in Berlin – denn Berlin würde doch Ihr Ziel sein – werden Sie sich widerstandslos von den Kreisen der Geistreichen und Vornehmen – in die Sie als Dichter und Kryptoaristokrat ja auch gehören – einfangen lassen, und, ohne dem gemeinen Volke aus dem Wege zu gehen, doch nicht zu ihm gelangen. Hier können Sie ihm kaum ausweichen und werden es nicht, oder nicht mehr nach der Lektion, die ich Ihnen eben halte.
In Summa, ich meine, es kann Ihnen nur nützlich sein, wenn Sie noch ein paar Jahre von der hohen Schule der Bildung und des Geschmacks, der Verbildung und des Raffinements fern bleiben und hier in der unserer Einfalt und Einfachheit, Beschränktheit und Derbheit, meinetwegen Roheit fleißig sind.
Und sollten Sie sich, in Ihrer Eigenschaft als lyrischer Dichter, beklagen, daß es Ihnen in unserer ländlichen Einsamkeit an Motiven fehle, so würde ich Sie durch ein Gedicht von Emerson beschämen. Hier ist es in einer, wie ich glaube, leidlichen Übersetzung. Sie können es sich in Ihr Tagebuch schreiben, das Sie mir so geheimnisvoll vorenthalten:
Apologie.
Nennt mich mürrisch nicht und kalt,
Such' ich gern den stillsten Ort,
Geh' zum Gott im grünen Wald
Und ich bring' euch heim sein Wort.
Scheltet nicht, daß ich in Schoß
Leg' die Hand' in Busch und Bruch,
Keine Wolke am Himmel floß,
Schrieb ein Zeichen in mein Buch.
Träumer habt ihr mich genannt,
Als ich euch den Strauß gebracht, –
Jedes Gräslein in der Hand
Hat ein Wörtlein mir gesagt.
War noch niemals ein Myster, –
Jede Blume konnt' es zeigen;
Und kein Rätsel war so schwer, –
Vögel sangen's in den Zweigen,
Ein Gedicht vom Weizenfeld
Zog mir gestern heim der Stier,
Und das Land, das du bestellt,
Gab den Stoff zum zweiten mir.
Ich war, während die beste Frau so sprach, in der peinlichsten Verlegenheit. Immer schwebte es auf meinen Lippen: das ist alles so schön und gut, und ich bliebe auch so gern; aber – ich kann es nicht, wenn sie kommt. Vielleicht wäre es besser für mich, ich hätte es gesagt und ich wäre erlöst aus dem Bann. Will ich denn erlöst sein? Ich weiß, daß es unwürdige Ketten sind, die mich gefesselt halten, und habe nicht die Kraft, sie zu sprengen, nicht einmal den Mut, ihrer zu spotten.
*
Sie ist verreist – auf acht Tage – nach Berlin mit ihrem Gemahl, den der Graf zu einer wichtigen Konferenz – über die Neuverpachtung unserer Kohlenwerke – zu sich beschieden hat, und den Kindern, die dem Großpapa die dreißigste Wiederkehr seines Hochzeitstages, welche er sonst allein begehen müßte, minder wehmütig machen sollen. Der Chef war so gütig, mich zur Begleitung aufzufordern; aber ich habe ein paar wichtige Bureausachen, die liegen bleiben müßten, aufzuarbeiten, – ein Vorwand, den er gelten ließ, während sie mir von der Stirn las, daß es eben ein Vorwand sei, ohne weiter in mich zu dringen. Sie vermeidet jeden Anschein, mich auffallend zu bevorzugen. Das ist klug von ihr. Mich aber würde sie sicherlich für unklug gehalten haben, hätte ich den wahren Grund genannt: den, daß ich fürchte, Isabel könnte der ewigen Stadt eines dieser Tage überdrüssig geworden sein und ich ihr plötzlich in Berlin auf der Straße begegnen. Das kann nun freilich, wenn ich erst dort bin, jeden Augenblick geschehen; aber quid sit futurum cras fuge quaerere, sagt Horaz. In der Antwort auf ihren Brief, mit der ich absichtlich zwei Wochen gezögert, habe ich nichts von meinen Berliner Plänen gesagt. Der Brief ist mir schwer geworden. Es schreibt sich eben nicht leicht, wenn man derweilen sein Herz mit beiden Händen halten muß.
*
Ich hatte es halb vergessen, daß ich einsam sei; jetzt kann ich es wieder lernen. Und ich glaube, der Einsame fühlt sich niemals einsamer als im ersten Frühling, wenn die Natur, aus ihrem Winterschlaf erwachend, sich reckt und dehnt und mit den Augen in die Sonne blinzelt, wie ein fauler Junge, der am Sonntagmorgen nicht aus dem Bett will, nur um die Freuden, die ihm der Tag bringen soll, im voraus behaglich durchzukosten.
Aber dann giebt es arme Jungen, die recht gut wissen, daß ihnen der Tag hinschleichen wird, wie die anderen auch: trüb und traurig; und die am liebsten möchten, sie könnten ihn verschlafen – und die anderen dazu.
Ich kann mich nicht zur Kategorie dieser unglücklichen Schelme rechnen; es wäre sträfliche Undankbarkeit. Ich darf nur nicht an die wahnsinnigen Wünsche meines Herzens denken, und daß ihnen für immer und immer Erfüllung versagt ist. Dann freilich wird der Himmel ehern über mir und die Erde unter meinen Füßen zur dürren Wüste, durch die ich wandere, einsam, ach! so einsam!
Ich habe es mit dem Emersonschen Rezept versucht, aber dazu wohl nicht die richtige Zeit gewählt. Der Wald war nicht grün, in Busch und Bruch standen noch vom Winter her Lagunen eiskalten Wassers; mit dem Straußpflücken wollte es auch nicht gehen: Blumen pflegt der März nicht verschwenderisch auszustreuen, und selbst an Gräsern, die des Pflückens irgend wert gewesen wären, herrschte großer Mangel. Da ich nicht im glücklichen Besitz eines Stiers bin, konnte ich das fehlende Weizenfeld schon eher verschmerzen. Dann traf ich allerdings einen Mann, der das Land bestellte. Ich habe mir ihn von allen Seiten angesehen – es war ein hoffnungsloser Fall: hartherzig, wie er nach dem Ausdrucke seines häßlichen Gesichtes entschieden war, wollte er mir auch zu dem kleinsten Gedicht nicht den mindesten Stoff bieten.
Kaum besser, eher noch schlechter ist mein Versuch ausgefallen, dem, was hier um mich herum Menschenantlitz trägt und mithin zu meinem specielleren Ressort gehört, dankbare Seiten abzugewinnen. Dennoch war die Gelegenheit günstig. Sie kamen jetzt, da der gefürchtete Chef in der Ferne weilt, aus ihren Bureaus hervor, wie die Mäuse aus ihren Löchern, wenn die Katze spazieren gegangen ist. Und waren so zuthunlich! machten mir so freundliche Vorwürfe, daß ich so zurückgezogen lebe, außer dem Verkehr mit der Familie des Herrn Oberdirektors gar keinen Umgang haben zu wollen scheine! Und es gehe doch wahrhaftig bei ihrem Kränzchen am Sonnabend im Wirtshaus, an denen auch die Damen teilnähmen, munter genug her! Auch in dem Gesangverein fehle noch ein zweiter Tenor, zu dem ich mich gewiß qualifiziere!
Und welch gewissenhafte, pflichteifrige, uneigennützige Beamte die Herren sind! Da hielt mich gestern, als ich den Schloßhof passierte, Herr A. fest, der in der hiesigen Beamtenhierarchie unmittelbar hinter dem Oberdirektor kommt. Er wollte mich nur in aller Diskretion bitten, den hochverehrten Chef zu warnen, er möge doch um Himmels willen dem B. nicht trauen, der ihm (dem Chef) ins Gesicht ganz Beflissenheit, ganz Ergebenheit sei und ihn hinter seinem Rücken bei dem Herrn Grafen auf alle Weise zu verdächtigen und zu diskreditieren suche. Mein Gott, Mißtrauen sei ja nun wohl einmal allen großen Herren angeboren, und der Herr Graf habe sein gemessenes Teil davon. Um so mehr müsse sich jeder Ehrenmann hüten, derartige Schwächen zu begünstigen und auszunutzen, wie es eben der B. schon seit Jahren thue, früher persönlich, jetzt, wo der Graf nur immer auf ein paar Tage herüberkomme, schriftlich. Er (Herr A.) mache sich anheischig, die Beweise dafür zu liefern.
Heute – Sonntagnachmittag – klopft es an meine Thür, und Herr B. erweist mir – zum erstenmale während dieser anderthalb Jahre – die Ehre seines Besuches. Er habe gestern von dem Fenster seines Bureaus gesehen, daß ich eine lange Unterredung mit dem Herrn Subdirektor gepflogen. Er halte es für seine Pflicht, mich zu warnen, ich möge doch um Himmels willen kein Wort glauben, das aus dem Munde des Mannes komme, der ein Intrigant ersten Ranges sei und hinter dem Rücken des Chefs bei dem nur allzu leichtgläubigen und leider! etwas mißtrauischen Herrn Grafen an dem Sturz des ersteren arbeite. Er habe die Beweise in der Hand. Übrigens seien die anderen nicht viel besser als Herr A. – alle durch die Bank Spione, Zwischenträger, Verleumder!
Und das sind die Leute, die das Ohr des Grafen haben! Das Schlimme ist, daß jeder, indem er den anderen bezichtigt, recht hat; das Schlimmere, daß der Herr seiner Diener wert ist. Glücklicherweise weiß es der Chef; wenigstens behauptet es Frau Eve, mit der ich schon wiederholt über diese Mißstände gesprochen habe. In so kleinen Verhältnissen, wie die unseren, sagt sie, unter Beamten, die fast alle, ehe sie in den Dienst des Grafen traten, ihren Beruf verfehlt, oder sonst Schiffbruch in ihrer bürgerlichen Existenz erlitten hatten, wuchern Neid, Zwietracht, Haß unausrottbar. Ich fürchte nur, es ist in größeren Verhältnissen nicht viel besser und liegt nur nicht so offen zu Tage, wie hier, wo jeder für jeden in einem Glashause wohnt.
Übrigens, behauptet sie, seien die immerhin selbständigeren Beamten: die Direktoren der Stahl- und Eisenwerke, der Kohlengruben u. s. w. fast durchgängig tüchtige, ehrenwerte Männer; nur in der gräflichen Nähe gedeihe das Unkraut so fröhlich.
Auch ist ja, muß ich meinerseits zugeben, nicht alles Unkraut. Der alte Forstmeister mit dem mächtigen weißen Schnurrbart, meines verstorbenen Vaters unmittelbarer Vorgesetzter, hat gewiß den besten Willen, dem er nur leider aus angeborener, oder in einem vierzigjährigen gräflichen Dienst angewohnter Schwäche, niemals Geltung verschaffen kann; und Herr X. – der Bureauvorsteher-Assistent – ist so zweifelsohne kein Schelm, wie er ein ausbündiger Narr ist.
Ein wohlgewachsener junger Mann, der hübsch zu nennen wäre, wenn er es fertig brächte, aus etwas vorquellenden wasserblauen Augen ein wenig weniger dumm in die Welt zu sehen, die er immer zu fragen scheint, was sie koste, trotzdem er nie einen Pfennig in der Tasche hat. Er verwendet den letzten mit größter Gewissenhaftigkeit an seine Person. Zwar sein blondes Lockenhaar und den dito Schnurrbart kräuselt er eigenhändig und kann sich dabei in keine großen Ausgaben stürzen, aber seine verblüffenden Anzüge, die ihm eine berühmte Firma in Berlin (in Wirklichkeit der Schneider in T. liefert, wie er sagt: baut), kosten ihm – nach seiner eigenen Versicherung – jährlich ein Vermögen. Mit Vorliebe erscheint er in einem graugrünen Jagdanzug, trotzdem er nie ein Gewehr in die Hand nimmt, und geht in glänzend blanken Reitstiefeln mit obligaten klirrenden Sporen, obgleich ihn noch kein Sterblicher im Sattel gesehen hat. Er hört es gern, wenn man ihn »Herr Assessor« anredet – ein Titel, auf den ihm auch gewiß begründetes Anrecht zusteht, da er der Sohn eines Regierungsrates ist und auf einer nicht weiter eruierbaren Universität mehrere Semester hindurch Jura studiert haben soll. Daß alle Damen im mehrmeiligen Umkreis so großen geistigen und körperlichen Vorzügen gegenüber sich in völlig hilfloser Lage befinden, ist ein Umstand, den er nicht ändern kann, wie sehr er selbst darunter leidet. Er läßt nur eine Ausnahme gelten: die Frau Oberdirektor, für die sein Herz in hoffnungsloser Leidenschaft glüht, womit dann wieder seine Leidenschaft für Reitstiefeln zusammenhängt. In solchen nämlich, wenn sie auch keineswegs immer blank sind, sieht er sehr häufig den Gatten der Angebeteten, und es hat sich bei ihm die Idiosynkrasie gebildet, daß er (der Gatte) sich seiner Zeit das Herz der Dame erobert habe durch seine männlich-martialische Erscheinung, für die Reitstiefeln unbedingt obligatorisch. Wenn man von mir als einem Günstling der hohen Frau in seiner Gegenwart spricht – was, wie ich fürchte, seine satirischen Kollegen häufiger, als unbedingt nötig, thun – zuckt er verächtlich die Achseln und murmelt etwas von Ikarus, den er um seine wächsernen Flügel nicht beneide. Einen starken, längst druckfertigen Band Gedichte auf die Unvergleichliche giebt er nur nicht heraus, um Goethe und Heine nicht »vollends an die Wand zu drücken«.
Ob der Herr Schloßhauptmann, Baron von X., ein Narr, oder ein Schelm ist, muß ich dahin gestellt sein lassen, da ich nicht die Ehre seiner persönlichen Bekanntschaft genieße. Nach seinem Aussehen könnte er wohl das erstere sein, nach der Versicherung meiner Gewährsmänner aus den Bureaus ist er unbedingt das letztere. Vielleicht ist er beides. Seinen Titel führt er zu Recht, da er seine Dienstwohnung im alten Schloß und es als Offizier bis zum Rittmeister a. D. (im Train) gebracht hat. Über seine Kompetenzen soll er mit dem Kastellan des Neuen Schlosses fortwährend in erbittertem Streit liegen, und nur fest stehen, daß er dem Marstall des Grafen vorgesetzt ist, bei den Gesellschaften im Neuen Schloß als Oberceremonienmeister fungiert, bei einer Partie Whist die etwa fehlende vierte Hand übernimmt und nach dem Diner die Cigarren herumreicht. Ihn in der Ausübung dieser seiner letzteren Pflichten zu bewundern, habe ich meiner Zeit wiederholt Gelegenheit gehabt – aus scheuer Ferne, während Isabel über seine pompösen Manieren ungeniert lachte und die köstlichsten Witze machte. Als Schloßhauptmann und Baron sieht er auf den bürgerlichen Oberdirektor turmhoch herab, ebenso wie seine Gemahlin, eine geborene von A., auf Frau Eve. Die Leute sind arm wie die Kirchenmäuse und haben acht Kinder, wovon man sich überzeugen kann, wenn man zufällig (wie mir es einmal geschah) in die Schloßkapelle kommt, die, seitdem die Herrschaften hier nicht mehr residieren, von der Frau Baronin annektiert ist und als Trockenboden für die Kinderwäsche ausgiebig benutzt wird. Der älteste Sprößling der segenreichen Ehe ist eine siebzehnjährige Baronesse. Ich weiß von ihr nur, daß sie blaß und blond ist, hellblaue Schmachtaugen und die für mich, dessen Turmfenster in einem rechten Winkel zu ihrem Zimmer stehen, üble Eigenschaft hat, zu musizieren. Sie spielt Klavier und singt. Das erstere leidlich, das letztere unleidlich, schon deshalb, weil ihr ganzes Repertoire aus einer Nummer besteht. Weshalb sie für diese gerade: »O, danke nicht für diese Lieder –« erwählt hat, mag der liebe Gott wissen. Jedenfalls habe ich an dem einen Liede genug; vielmehr wünsche, sie hätte von dem »lieben Angesicht« auch dieses eine nicht »abgelesen«.
Frau Eve sagt, ich habe Mitleid mit den Armen und Elenden und überschätzt mich wenigstens in diesem Punkte nicht, wie in vielen anderen. Habe ich es doch sogar mit diesen Menschen, die freilich ärmer und elender sind als die verwüsteten Gestalten, die sich auf der schmutzigen Chaussee durch Wind und Regen von und zu ihrer Arbeit schleppen. Oder erscheinen uns geistige Armut und moralisches Elend um so häßlicher, in je feinerer Kleidung sie einhergehen? je glänzender die Verhältnisse sind, aus denen sie hervorschauen? Dann ist offenbar der Graf wiederum ärmer und elender als seine Beamten, der Ärmste und Elendeste von allen. So sollte ich mit ihm das größte Mitleid haben und würde es auch wohl, wenn ich wüßte – bis in die Einzelnheiten wüßte,– unter welchen Verhältnissen der Mann so geworden ist. Denn schließlich sind es doch die Verhältnisse, die den Menschen machen; und die, unter denen er aufgewachsen, waren vielleicht im moralischen Sinne verderblicher, als jene, welche seinen armen Hintersassen und Arbeitern ihre Verkommenheit aufnötigen. Wie kann der einzelne gesund sein, so lange die Verhältnisse ungesund sind? Und sind das gesunde Verhältnisse, die Tausende zum physischen, moralischen und geistigen Hungertuch – starving sagt der Engländer, – verdammen, damit einer, an der Tafel der Üppigkeit von früh auf schwelgend, nie die himmlischen Mächte kennen lernt? Und nie sich selbst, nie das Maß seiner Kraft, der hundert täuschende Flügel angesetzt werden? nie seinen wirklichen Wert, den die Schmeichler, die ihn umbuhlen, immer hundertfach übertaxieren, so daß der arme Narr in seinem von allen Seiten sorgfältig genährten Größenwahn gar nicht anders kann, als sich für einen Halbgott halten?
Gewiß, unsere modernen Realisten haben recht, wenn sie in der Erklärung ihrer Menschen wieder und immer wieder den Hauptaccent auf das »Milieu« legen, in welchem der Betreffende aufwuchs und lebt.
Wobei dann freilich unerklärt bleibt, wie aus demselben Milieu so grundverschiedene Menschen hervorgehen wie etwa der bestialische Skapzeck und der edelgesinnte Anders.
Der Wächter, der an meinem Turm vorüberstreift, pfeift seinen Eulenschrei und ruft die zweite Stunde ab. Ich werde noch mit ihm zum Nachtvogel werden.
*
Gott sei Dank! sie ist wieder hier mit den Kindern, während ihr Gatte in gräflichen Geschäften noch eine weitere Reise nach Warschau und Rußland hat antreten müssen. Sie hat freundliche Tage in Berlin verlebt, die noch freundlicher gewesen sein würden, hätten ihr Gatte und der Herr Graf in den Konferenzen nicht eine so böse Seide miteinander gesponnen. Sie konnte offen mit mir über diese Dinge sprechen, die mir aus der Korrespondenz der Herren, die durch meine Hände geht, soweit hinreichend bekannt sind. Es handelt sich um die Neuverpachtung der Kohlenwerke für die nächsten Jahre, bei der, wie jetzt die Entscheidung gegen die Ansicht des Oberdirektors gefallen ist, ein Verlust von anderthalb Millionen in sicherer Aussicht steht. Daß unter diesen Verhältnissen die Ausführung des Projektes, den Arbeitern in der unmittelbaren Nähe der Gruben menschenwürdige Wohnungen zu schaffen, wiederum ad calendas graecas vertagt wird, versteht sich von selbst. Wie er (der Graf) wohl seine Einwilligung zu so kostspieligen Experimenten geben solle, wenn der Oberdirektor in der Kohlensache recht behalte! Natürlich ist dieser dem ironischen Herrn die Antwort nicht schuldig geblieben, und es wäre beinahe zwischen ihnen zum Bruch gekommen, jedenfalls zum größten Gaudium des Herrn Subdirektors, der natürlich in dem ganzen Handel der Einbläser des Grafen gewesen ist.
Der arme Graf hat aber auch sonst Ursache zu seiner gereizten Stimmung gehabt. Aus seinem Hause scheint mit Isabel der letzte Schimmer des Behagens verschwunden zu sein. Er soll Himmel und Hölle aufgeregt haben, daß die Heirat nicht zu stande kam, und als Isabel dann doch ihren Willen durchsetzte, ganz zerschmettert und sein einziger Trost der gewesen sein, daß nun wenigstens auch Armand die Hoffnung draußen lassen müsse. Frau Dr. Eberhard, von der natürlich diese Mitteilungen stammen, behauptet, Armand habe nie welche gehabt, wozu ich natürlich im stillen aus tiefster Seele Amen sage. Überdies würde ja der Herr Papa nun und nimmermehr seine Einwilligung gegeben haben! Armand ist seit einem Jahre Offizier. Er steht bei den Gardedragonern und in dem Rufe, einer der flottesten Kavaliere der Residenz zu sein. Ich glaub's gern. Hübsch und gewandt genug ist er. Es fragt sich nur, ob seine Flottheit nicht größer ist, als die Zuschüsse zu seiner Gage aus seines Vaters Börse. Mögen beide sehen, wie sie miteinander fertig werden! Es wird immerhin schwer halten, seitdem die Gräfin nicht mehr, wie früher, die Vermittlerrolle übernehmen kann. Nachdem ihre Überspanntheit sich in den Kreuz- und Querfahrten, von denen mir Isabel schrieb, ausgerast, ist sie – bald nach Isabels Weggang – in tiefste Apathie verfallen, und man hat sie einer maison de santé übergeben müssen. Die arme Sibylle! Wie das zarte, liebe Mädchen mir von Herzen leid thut! Sie ist jetzt fast ganz in das Zimmer gebannt, die meiste Zeit bettlägerig, die andere in einem Krankenstuhl mit der Lektüre philosophischer und theologischer Schriften verbringend. Es soll nichts Rührenderes geben, als ihr durchgeistigtes, wachsbleiches Gesicht, aus dem die großen frommen Augen wie einer schon halb Verklärten blicken! Ich möchte sie so gern einmal wiedersehen.
Und dazu habe ich ja nun gegründete Hoffnung. Der Verleger hat meinen Roman angenommen unter der Bedingung, daß ich den ersten Teil kürze, was ja völlig mit meinen Wünschen übereinstimmt. Er zahlt ein Honorar, das Professor Richter mäßig nennt,, während es meine kühnsten Hoffnungen auch dann übertreffen würde, wenn ich mir überhaupt welche gemacht hätte. Das Buch soll noch in diesem Herbst erscheinen. Der Professor nimmt an, daß ich persönlich den Druck überwachen werde, bleibt also bei der Ansicht, daß meines Bleibens hier nur noch diesen Sommer hindurch sein dürfe, und – Frau Eve muß dem Vater recht geben! Während sie mir die Vorteile, die eine Übersiedelung nach Berlin für mich haben würde, auseinandersetzte, hatte ich zum erstenmale die Empfindung, daß sie nicht ganz ehrlich gegen mich war. Sie pflegt sonst bei einer Ansicht, die sie sich gebildet hat, fester zu beharren; auch hatte ihre Stimme nicht den gewohnten ruhigen Klang und sie stockte ein paarmal in ihrer Rede, was ihr sonst nie begegnet. Ich zerbreche mir den Kopf darüber, wodurch diese schnelle Bekehrung bei ihr veranlaßt sein kann. Daß der Professor gerade zum Herbst einen Amanuensis braucht, der ich dann sein soll, ist ja gewiß ein glücklicher Zufall; aber an dergleichen Chancen kann es doch in einer so großen Stadt bei einiger Protektion nicht fehlen. Da die Möglichkeit, daß sie mich um ihrethalben forthaben will, ausgeschlossen, die Wahrscheinlichkeit, daß sie für meine Seelenruhe fürchtet, äußerst gering ist, bleibt nur die eine Erklärung: sie spricht nach dem Wunsche, vielleicht im Auftrage ihres Gatten. Wobei sich dann wieder fragt, ob er den ungeschickten Sekretär los zu sein wünscht, oder – dummes Zeug! Das sähe dem Manne so unähnlich wie möglich, obgleich – lieber Freund, sei kein Narr! Du bist empfindlich, daß der besten aller Frauen nicht das Herz bricht, weil du deinen Ränzel schnüren mußt, und möchtest nun, anstatt einfach die Dinge zu nehmen, wie sie liegen, eine Shakespearesche Eifersuchtstragödie inscenieren, zu der sich nur leider die personae dramatis nicht finden wollen. Sie hat in ihrem kleinen Finger mehr Verstand, als die holde Desdemona in ihrem hübschen Köpfchen; und wenn Othello, anstatt Feldherr der Republik Venedig, Oberdirektor des Grafen Waldburg gewesen wäre, hätte er mehr zu thun gehabt, als über ein verirrtes weißes Batisttuch die schwärzesten Grillen zu fangen. Restierte nur der Cassio, zu dessen Lobe sein bester Freund doch nur versichern konnte, daß er ein bildhübscher Junge sei, – etwas, das, soviel ich weiß, selbst mein schlimmster Feind noch nicht von mir behauptet hat.
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Truth is stranger than fiction! Während meine Phantasie zaghaft mit einer unmöglichen Eifersuchtstragödie spielt, hat in Eisenhammer eine sehr wirkliche, seltsamste ihren erschütternden Abschluß gefunden.
Albinka hat sich in dem kleinen See hinter dem Dorfe ertränkt! Sobald die Nachricht hierher kam, bat ich um Urlaub und eilte hinüber. Von Anders war nicht viel zu erfahren – der sonst so Gelassene war ganz zerschmettert – desto ausgiebiger flossen die Kommentare der dörflichen Geschichtenträger beiderlei Geschlechts. Man hatte an der Unglücklichen längst eine ihr sonst ganz fremde Niedergeschlagenheit beobachtet, die sich bis zur Schwermut und Menschenscheu vertiefte. Die von ihr früher so gern aufgesuchten Tanzböden mied sie völlig, ging selten aus dem Hause und dann nur, um in Feld und Wald die einsamsten Stellen aufzusuchen. Man ließ sie gewähren und verlor schließlich an ihr, die sonst immer in aller Leute Munde war, jedes Interesse, das um so lebhafter wieder erwachte, als das Gerücht auftauchte, die Spaziergänge der schönen Frau seien nicht ganz so einsam, wie man angenommen hatte. Das Gerücht erhielt sich nicht nur, sondern fand bald mehr oder weniger glaubwürdige Bestätigung von verschiedenen Seiten, und der letzte Zweifel mußte schwinden, als der Betreffende im trunkenen Übermut den Wirtshauskumpanen gegenüber sich seiner Eroberung rühmte. Es war niemand anders als Stanik Stolarzeck, jener widerwärtige, brutale, stiernackige Mensch, der früher stets Marthe mit seinen Werbungen belästigt hatte, von Albinka, die Marthe aus dem Hause haben wollte, sehr begünstigt war und, als diese das Haus verlassen, die Gunst der schönen Stiefmutter sich weiter zu nutze gemacht hat, wie aus dem traurigen Ausgang des schlimmen Handels mit nur zu großer Sicherheit hervorgeht. Man nimmt an, und muß wohl annehmen, daß der Mensch dem unglücklichen Weibe, wenn sie sich von ihrem Gatten scheiden ließe, die Ehe versprochen und sie daran gezweifelt hat, vielmehr überzeugt gewesen ist, er werde sein Versprechen nicht halten. Eine Überzeugung, der sie sich wohl nicht verschließen konnte, wenn der wüste Gesell geflissentlich unter ihren Augen sein gewohntes liederliches Treiben mit den notorisch frechsten Dirnen in der Fabrik fortsetzte. Irgend eine schlimmste von den schlimmen Scenen, die sicher zwischen den beiden sich abgespielt, wird dann die Katastrophe herbeigeführt haben. Man munkelt noch von einem anderen Umstande, welcher die Unglückliche, da sie ihn nicht länger verbergen konnte, in den Tod getrieben.
Der arme Anders! Er hat die so viel jüngere Frau, wie denn das zu sein pflegt, mit der ganzen Kraft seines treuen Herzens geliebt, und wehrt sich nun wie ein verzweifelter gegen die traurige Wahrheit, die doch mit Händen zu greifen ist. Ich glaube nicht, daß er den Schlag verwindet. Er weist jeden Beistand zurück: Frau Eves, die in gewohnter Hilfsbereitschaft ihre Dienste angeboten hat, selbst Marthes, welche den einen der Stiefbrüder, oder beide zu sich nach Berlin nehmen will. Dabei ist die Wahl, die er für die Person getroffen hat, welche in Zukunft bei ihm haushalten soll, so sonderbar, daß ich an seinem gesunden Verstande zu zweifeln beginne: die alte Kubitzka, an der Frau Eve und ich an jenem Abend hier unten in der Halle Samariterdienste thaten; die allen jungen Leuten, die sie bei einander stehen sieht, prophezeit, sie würden noch einmal ein Paar werden, und die von dem ganzen Dorfe einfach für verrückt gehalten wird. So darf Anders sich rühmen, nachdem er die Schönste der Schönen sein Weib genannt, die Häßlichste der Häßlichen zur Haushälterin zu haben. Möglich, daß dieser ungeheuerliche Gegensatz den phantastischen Mann gereizt hat. Andere haben eine andere Auslegung. Die Kubitzka sei, als Anders vor nun fünfundzwanzig Jahren aus seiner deutschen Heimat in das polnische Nest kam, eine kinderlose annehmbare Witwe gewesen, die ihr Auge auf den stattlichen Fremden geworfen, obgleich er bereits mit Frau und Kindern versehen war. Sie habe sich dann, als Anders' erste Frau starb, sichere Hoffnung auf seinen Besitz gemacht, die er durch seine Heirat mit der schönen Albinka täuschte. Darüber sei sie verrückt geworden, und Anders wolle jetzt die Ärmste für das viele Leid, das er ihr wider Willen zugefügt, soweit es in seinen Kräften stehe, entschädigen. Auch das sähe ihm ähnlich. Aber Unsinn ist und bleibt es. Ich werde an Marthe schreiben, ob da nicht irgendwie eine Abhilfe geschafft werden kann.
Und wenn nun schon die Erinnerung an jene schwüle Sommernacht, die mich meine linke Hand gekostet hat, zu den peinlichsten meines Lebens gehört, so ist sie durch diese grausigen Geschehnisse noch um vieles peinlicher geworden. Es ist entsetzlich, in welchem Dunkel wir armen Menschen wandern! Hätte ich die Unglückliche retten können? Wodurch? Daß ich an meinem väterlichen Freund den schnödesten Verrat übte? Die Heiligkeit des Gastrechts schändete? mich in meinen eigenen Augen für immer ehrlos machte? Und das alles für eine, die doch verloren war! die zu einem Stanik Skolarzeck sich erniedrigen konnte! Sie, die die Natur in einer üppigen Gebelaune geschaffen! die vielleicht unter anderen Verhältnissen –
Da wäre ich denn glücklich wieder bei den Verhältnissen, dem Milieu, wie unsere Realisten sagen, und vor dem ich von Tag zu Tag mehr Respekt bekomme. Verhältnisse! es klingt fast so fürchterlich, wie die »Mütter« im Faust. Sind sie es doch, aus deren geheimnisvollem Schoße alles emporwächst. Und dessen Geheimnis man ergründen muß, will man zur Klarheit und zur Wahrheit gelangen.
Jedenfalls will ich in meiner nächsten Novelle (oder wird es wieder ein Roman?) alle Sorgfalt auf das Milieu verwenden.
Damit es mir ergeht, wie Zola mit seinem »Germinal« in den Augen unseres Oberdirektors, der, als gelegentlich Frau Eve, wohl nicht, ohne einen Avis für mich geben zu wollen, von der intimen bergmännischen Sachkenntnis sprach, die der Meister in dem genannten Roman entwickelt habe, erst verwundert zuhörte und dann mit Nachdruck sagte: »nimm's mir nicht übel, liebe Frau, aber von diesen Dingen verstehst Du nichts. Ich kann Dich versichern, wenn einer meiner Obersteiger solche Dummheiten machte, wie der Mann in dem Buche seine Leute machen läßt, er wäre die längste Zeit Obersteiger gewesen.«
*
Wenn Fritz Reuter behauptet, daß man gut nur Geschichten erzählen könne, bei denen man selbst »dabei gewesen ist«, darf man sie doch nicht erzählen wollen, bevor sie einem in eine gewisse sänftigende Zeitferne gerückt sind.
Der Tod der schönen Albinka schien mir der tragische Abschluß einer Dorfgeschichte, die ich nur so hinzuschreiben brauchte, um Berthold Auerbach und Gottfried Keller ein Paroli zu bieten. Dann fand ich bald, daß es an allen Ecken und Enden haperte, ich den Personen und Geschehnissen gegenüber, die ich so genau kannte, gar keine dichterische Freiheit hatte. Das würde ja in den Augen eines Realisten von der strikten Observanz meiner Arbeit nur zum Vorteil gereicht haben; in den meinen wurde sie dadurch zu einer trockenen Photographie anstatt zu einem farbenfrohen Gemälde. Dazu kommt: ich kann aus der Geschichte nicht wohl fortbleiben und die Scheu nicht überwinden, mich in Scene zu setzen. Und indem ich es doch versuche, merke ich erst, wie unklar ich über mich selber bin, über die Motive, die mich bewegt haben, im Dunkeln tappe, und schäme mich der Anmaßung, in den Seelen der anderen, die ich doch noch weniger kenne, wie in einem aufgeschlagenen Buche lesen zu wollen. So kam ich bei der Schilderung Marthes auf den wunderlichen, durch nichts gerechtfertigten Gedanken – es widerstrebt mir, ihn niederzuschreiben – sie habe mich geliebt, Albinka es gewußt und in jener Nacht nicht im Wahnsinn der Überraschung und Scham das Messer ergriffen, sondern um endlich Rache an der verhaßten Nebenbuhlerin zu nehmen. Auch Anders macht mir viel zu schaffen. Ich sah einen poetischen Meisterzug darin, wenn ich den guten, wohlwollenden Menschen, der nie jemandem etwas zuleide gethan, über die Grausamkeit, mit der das Geschick ihn behandelt, wahnsinnig werden ließe, und werde von abergläubischer Furcht gefoltert jetzt, wo sich bei ihm Symptome zeigen, die, wenn nicht auf völligen Wahnsinn, so doch auf eine starke Störung seines Geisteslebens schließen lassen. Er soll alles Ernstes damit umgehen, die alte Kubitzka zu heiraten. Die andere sei jung und schön gewesen und habe ihn betrogen, diese, die alt und häßlich, werde ihm treu sein; jene, die ihn nie geliebt, habe sich sein Weib nennen dürfen, so solle diese, die ihn immer geliebt, nicht seine Magd bleiben; je ungerechter das Schicksal, um so mehr müßten die Menschen nach Gerechtigkeit streben, und wollten die anderen Menschen darin nicht mitthun, so sei das kein Grund für ihn, die Hände in den Schoß zu legen. So habe es Christus gehalten und dafür den Kreuzestod erlitten; so Arnold Winkelried, als er sich die österreichischen Speere in die Brust stieß. Er wollte der Freiheit eine Gasse machen, die geknebelt sei, so lange die Ogres ihre Eisenpanzer der nackten Brust des Volkes entgegenstemmten. Jede Fabrik, deren Maschinen vom Kapitalismus geheizt würden, sei ein Ogre, der zu Boden müsse. Und ginge darüber alles zu Grunde – es sei für den Menschen lange nicht so schmachvoll, mit den Tieren in Freiheit von den Kräutern des Feldes sich zu nähren, als im Dienste der Ogres sein Brot zu essen!
Diese letzten Phrasen habe ich aus seinem Munde mit meinen Ohren gehört. Er sagte alles ohne scheinbare Erregung; nur in seinen grauen Augen unter den dunklen Brauen blitzte es manchmal unheimlich.
Und ich muß mir sagen, daß zum mindesten diese verrückten Ogre-Ideen von dem Mittag datieren, als ich ihm im Walde mein Märchen erzählte!
So habe ich im Herumtasten an dem ungefügen Stoff, in mißglückten Versuchen, die prosaisch spröde Masse in poetischen Fluß zu bringen, zwei kostbare Monate verloren.
Frau Eve ist sehr unzufrieden mit mir; ich bin es wahrlich nicht minder.
*
Ich hatte, ohne es ihr zu sagen, an ihren Vater nach Berlin geschrieben, daß, so er mich noch brauchen könne, ich zum ersten Oktober, wenn er wolle, noch früher, zu seinen Diensten stehe. Er antwortete umgehend, ich sei ihm sehr willkommen, und er erwarte mich bestimmt zum ersten Oktober. Natürlich machte ich dem Chef die nötigen Mitteilungen, die er gleichmütig entgegennahm. Warum auch nicht? Er verliert an mir nichts, und für den Verlust, den ich erleide, braucht er nicht aufzukommen. Ihr hatte ich es nicht zu sagen gewagt; sie mochte es durch ihren Gatten erfahren. Und ich nahm an, daß sie es erfahren habe und mit Stillschweigen über die Sache weggehen wolle.
Ich hatte mich wieder einmal geirrt.
Heute nachmittag zum Kaffee geladen, hatte ich kaum ihr Zimmer betreten, als sie mir lebhaft entgegenkam und, meine beiden Hände ergreifend, rief: So ist es denn wirklich entschieden! Sie wollen fort!
Sie selbst haben mich ja fortgeschickt, gnädige Frau!
Nennen Sie mich nicht gnädige Frau, wenn Sie solchen Unsinn reden! Sie hätten lange warten können, bis ich Sie fortschickte. Sie wissen, wie Sie mir fehlen werden.
Und ich weiß nicht, wie ich ohne Sie leben soll.
Wir waren beide so bewegt, daß, als wir uns dann gesetzt hatten, eine Weile verging, bevor wir weiter sprechen mochten.
Das wird sich finden, wie alles in der Welt, sagte sie, an meine letzten Worte anknüpfend, für Sie sehr viel schneller und leichter als für mich, die ich hier in meiner Einsamkeit bleiben muß auf wer weiß wie viele Jahre. Wie oft ist mein Mann auf Wochen verreist; dann kommen Tage und Tage, wo ich kein Wort spreche außer mit den Kindern und den Dienstboten. Und ist er hier, so gehören Gespräche über Litteratur und Kunst auch nicht zur Tagesordnung. Ich beklage mich nicht. Ich glaube, alle Männer, die es in ihrem Berufe, er sei nun, welcher er sei, zu etwas Bedeutendem bringen wollen, müssen einseitig sein; und mein Mann ist in dem seinen so bedeutend, daß er, wenn einer, das Recht hat, sich für eine Menge Dinge, unter anderen für Kunst und Litteratur, nicht zu interessieren. Nur daß sie gerade die sind, denen mein Interesse von Jugend auf gegolten hat und Zeit meines Lebens gelten wird. Ich war durch meinen Vater und die Menschen, die in seinem Hause verkehrten, nach dieser Seite hin etwas stark verwöhnt. Und nun werden Sie lachen, wenn ich sage: mit Ihnen, der Sie nie in Berlin gewesen sind, ist mir ein Stück Berlin zurückgekommen. Ich durfte wieder über meine Lieblingsthemata sprechen; durfte sogar, indem Sie mich an Ihren Arbeiten teilnehmen ließen, intimere Blicke in die Werkstatt eines Dichters werfen, als je zuvor. Und das beste von allen –
Hier stockte sie und fuhr dann in ihrer mutigen Weise, mir gerade in die Augen blickend, fort:
Sie haben nie eine Schwester gehabt. Ich meine, das ist ein Unglück für jeden jungen Mann, zumal für einen, der von Berufswegen unter anderem auch in der Frauenseele geläufig lesen soll. Ich habe mir eingebildet – nein! – ich weiß, daß Sie in mir eine Freundin gefunden haben, die, wenn sie auch besser, geistreicher, und der Himmel mag wissen, was noch alles sein könnte, es ganz gewiß so gut mit Ihnen meint, wie es nur eine Schwester meinen kann.
Sie reichte mir die Hand, die ich, mich herabbeugend, küssen wollte. Und dann, ich weiß nicht, wie es geschah, hatte ich sie auf die Lippen geküßt – den reinsten Kuß, den je ein Bruder auf den Mund seiner Schwester gedrückt hat.
Keine Spur von Befangenheit dann weder bei ihr, noch bei mir! Im Gegenteil! es war, als ob ein Alp von uns genommen wäre, und wir dürften zum erstenmale nach unserer Herzen Wunsch frei miteinander verkehren. Wir lachten und scherzten und neckten uns und waren übermütig wie Kinder. Es war die glücklichste Stunde meines Lebens. Wäre sie doch ein paar Tage früher gekommen! Ich hätte mich wahrlich noch sehr bedacht, bevor ich ein so hohes Glück für das Linsengericht hingab, das sich Berlin nennt. Jetzt ist es zu spät.
*
Ich soll für meine Überhast gründlich abgestraft werden. Da liegt ein Brief vor mir – von ihr! Sie wird zum Herbst nicht hierher –
»Neapel. Hotel du Louvre. Mai 188*
Liebes Sonntagskind! Du hast Dich zu früh auf mein Kommen gefreut. Ich soll noch eine Zeit in der Welt herumsinbadisieren, ein paar Monate wieder einmal auf Capri, Herbst und Winter in Palermo, vielleicht Kairo verleben. Die Ärzte wollen es (NB. nicht meinethalben!). Es ist grausam, besonders, weil es so grausam langweilig ist. Ich kann Dir nicht sagen, wie ich dies Leben satt habe. Ich möchte manchmal Räuber in den Abruzzen werden, da ich vermute, daß diese Edlen nicht täglich dreimal Toilette zu machen brauchen. Mich überläuft ein Schauder, wenn ich nur das Wort Korso aussprechen höre; und wenn die Kellner die Thür zum Speisesaal aufreißen, meine ich immer, daß es nicht zur Table d'hôte, sondern direkt zum Schaffot geht. Es wäre vielleicht zu ertragen, gäbe es keine Engländer. Sie werden noch mein Tod sein. Bei den alten Gentlemen mit den dünnen Lippen, die stets nach Luft zu schnappen scheinen, und den hohen Krawatten, die ihnen die mageren Hälse zuschnüren, muß ich immer an Deinen Ogrekönig denken, der einen Tannenwipfel in der Kehle stecken hat; aber die jungen mit ihren ausgeschnittenen Kragen und Westen und der studiert blasierten Miene, die immer sagen zu wollen scheint: ich weiß ja, daß ich ein Adonis bin, aber ich lege keinen Wert darauf – sie sind noch viel abscheulicher. Jeder von ihnen könnte zu Deinem Ogreprinzen Modell gesessen haben. Unter den Damen sind oft auffallend hübsche Erscheinungen, aber – ich kann alles ertragen, nur keine Koketterie. Und wenn Du jetzt sagst: außer bei dir selbst, so bist Du kein gutes Sonntagskind, sondern ein böser Bube von der schlimmsten Sorte, der wahrhaftig nicht wert ist, daß eine arme kleine Fee sich für ihn die Finger wund schreibt.
Ich freue mich furchtbar auf Deinen Roman, in dem ich die Heldin bin. Er wird mich, so lange ich ihn lese, die grausame Prosa um mich her vergessen lassen, und daß ich nicht besser bin als die Bataillone von Frauenzimmern, die mit mir die Coupés erster Klasse auf den Eisenbahnen, die Konversations-, Lese- und Speisesäle der Hotels unsicher machen, und bei deren schauderhaftem Anblick ich immer frage, wozu um alles in der Welt sie wohl der Herrgott geschaffen hat.
Schreibe mir noch hierher, vorausgesetzt, daß Du wieder einen so lieben Brief fertig bringst wie Deinen letzten; empfiehl mich Deiner angebeteten Frau Eve, und – nein! Eitelkeit war immer eine Schwäche bei Dir, die ich nicht noch vergrößern darf. Ich schicke Dir also das nicht, was ich Dir sonst geschickt haben würde, sondern bin und bleibe nur, wie immer,
Deine Maiennacht.«
*
Ich habe geglaubt, Eve, nachdem sie meine Schwester geworden, aus meiner thörichten Leidenschaft für Isabel nicht länger ein Geheimnis machen zu sollen, und mich weiter nicht geschämt, als sie mich lächelnd versicherte, daß diese meine Liebe alles mögliche für sie sein könne, nur kein Geheimnis. Mit der Geheimhaltung habe ich es genau so klug angefangen, wie der Vogel Strauß, der sich seinen Verfolgern unsichtbar zu machen glaubt, wenn er den Kopf in den Sand steckt. Als ob es überhaupt einen Dichter gäbe, der sein Herzensgeheimnis für sich habe behalten können! Die dichterische Plauderhaftigkeit sei manchmal für andere nicht wenig unbequem, aber die Poesie sauge aus ihr ihre feinste Nahrung, und so müsse man sich mit Ergebung in das Unvermeidliche schicken, wie es gewiß auch Isabel thun würde, wenn sie sich – von dem Märchen ganz zu schweigen, das so durchsichtig sei, wie ein Nebelschleier – in meinem Roman von ihrem reizenden Köpfchen bis zu ihren kleinen Füßen abkonterfeit sähe.
So sei denn eine Leidenschaft, die für den Dichter zur begeisterten Muse werde, so gar thöricht nicht, und überdies, was sie sehr hoch veranschlage, eine mächtige Wehr und Waffe gegen das Gemeine, dessen sich ein junger Mann sonst so schwer erwehre. Nur müsse er sich bewußt bleiben, daß seine ideale Welt und die Wirklichkeit zwei sehr verschiedene Dinge seien, und um Himmels willen nicht versuchen wollen, die eine mit der anderen zu verquicken. Das gebe nichts als Konfusion und Unglück, wovon man sich überzeugen könne, wenn man einen Blick in die Ehen, besonders die jungen werfe. Denn die Liebe teile mit der Poesie die idealisierende Tendenz, nur daß die Poesie in dem Gedicht die Scheidung beider Welten rein vollziehe, wozu die Liebe nicht in demselben Maße im stande sei. Wem ein Gott zu sagen gab, was er leide, sei eben dadurch von den Leiden erlöst, während die anderen Menschen ihre Qual stumm weiter tragen müßten.
Mit anderen Worten, sagte ich, es ist ein Glück für mich, daß Isabel nicht mein Weib werden sollte.
Ein sehr großes sogar, erwiderte sie; oder es hätte unbedingt jene Konfusion gegeben, die Euch beide tief unglücklich gemacht hätte.
Aber Sie sagten doch eben selbst, ein Dichter wisse sich aus diesem Unglück zu erlösen.
Erstens würde das nur für Sie gelten, nicht für Isabel; und zweitens: durch welche grausamen Kämpfe müßte der Sieg errungen werden! Nein, es ist schon besser so, wie es ist.
Isabel ist nicht glücklich, murmelte ich.
Wissen Sie das so bestimmt, Sie eitler Mensch? Wenn ich nun behaupte, Baron Schönau ist gerade der Mann für ein Wesen wie Isabel, die mit ihren blendenden äußeren Vorzügen nun einmal ein Weltkind ist und bleibt, trotzdem ich ihr Geist und Gemüt keineswegs absprechen will. Der Schwerpunkt wird für sie immer in die ersteren fallen, und Geist und Gemüt nur als Folie dienen, den Glanz jener zu erhöhen.
Sollten Sie hier nicht ausnahmsweise ein wenig ungerecht sein?
Warum nicht, wenn es Sie beruhigt. Übrigens kann ich Ihnen sagen, welche Bewandtnis es mit dem Herbst- und Winteraufenthalt auf Capri und in Sicilien hat. Der Arzt in Rom will bei dem Baron den ersten Anfang eines Lungenleidens konstatiert haben, und Doktor Eberhard, der ihn hier gelegentlich untersuchte, meint, es könne etwas daran sein. So ist es gewiß verständig, wenn man beizeiten vorsorgt. Nur daß dieser jahrelange Aufenthalt in der Fremde schließlich doch kostspieliger werden dürfte, als mit den Einkünften Schönaus verträglich ist. So meint wenigstens mein Mann. Es sollte mir aufrichtig leid thun. Ich kann mir Isabels leuchtendes Bild – werden Sie jetzt zufrieden sein? – ihr zur Seite, oder hinter ihr herschleichend, die graue Schattengestalt der Sorge, nicht ohne tiefes Mitleiden vorstellen. Sie gehört in glänzende Verhältnisse.
Und ist doch aus so kläglichen hervorgegangen!
Um sich aus ihnen zu retten, sobald sie konnte. Wie weit sind wir mit unserer Novelle?
Sie dringt beständig darauf, daß ich, wohl oder übel, die angefangene Dorfgeschichte vollende. Ich halte nichts von den Dichtern, sagt sie, die nur Dichtungsfragmente bringen; sie sind, und wären die Fragmente noch so vielversprechend, doch nur fragmentarische Genies. Ein echter Dichter – jeder echte Künstler – muß sein, wie die Ameise Tamerlans, die mit ihrem Weizenkorn neunundneunzigmal den Stein zu erklimmen versuchte, bis es ihr beim hundertstenmale gelang, oder wie Jakob, der mit dem Engel rang und zu ihm sprach: ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn.
So bin ich wieder an die Arbeit gegangen mit leidlichem Erfolg. Wenn ich nur erst wüßte, wie ich Anders endigen lassen soll! Er ist die Hauptperson geworden, und da die Geschichte durchaus tragisch ist, kann sein Ende nur ein tragisches sein. Aber welches? Ihn völlig wahnsinnig werden zu lassen, davon hält mich eine unüberwindliche Scheu zurück: ich fürchte immer, ich könnte dadurch den Wahnsinn zur traurigen Wirklichkeit machen. Das ist Unsinn, aber ich komme nicht darüber weg. Und ließe ich ihn wahnsinnig werden, ich könnte ihn doch nicht die verrückte Hexe Kubitzka heiraten lassen; ich müßte irgend eine Katastrophe erfinden, in der er einen seiner würdigen Tod fände. Aber welche? Samiel hilf!
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Das hat mir nicht von dem Chef gefallen. Wir sprachen – in Eves Gegenwart– über Anders, der die Kubitzka noch immer im Hause hat und fortfährt, durch seine krausen Reden die Leute in Erstaunen zu setzen. Ich sagte, daß ich den Ärmsten für schwer krank halte, und ob es nicht angehe, ihn in eine Anstalt zu bringen, in der er wieder genesen könne? Eve stimmte mir bei. – Ich weiß nicht, was Ihr beide wollt, rief ihr Gatte. So lange der Mann, wie es der Fall ist, seine Arbeit regelmäßig und ordentlich thut, habe ich keine Veranlassung, mich einzumischen. Das mit der Kubitzka ist seine Privatangelegenheit, und was seine Faseleien betrifft, so lege ich darauf kein Gewicht. Die socialdemokratische Lehre ist ein solcher Blödsinn von A bis Z, daß es bei einem, der damit behaftet ist, auf ein bißchen mehr oder weniger Verrücktheit gar nicht ankommt.
Ich erlaubte mir zu bemerken, daß eine Lehre, zu der sich Hunderttausende von denkenden Wesen bekennten, doch mindestens einen Kern Wahrheit in sich bergen müsse, und daß es vielleicht nur darauf ankomme, diesen wahrhaftigen Kern aus dem übrigen, das ja immerhin Thorheit sein möge, herauszuschälen.
Auch das wollte er nicht gelten lassen.
Sichten Sie die Spreu, wie Sie mögen, rief er; Spreu bleibt Spreu. Selbst wenn ich von dem kommunistischen Nonsens absehe, von der freien Wahl, der Wertgleichheit der Arbeit und anderen völlig utopistischen Träumereien – der Unsinn des Unsinns bleibt: daß die Menge herrschen soll. Das kann sie nicht, hat sie nie gekonnt, wird sie niemals können. Einer muß herrschen, sagt, soviel ich weiß, schon der alte Homer. Das ist das einzig Richtige. Schon, wo zwei herrschen wollen, ist einer zu viel. Woher kommt das ganze Unglück in unserer Verwaltung als daraus, daß mir der Graf beständig in meinen Kram hineingepfuscht und mir das Concept verdirbt? Wobei ich an Herrn – nun nomina sunt odiosa – und andere Fuchsschwänze, die im Trüben krebsen wollen, noch gar nicht gedacht haben will. Wäre es nicht darum, wir könnten hier ruhig und zufrieden leben, die Arbeit würde florieren, die Leute hätten keinen Grund zur Klage –
Du giebst also zu, daß sie ihn jetzt haben; warf Eve ein.
Beweist das etwas für die Socialdemokratie? rief er. Es beweist nur, daß die beste Maschine schlecht arbeitet, wenn sie mit Reibungen zu kämpfen hat, die ganz unnötig sind und so leicht zu beseitigen wären. So, wie es jetzt ist, kann es leicht passieren, daß sie eines schönen Tages stillesteht. Die letzten Nachrichten aus Westfalen lauten spottschlecht. Ein Streik scheint unvermeidlich, und wenn es auch kein Generalstreik wird – das wird es ja nie – so können die partiellen Streiks schon Unheil genug anrichten. Dann geht der Tanz vier Wochen später bei uns los. Unsere Verhältnisse liegen freilich ganz anders, und die Sache ist von vornherein aussichtslos; aber die Leute sind eben bodenlos dumm und rennen blind in ihr Verderben.
Eve brach das unerquickliche Gespräch ab; es hätte ja auch zu nichts geführt, es fortzusetzen.
Ich hatte freilich die Frage auf den Lippen: wer ist denn schuld an der bodenlosen Dummheit der Leute? Die Antwort hätte wahrscheinlich gelautet: die Pfaffenwirtschaft. Ich gebe zu, daß sie einen großen Teil der Schuld trägt – es sind eben nicht alle Pfarrer wie mein braver Szonsalla – aber trägt sie sie allein? Ist es an anderen Orten, wo man die Unwissenheit der Leute der Pfaffenwirtschaft nicht in die Schuhe schieben kann, denn so wesentlich viel besser?
Nein, mein verehrter Herr Chef: mit dem aufgeklärten Despotismus, auf den denn doch die Einzelherrschaft hinausläuft, geht es heutzutage wirklich nicht mehr. Man wird schon versuchen müssen, ob nicht ein Schuh daraus wird, wenn man das Ding einmal umkehrt. Daß dabei verschiedene sieben Sachen, die an und für sich zweifellos sehr hübsch sind, entzweigehen, wird sich freilich nicht vermeiden lassen.
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Vorgestern war der Geburtstag meines Lieblings Erna. Ein Pate hatte ein kostbares Album geschickt mit dem wunderlichen Motto: Trau, schau, wem? Eve bat mich, ich sollte ein paar Verse hineinschreiben, die natürlich nicht für das jetzige Verständnis des Kindes berechnet zu sein brauchten. Ich habe seit Monaten keine Verse gemacht – das Novellenschreiben scheint sich nicht gut damit zu vertragen – und brachte gestern nacht, nicht ohne einiges Kopfzerbrechen, die folgenden zu stande:
Trau, schau, wem!
Es ist noch längst nicht alles Gold, was glänzt,
Und manches glänzt nicht, was doch eitel Gold ist;
Nicht immer scheint die Sonne, wenn es lenzt.
Und mancher Tag im Winter frühlingshold ist;
Du siehst nicht manchem armen Mädchen an,
Daß ihre Seele voll von süßem Duft ist,
Und Hamlet sagt: es lächelt mancher Mann
Beständig, der ein abgefeimter Schuft ist;
Gar manches scheint geschnitzt aus ganzem Holz,
Was kläglich doch aus Stücken nur geleimt ist;
Oft wächst an
einem Baume dumm und stolz,
Auch giebt's viel Ungereimtes, das gereimt ist;
Gar manches Werk dem Publikum gefällt,
Das doch, bei Licht beseh'n, der reine Schund ist,
Und manche Frau geht klaglos durch die Welt,
Der das gequälte Herz zum Sterben wund ist;
Gar manches steht in der Olympier Hut,
Was einem Cato nimmermehr genehm ist;
Auch dieses merk dir, Kind: nur dem geht's gut
Im Leben, dessen Wahlspruch: Trau, schau, wem? ist!
Wissen Sie, sagte Eve, wie mir Ihre Verse vorkommen? Wie das Menü sparsamer Hausfrauen am Sonnabend, das man eine Wochenübersicht nennt. So haben Sie von allem, was Sie bisher erlebt, etwas genommen und sich den Anschein gegeben, aus ganzem Holz zu schnitzen, während Sie doch nur aus Stücken – nicht kläglich, da muß ich Sie gegen Sie selbst in Schutz nehmen! – aber doch leimten. Wollen Sie es auf eine Stichprobe ankommen lassen?
Bitte!
Das unscheinbare arme Mädchen mit der Seele voll von süßem Duft ist Marthe.
Zugegeben.
Mit dem eitel Gold, das nicht glänzt, haben Sie mir schmeicheln wollen.
Nicht schmeicheln!
Still! Der Baum, an dem dumm und stolz in trauter Gemeinschaft wachsen, ist natürlich ein gräflicher –
Getroffen!
Wie der stets lächelnde Schleicher ein bürgerlicher Subdirektor, der sich gern zum Generaldirektor liebedienern möchte.
Aufzuwarten!
Neben dem sich dann der stolze Cato in der Person des Herrn Verfassers sehr vorteilhaft abhebt.
Und das nennen Sie eine Stichprobe!
Ich bin gleich zu Ende. Daß Sie Ihrer lieben Mutter mit der »klaglosen Frau« pietätvoll gedacht haben, ist schön von Ihnen; aber daß Sie in dem ersten Verse Ihre Gottheit verleugnen, wie Petrus den Herrn, ist abscheulich. Und das, bloß um mir nach dem Munde zu reden!
Ich verstehe Sie nicht.
Aber ich nehme alles zurück und bekenne reuig: sie glänzt nicht nur, sondern ist Gold, so, daß Eitel-Gold im Vergleich dazu allerordinärstes Kupfer ist, und es der liebe Herrgott überhaupt gar nicht schaffen, sondern nur ein Poetengehirn erträumen kann.
Hören Sie auf!
Wenn Vogel Strauß zugeben will, daß er wieder einmal seinen klugen Kopf in den Sand gesteckt hat.
Alles, was Sie wollen!
Sie war so übermütig, wie ein Mädchen von sechzehn Jahren.
Welch eine Frau! Mein Leben wird nicht ausreichen, ihr zu danken für das unermeßliche Licht, das sie in mein dunkel-einsam Leben getragen hat!
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Hätte ich eine Faser der herkulischen Kraft, die Zolas Muskeln schwellt, wenn es gilt, einen Augiasstall zu räumen, so müßte sie sich jetzt regen. Der Chef hat richtig prophezeit: die Streikbewegung der Bergarbeiter in Westfalen hat sich für unsere Arbeiter kontagiös erwiesen. Noch ist es nicht bis zum Streik gekommen, aber er steht vor der Thür. Es summt in unseren Arbeiterkreisen, wie in einem Bienenkorbe, dessen Volk schwärmen will. Der Chef ist fortwährend unterwegs, von einem Werke zum anderen, den Beamten Mut einredend, den Leuten Vernunft predigend, neunundneunzigmal untersuchte Schäden und Übelstände zum hundertstenmal untersuchend. Er hat mich fast beständig in seiner Begleitung. Auf den langen Fahrten von einem Ort zum anderen bemüht er sich, mir begreiflich zu machen – was er früher nie gethan – um was es sich eigentlich handelt, und wie unrecht die Leute haben. Wenn man ihn hört, übertrifft nichts die Ausbündigkeit ihrer Thorheit, sind sie ganz von Gott verlassen. Und es ist wahr: fragt man sie, wo sie denn der Schuh drückt, daß sie durchaus einen Streik haben müssen, kommen die sonderbarsten Dinge zu Tage. Der eine meint, er sei ja soweit zufrieden, aber daß der Schulmeister jetzt gar liniierte Schreibhefte verlange, gehe doch über den Spaß. Ein anderer will streiken, weil er, wie er behauptet, bei der letzten Lohnauszahlung ungerechterweise um zwanzig Pfennig verkürzt sei; ein dritter, weil ihn der Obersteiger, der allerdings sein Pate sei, fortfährt, mit Du anzureden, trotzdem er es sich verbeten. – Ich glaube nur, dies und anderes Thörichte ist nur Verlegenheit und Feigheit der Leute, die dem gestrengen Herrn Oberdirektor gegenüber nicht mit der Sprache herauszugehen wagen. Unter sich werden sie ganz anders reden.
Und wenn der Chef mir vorrechnet und ziffernmäßig beweist, daß von einer Lohnaufbesserung unter den augenblicklichen Verhältnissen gar nicht die Rede sein könne, wolle man sich nicht von der Konkurrenz auf dem Weltmarkte ausschließen und mit Defizit arbeiten, so frage ich mich, ob es gerecht sei, daß die armen Argiver in den rußigen Blusen büßen müssen, was die befrackten Könige auf dem Weltmarkt gesündigt haben; und ob das Defizit gar so groß sein würde, wenn der Herr Graf seiner Zeit nicht zwei Millionen in dem neuen Schloß verbaut hätte und sich in Zukunft mit der Hälfte der Dienerschaft und dem halben Marstall begnügte.
Diese Medaille hat denn doch eben auch ihre zwei Seiten, und die mir jetzt täglich zugekehrt ist, welch Medusenantlitz zeigt sie! Ich glaubte, von Eisenhammer her das Elend gründlich zu kennen – ich habe doch nur die Oberfläche gesehen, nicht in die grauenhafte Tiefe. Unsere Verhältnisse dort waren fürstliche im Vergleich zu denen, die ich jetzt in den Dörfern und Ortschaften um die Kohlenwerke herum kennen gelernt. Gestern waren wir in einer Baracke von Haus, das zufällig den Leuten noch nicht über den Köpfen zusammengefallen ist, von siebzig Menschen bewohnt wird und eigentlich nur drei bewohnbare Räume hat – in dem einen, dem größesten, dreißig Menschen: Männer, Weiber, Kinder – zur Nacht! – und die Hälfte betrunken! – Der Greuel ist nicht auszudenken!
Die Unglückseligen! denen der Stempel des Elends mit so fürchterlicher Deutlichkeit auf die fahlen, verwüsteten Gesichter geprägt ist: Männer, gebrochen, greisenhaft mit fünfzig Jahren! Frauen, die mit dreißig alte Weiber sind! Junge Burschen von achtzehn, deren ausgemergelte Leiber und scheu-frecher Blick die intimste Bekanntschaft mit jedem Laster verraten! Und dazu die hübschen, oft bildschönen Kinder, die uns aus großen, dunklen, melancholischen Augen blicken, als wollten sie fragen: sind wir wirklich nur geboren, um zu werden, wie unsere Väter und Brüder, unsere Mütter und Schwestern?
Nein, und tausendmal nein! Dies geht nicht mit rechten Dingen zu, mögen die Hochmögenden, Hochweisen und meinetwegen auch Wohlmeinenden sagen, was sie wollen! Hier ist etwas faul im Staate, und nicht bloß etwas: ein scheinbar machtvoller Staat, der solchen zum Himmel schreienden Zuständen gegenüber seine Ohnmacht erklärt, gleicht einem stattlichen Hause, das auf morschen, angefaulten Fundamenten ruht, die über kurz oder lang in sich zusammensinken müssen, und über ihnen wird das Haus zusammenkrachen.
Ich klage Eve meinen Jammer. Sie weiß mich nicht zu trösten. Ich bin überzeugt, daß sie die Dinge genau so sieht, wie ich.
Wie stellt sie sich dabei zu ihrem Gatten? Dasselbe wollen und dasselbe nicht wollen, daß allein ist wahre Freundschaft, meint Sallust. Und Freundschaft, sagt man, ist der Liebe bester Teil.
Oder ist es nicht so? Giebt es eine Liebe, die der Freundschaft entraten kann? Und ist sie die eigentlich wahre Liebe? Die Liebe, die sagen dürfte:
»Es ist noch längst nicht alles Gold, was glänzt« – ohne daß ihren eigenen Glanz auch nur der leiseste Hauch des Zweifels trübte?
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Was habe ich erleben müssen! Ich muß es niederschreiben, um in späteren Jahren sicher zu sein, daß nicht alles bloß ein wüster Traum, ein Spuk ist, mit dem mich meine Phantasie schrecken will.
Meine Phantasie! Welch Kinderspielzeug ist sie im Vergleich zu der furchtbaren gigantischen Maschine, die man das wirkliche Leben nennt!
Wochenlang habe ich darüber gegrübelt, wie ich den Anders meiner Dorfgeschichte zu einem tragischen Ende bringen könnte – die Maschine packt den wirklichen Anders, schleudert ihn unter eines ihrer Räder, und die Arbeit ist gethan!
Aber ich fange beim Ende an und ich wollte ja pragmatisch sein wie ein alter Chronist.
Wir saßen beim Frühstück – ich war in diesen aufgeregten Tagen völlig ein Glied der Familie geworden – schon zur Fahrt fertig, die diesmal nach Marienhütte gehen sollte, von wo noch in der Nacht bedenkliche Nachrichten eingelaufen waren, als Friedrich schreckensbleich mit einem Zettel in der Hand hereinstürzte, den eben ein Reitender von Adamshütte gebracht habe. Es hatte ursprünglich eine Depesche sein sollen, die der Direktor in Marienhütte aufgeben wollte in dem Augenblick, als der Telegraphendraht von den Aufrührern zerschnitten wurde. Ein Getreuer hatte dann das Blatt mit Lebensgefahr durch die von allen Seiten herbeiströmenden Haufen nach Adamshütte getragen, wo ebenfalls die Leitung zerstört war; so hatte denn der dortige Direktor einen berittenen Boten abgesandt. Darüber waren anderthalb kostbare Stunden verloren, wo keine Minute zu verlieren war. Die Depesche lautete: »Kommen Sie augenblicklich; ich kann die Leute nicht mehr bändigen.«
Der Chef war in sein Zimmer gestürzt; Eve und ich blickten einander an. Sie war sehr bleich, aber auf ihrem lieben Gesicht lag dieselbe machtvolle Fassung, die sie auch an dem Bette des todkranken Kindes in den schlimmsten Augenblicken nicht verloren hatte. Sie streckte mir die Hand hin: Du wirst ihn nicht verlassen, sagte sie mit leiser, fester Stimme.
Sie hatte mich niemals zuvor Du genannt und wußte sicher nicht, daß sie es jetzt gethan. Aber mich durchschauerte es seltsam. Ich konnte nicht sprechen, nur die teure Hand ergreifen und drücken.
Da kam der Chef auch bereits wieder herein; er hatte sich nebenan nur seinen Revolver umgeschnallt. Ich bin überzeugt, Eve hatte nichts anderes erwartet.
Er umarmte seine Frau schnell und heftig; sie reichte mir nochmals die Hand, die jetzt eiskalt war. Dann saßen wir in dem leichten, offenen Wägelchen, in welchem er, wenn er nicht zu Pferde ist, seine Dienstreisen im Sommer und Winter macht. Die Schimmel griffen mächtig aus; glücklicherweise hatten wir den größten Teil des Weges Chaussee, nur die letzte kurze Strecke ist Landweg. Immerhin konnten die Pferde es unter einer Dreiviertelstunde nicht leisten, die dem Manne an meiner Seite zur Ewigkeit zu werden schien. Ich hatte ihn sonst, auch in kritischen Momenten, stets ruhig und gelassen gesehen. Heute, trotzdem er sich augenscheinlich bemühte, die innere Erregung zu verbergen, wollte es doch nicht gelingen. Ungeduldig rückte er auf seinem Sitze hin und her, erhob sich ein paarmal halb, den noch übrigen Weg zu überblicken, ohne aber Johann zum Schnellerfahren anzutreiben. Er wußte, daß Kutscher und Pferde ihr mögliches thaten. Es wurde kein Wort zwischen uns gesprochen – eine große Wohlthat für mich. In meinem Hirn kreuzten sich Gedanken, die einander widersprachen; in meinem Herzen wogten Empfindungen, von denen die eine die andere nicht gelten lassen wollte. Wenn es zum Kampf kam, wir in den schon entbrannten hineingerieten – ich hatte Eve versprochen, zu ihm zu stehen. Wie hätte ich es nicht versprechen sollen? wie hatte ich es versprechen können? Zu ihm stehen – ja, um ihretwillen! – und um seinetwillen? Auch das! Wie hätte ich dem Mutigen, Entschlossenen meine Sympathie, meine Achtung versagen mögen! Aber sein Mut, seine Entschlossenheit waren gegen die gerichtet, bei denen mein Herz war. Die Revolte mochte vom ökonomischen Standpunkt eine Thorheit, von dem des Gesetzes ein Verbrechen sein; aber Thorheit und Verbrechen waren auch die Empörungen der Sklaven in den Augen der römischen Patrizier, die Revolutionen der mittelaltrigen Leibeigenen in denen der feudalen Barone gewesen – waren sie es noch in den unseren? waren sie es in den meinen? Würde man in einem Jahrhundert, in fünfzig Jahren vielleicht schon, in den Streiks von heute nur die Ausschreitungen einer wüsten und verführten Menge sehen, oder die ersten Zuckungen einer unabweislichen, unaufhaltsamen Bewegung, in der sich die Wiedergeburt der Menschheit vollziehen sollte?
Dies alles ging durch meine Seele, wenn auch gewiß nicht in der Ordnung, in der ich es hier zu bringen suche. Dazu war meine Erregung viel zu groß. Fällt mir doch erst jetzt wieder ein, wie schön der Morgen war, durch den wir fuhren: wie die Kornbreiten im lauen Sommerwinde wogten, auf den Wiesen behaglich das Vieh weidete, an der Waldecke, an der wir vorbeikamen, ein paar Rehe standen, aus dem blauen Himmel die Lerchen jubilierten! Dann freilich, als wir in die Nähe der Werke kamen, veränderte sich die Scene: hügeliges Terrain, das nicht einmal mehr zur Viehweide dienen kann, da man die Grasnarbe zum größten Teil abgeschürft hat, um besser die Stellen zu finden, wo Bohrversuche angestellt werden könnten in der schmutzig-rotbraunen Erde, die nun nackt zu Tage liegt, wo sie nicht wieder mit Aschen- und Schlackenbergen bedeckt wurde. Ich meine, so muß es auf den Lavafeldern aussehen, welche die Hänge des Vesuv hinabstarren.
Wir kamen an dem Stahlwerk vorbei. Der Direktor, der uns hatte kommen sehen, trat an den Wagen. Er war mit einigen Beamten allein auf dem Werk; die Arbeiter seien schon vor zwei Stunden nach Marienhütte abgezogen, wo auch die Leute von Adamshütte inzwischen eingetroffen sein würden. Es möchten in Marienhütte jetzt leicht Eintausend beisammen sein. Er habe es, da bei der Zerstörung der Drähte vom Chef keine Befehle einzuholen gewesen seien, bei der kritischen Lage der Dinge auf seine Verantwortung nehmen zu sollen geglaubt, von Gl. militärische Hilfe zu requirieren. Sie könnte in einer halben Stunde, vielleicht noch früher, in Marienhütte sein. Der Chef bemeisterte nur mit Mühe seinen Unwillen: das heiße nur, den Teufel an die Wand malen und Öl ins Feuer gießen. Er werde schon allein mit der Gesellschaft fertig werden. Der Direktor zuckte die Achseln: die Stimmung der Leute sei furchtbar erregt. Seine letzten Nachrichten von Marienhütte lauteten, daß ein kleiner Teil der Belegschaft heute morgen eingefahren sei und die Menge geschworen habe, sie entweder in der Grube, oder beim Verlassen derselben tot zu schlagen. Zum Schutz der Grube sei niemand da, als der Direktor, ein paar andere Beamte, die im besten Falle als Waffe ihre Revolver hätten und allerdings zwei Gendarmen; aber was wollte das gegen eine tausendköpfige, aufgehetzte und aufgeregte Menge bedeuten, von der sicher die Hälfte betrunken sei?
Das im schnellsten Tempo zwischen dem Chef und dem Direktor geführte Gespräch hatte nur ein paar Minuten gewährt, während derer sich die zitternden, triefenden Pferde verschnaufen mochten. Dann ging es mit Sturmeseile weiter. In zehn Minuten war die letzte Strecke zurückgelegt. Schon aus einiger Entfernung hatten wir das dumpfe Geräusch der durcheinander sprechenden, schreienden Menschen gehört, die auf der anderen, uns abgewandten Seite der Gebäude versammelt sein mußten, wenn uns auch jetzt schon viele Menschen begegneten, durch die wir mit rücksichtsloser Eile jagten. Dann konnten wir nicht weiter. Das Gewimmel war immer dichter geworden; auf dem großen Hofe, in welchem der Eingang zu der Grube liegt, stand es zu einer schwarzen Masse zusammengeballt. Der Chef, der vorausging, stieß beiseite, was ihm nicht freiwillig Raum gab. Aber fast alle thaten es; nicht wenige zogen sogar die Mütze, wie instinktiv, in angewohntem Respekt.
Der sich dann auch nicht verleugnete, als wir uns endlich bis zu der niedrigen eisernen Treppe durchgekämpft hatten, auf dessen obersten Stufen die handvoll mutiger Männer nun schon seit zwei Stunden der drohenden Masse getrotzt hatte. Ihre bei aller Entschlossenheit verstörten Gesichter belebten sich wieder, als sie endlich den längst Ersehnten an ihrer Spitze sahen. Konnte einer den Sturm beschwichtigen, so war er es.
Nein, nein! es trifft ihn keine Schuld – ihn persönlich nicht! Die Schuld trifft die Verhältnisse, in die wir alle eingeklemmt sind, wie ein Schiff zwischen himmelhohen Eisbergen; und doch –
Es war verhältnismäßig still geworden, als er zu reden begann, es wurde ganz still, nachdem er eine kurze Zeit gesprochen. Ich wüßte den Inhalt seiner Rede nicht mit Genauigkeit wiederzugeben. So weit ich mich erinnere, war es dasselbe, was ich in den letzten Tagen so oft aus seinem Munde gehört, dem Verständnis der Leute angepaßt: wie sie ihre Lage durch ihr wüstes Vorgehen nur verschlimmerten; wie sie doch recht wohl wüßten, daß er von jeher aus allen Kräften bestrebt gewesen sei, ihre Lage zu verbessern, und in diesem Bestreben fortfahren werde, wenn sie ihm seine redliche Mühe nicht durch ihr Betragen verleideten, das er ebenso thöricht wie undankbar nennen müsse. Wollten sie, wie es sich zieme, ihm durch eine aus ihrer Mitte erwählte Deputation ihre Beschwerden vortragen, so würde er ihnen Rede und Antwort stehen; hofften sie aber, ihn durch ihre Drohungen einzuschüchtern, so irrten sie sich.
Dann kam der Schluß, dessen Worte ich glaube angeben zu können, wohl nur, weil es die letzten waren und im genauen Zusammenhange stehen mit dem Schrecklichen, das dann folgte:
Wir sind unserer hier nur acht; aber, wie wir hier sind, entschlossen, eher Mann für Mann zu sterben als euch gewähren zu lassen. Was wollt ihr? eure Kameraden tot schlagen, weil ihnen ihr Kontrakt nicht ein leeres Wort ist, sondern sie heute wie alle Tage an die Arbeit gegangen sind, sich selbst und ihre Weiber und Kinder ehrlich zu ernähren? Die Maschinen wollt ihr zerstören, die Grube unter Wasser setzen? Ja, bedenkt ihr denn nicht, daß Monate dazu gehören, was ihr in ein paar Stunden verwüstet habt, wiederherzustellen – wenn es wiederherzustellen ist – und ihr bis dahin längst verhungert seid, oder so weiter als Bettler haus- und brotlos durch das Land streicht, um im Zuchthause, oder hinter einer Hecke zu enden? So denkt denn an eure Weiber und Kinder! denkt an euch selbst! Ich rate es euch! Ich bin nicht so thöricht, daß ich nicht wüßte, daß tausend Männer, auch wenn sie unbewaffnet sind, acht Männer, auch wenn sie bewaffnet sind, über den Haufen rennen und unter ihren Füßen zertreten können. Das ist kein schöner Tod, aber der aus einem Büchsen- oder Revolverlauf schmeckt auch nicht süß. Und so wahr ich hier stehe, der erste von euch, der das Signal zum Angriff auf uns giebt, der erste, der die Distanz, die jetzt zwischen uns ist, auch nur um drei Schritte zu übertreten wagt – er fällt von meiner Hand. Das ist mein letztes Wort. Nun thut, was ihr wollt.
Es war totenstill, als er jetzt schwieg. Dann ging ein Gemurmel durch die Menge, wie wenn im Wald sich ein Wind in der Ferne erhebt, erst leise, dann, näher und näher kommend, lauter und lauter, bis er über uns wegsaust und braust. Dabei hatte sich die kompakte Masse zu größeren und kleineren Knäueln formiert, zu hören, was die Stimmführer in ihrer Mitte vorbringen würden.
Und da glaubte ich aus einem der Knäuel heraus seine Stimme zu vernehmen, trotzdem ich ihn sonst nur immer ruhig und mild hatte sprechen, nie in lauten Tönen hatte schreien hören, wie jetzt – wenn er es war!
Aber wie sollte er aus dem zwei Meilen weit entfernten Eisenhammer hierher gekommen sein?
Und er war es doch!
Da stand er plötzlich vor der Menge, die wieder zur dichten, schwarzen Masse geworden war. Er hatte uns den Rücken zugewandt, die Arme gegen die Masse erhoben:
Seid ihr Memmen, seid ihr Kinder, daß ihr euch durch Worte schrecken laßt? Unsere Sache ist die gerechteste der Welt. Nieder mit den Ogres und ihren Zwingburgen! Mir nach! mir nach! Ich will der Freiheit eine Gasse machen!
Dann hatte er sich gewandt; ich sah sein Gesicht, bleich, vom grauen Haar umflattert, während er auf uns losstürzte, hinter ihm her ein wüster Haufe unter ohrenbetäubendem Gebrüll.
Und dann –
O, mein Gott! bis an mein Lebensende werde ich den kurzen scharfen Knall dicht an meinem Ohre hören; werde ich die hohe Gestalt sehen, die schon die Treppe beinahe erreicht hatte und dann vorüberschlug, wie ein Baum, der gefällt ist.
Der Ogre hatte seine Beute.
Es sollte für diesmal bei der einen bleiben.
Was geschehen wäre, wenn in diesem Augenblicke nicht die Spitze der Compagnie, die der Direktor auf dem Stahlwerk aus Gl. requiriert hatte, auf dem Hofe erschien – ob die Menge sich über den gefallenen Führer auf uns gestürzt, oder in Schrecken von uns abgelassen hätte – wie es wenigstens im ersten Moment schien – wer kann es wissen? Ich weiß nur, daß die Werke noch immer militärisch besetzt, ein paar Dutzend der Rädelsführer in Untersuchungshaft sind, und – im übrigen alles beim alten bleibt.
Nur nicht für mich. Ich habe sofort an Professor Richter geschrieben, ob er mich schon jetzt haben wolle. Will er es nicht – gleichviel: ich muß fort.
Ich kann hier nicht länger bleiben. Ich kann die Hand des Mannes nicht wieder freundschaftlich fassen, die mir den besten Freund erschlagen hat. Im gerechten Streit? Für ihn – ja. Er hat gethan, was er für seine heilige Pflicht hielt. Und ließ sich, was er gethan, vermeiden? aufschieben auch nur einen Augenblick? Im nächsten wären die Rasenden über uns weggestürmt, über unsere Leichen, um ein paar Dutzend wehrloser Kameraden in den Gruben zu erschlagen, oder in dem zerstörten Werk elend zu ersäufen.
Es mußte sein; aber daß es sein mußte! wieder einmal dem Moloch eines Systems, das sich ohne solche Greuel nicht behaupten kann, und dessen überzeugter Vertreter er ist, dies Opfer gebracht werden mußte!
Und was er im vollen Bewußtsein der Erfüllung einer heiligen Pflicht gethan – er hat es bei Gott nicht gern gethan. Auf seinem Gesicht, das sonst der Ausdruck thatenfreudiger Kraft belebte, liegt jetzt ein finsterer Ernst; seine helle Stimme ist dumpf geworden; Eve sagt, daß er seitdem nachts stundenlang ruhelos durch die Zimmer wandert.
Ich sehe, ich begreife das alles – und doch – Mein armer, unglücklicher, mein edler Anders! Ja, edel trotz alledem! Hast du weniger gethan, was du für deine heilige Pflicht hieltest? Und wenn du dir zuletzt in deinem verwirrten Hirn dessen, was du thatest, nicht mehr voll bewußt gewesen sein magst; wenn du toll warst – was hat dich toll gemacht? Doch nur das nagende, bohrende, bis zum unerträglichen Schmerz gesteigerte Gefühl des Mitleids mit dem moralischen und physischen Elend, das dich ringsumher aus den hohlen Augen deinesgleichen angrinste. Und die nicht einmal deinesgleichen waren! denn du hattest dich rein erhalten unter den Unreinen, sündlos, soweit ein Mensch es sein kann, unter den Sündigen. Aus der Fülle deiner Liebe hast du dir deinen Haß getrunken; und wenn dein eheliches Leid auch den Becher überlaufen machte, es war doch nur ein letzter Tropfen –
Sie hatten ihn in die große, hölzerne Halle getragen, in der den Arbeitern der Wochenlohn ausgezahlt wird. Ich schlich mich hinein, als die anderen fort waren. Die Leiche lag noch auf dem langen Tisch, auf welchem sie der von Gl. requirierte Arzt untersucht hatte. Er hatte mir gesagt, die Kugel sei direkt durch das Herz geschlagen, der Mann auf der Stelle tot gewesen. Ich hob das Tuch ab, mit dem das Gesicht bedeckt war. Keine Verzerrung, nur die schweren Augenbrauen waren wie im finstern Zorn zusammengezogen und um den Mund ein Zug herber Entschlossenheit, als wollte er sagen: konnte ich, ich würde es noch einmal thun.
So hast du dir den Lohn, den sie dir heute ausgezahlt haben, in deiner Weise vollauf verdient –
Ich habe an Marthe geschrieben, was mit ihren beiden Stiefbrüdern werden soll. Sie wird sie jetzt wohl sicher bei sich haben wollen. Vielleicht kann ich sie gleich mit nach Berlin nehmen.
Wäre ich erst fort! Der Abschied von ihr liegt mir so schwer auf der Seele.
*
Professor Richter schreibt, ich sei ihm jeden Tag willkommen; Marthe, daß ich die Jungen mitbringen soll.
*
Der Chef ist für mehrere Tage in Breslau. Gott sei Dank! Er hat mir seinen Wagen zu der Fahrt nach T. zur Verfügung gestellt. Warum soll ich diese Vergünstigung nicht annehmen, nachdem ich so viele in seinem Dienste gehabt? Ich muß über Eisenhammer, die beiden Jungen abzuholen.
*
Das letzte Blatt in dem Tagebuche des Einsamen; oder werde ich so weiter in Berlin einsam sein?
Eve sagt: nein; sie hat mir dringend ans Herz gelegt, die Gelegenheit zum Verkehr mit den Menschen, die mir dort reichlich geboten werden wird, auf jede Weise zu benutzen. Ich habe es ihr in die Hand versprechen müssen.
Seltsam, daß ich gestern abend in dem langen Gespräch, das wir hatten, der bei weitem Ruhigere, Gefaßtere war. Ihr standen wiederholt die Thränen in den Augen. War es um »das Stück Berlin«, das nun von ihr scheidet? Auch nicht allzulange, hofft sie. Das üble Verhältnis zwischen dem Grafen und ihrem Gatten sei ja auf die Dauer unhaltbar. Sie habe bis jetzt immer zum Frieden geredet, weil sie wisse, wie ihr Gatte die ungeheuere Arbeit, die ihm hier obliege, für seinen Thätigkeitsdrang brauche; sie werde es in Zukunft nicht mehr thun. Es sei ihm auch sonst seine hiesige Stellung verleidet – sie brauchte mir nicht zu sagen, wodurch, wie wir denn über die letzten Ereignisse kein Wort gesprochen haben. Weshalb frische Wunden durch Berührung noch schmerzhafter machen? Und ich weiß, wie tief und schmerzhaft die ihr geschlagene Wunde ist, wie schwer sie leidet! doppelt schwer, weil sie dies Leid niemand auf der Welt sagen und klagen kann, oder sie hätte es mir gesagt und geklagt. Hier stand etwas zwischen uns, was selbst die innigste Freundschaft, das absoluteste Vertrauen, der heftigste Drang, das übervolle Herz auszuschütten, respektieren müssen.
Und so weiter zwischen uns stehen wird. Es soll eben auf Erden nichts vollkommen sein: nicht Freundschaft, nicht Liebe – nichts!
Eben war sie – wohl zum erstenmale wieder, nachdem sie es vor zwei Jahren für meinen Empfang eingerichtet – in meinem Turmstübchen, zu sehen, ob es mir an nichts fehle, ich meine Sachen ordentlich gepackt habe – meine sieben Sachen! Ein kleiner Koffer schließt sie ein, kleiner als die Kiste mit den Büchern, die sie mir im Lauf der Zeit geschenkt hat. Ob ich das Manuskript der Dorfgeschichte ordentlich verwahrt habe? In zwei Wochen spätestens wolle sie hören, daß ich es abgeschlossen; ich könne über das Ende, das mir so viel Kopfzerbrechen gemacht, jetzt nicht mehr in Zweifel sein. Und ich solle nichts beschönigen, nichts vertuschen, mein letztes Wort, so gut ich es verstände, frei heraussagen. Das drücke unserer Litteratur so oft den kläglichen Stempel der Mittelmäßigkeit auf, daß die Dichter und Schriftsteller nicht den Mut ihrer Meinung hätten – Talente, die sich in der Stille gebildet, ohne den Charakter, den nur der Strom der Welt klären und festigen könne.
Und das, während sie meine wollenen Winterstrümpfe zählte!
Es giebt nur eine solche Frau.
Sie wird, wenn ich um ein Uhr abfahre, nicht zugegen sein, da sie bei der Frau Forstmeister, deren Geburtstag ist, zu Tische sein soll und um keinen Preis wegbleiben darf.
So haben wir denn jetzt gleich voneinander Abschied genommen.
Leb wohl, Justus, und behalte mich und die Kinder in treuem Gedenken!
Ob ich eurer gedenken werde!
*
Nun doch noch ein Allerletztes! Ein Brief von ihr! mit der Zwölfuhrpost, die sonst selten Briefe bringt! Es ist nicht anders: sie soll das letzte Wort in meinem Tagebuche haben, wie immer in den Gesprächen, die mein Herz mit ihr führt.
»Capri, Hotel Quisisana, Juli 188*
Sonntagskind! Es ist entsetzlich heiß! An dem prahlerisch blauen Himmel auch nicht das kleinste rücksichtsvolle Wölkchen; von den weißen Wänden des Monte Salaro resorbiert eine Sonne unverschämt wie die Stirn von Mr. Edward Bugby (Kapitän in her Majestys army), als er mich heute morgen fragte, ob wir nicht einen Spaziergang zu zweien nach dem arco naturale machen wollten? Ach, nur einen Hauch aus meinem kühlen Feenwalde, Justus! und nur einen Blick in Deine treuen Augen! Die Männer sind durchweg a nasty set – weißt Du, was das heißt? – and really I have no longer patience with them. Könnte ich sie nur loswerden! Aber das hängt an einem wie Kletten an einem Florkleide –
Also, was wollte ich Dir eigentlich schreiben! Ja so! daß ich noch bis zum September hier bleibe und ein stilles beschauliches Leben zu führen gedenke, wenn es mir erst gelungen ist – was hoffentlich bald der Fall sein wird – Mr. Bugby und ein halbes Dutzend anderer Gentlemen von hier fortzuscheuchen, die mich in weiteren und näheren Bogen umkreisen und deren interessante Gesichter in den Speisesälen der Hotels von Rom, Neapel, Sorrent gesehen zu haben ich mich dunkel erinnere. Man soll an einer Table d'hôte niemals sagen, wohin man demnächst zu gehen gedenkt. Du kannst Dir das in Dein Tagebuch schreiben und daneben: Approbiert und richtig befunden von Isabel. Apropos! könntest Du mir nicht Dein Tagebuch schicken? Ich würde sehr diskret sein und die Stellen, die von »ihr« handeln, gewissenhaft überschlagen. Oder handelt das ganze Buch von ihr? Dann magst Du es in Gottesnamen behalten. Ich hätte Dir freilich solche grenzenlose Felonie nicht zugetraut; Du warst früher ein ehrlicher Mensch; aber seitdem ich Dich verlassen, bist Du entschieden auf bedenkliche Abwege geraten.
Sonntagskind! die Worte: »seitdem ich Dich verlassen« sind mir schwer aufs Herz gefallen. Aber, Du weißt, ich streiche nie ein Wort aus, und einen neuen Brief zu schreiben bei der Hitze, ist unmöglich. So müssen sie schon stehen bleiben mir zur Strafe. Wofür? Ich weiß es nicht recht, und doch ist mir so trüb zu Sinn. Wie alt bist Du eigentlich jetzt, Sonntagskind? Ich meine: zweiundzwanzig, also, recht betrachtet, noch immer sehr jung – unpassend jung. Was mich betrifft – die weißköpfige Krähe ist nicht älter als ich. Sie ist an die hundert Jahre um den Berg geflogen, in den die arme Maiennacht der greuliche Ogre gesperrt hatte, weil sie seinen Herrn Sohn nicht heiraten wollte. Es war die gerechte Strafe dafür, daß sie sich überhaupt mit den Ogres eingelassen. Und darüber war sie zu einer alten, uralten Frau zusammengeschrumpft, und als sie endlich wieder herauskam und ihrem Hubert begegnete, der inzwischen glücklich über zweiundzwanzig und ein gar stattlicher Mann und Jäger vor dem Herrn geworden war, wollte sie ihm in ihrer Freude um den Hals fallen. Er aber trat einen halben Schritt zurück und sagte, seinen Hut ziehend: Mütterchen, ich bin zwar stets gegen Damen höflich und galant; nur fürchte ich, dies ist ein Irrtum, und ich raube den verehrungswürdigsten der Küsse einem anderen. – Daraus sah sie wohl, daß er sie nicht mehr kannte, und bemerkte nun erst, wie greulich sie sich verändert hatte. Und wandte sich ab und schlich ihres Weges weiter, bitterlich, bitterlich weinend, denn sie hatte, als sie noch eine kleine Fee war, den jungen Jägerburschen sehr lieb gehabt. Und er sie auch. Und gerade deshalb war das Wiedersehen und Nichtwiedererkennen so traurig, während sonst einer viel Geld verdienen könnte, der ein Mittel wüßte, Leute, denen das leidige Wiedersehen nicht erspart werden kann, wenigstens füreinander unkenntlich zu machen.
Hast Du etwas darüber gehört, daß Armand in einer Nacht im Klub 300 000 Mark verspielt haben soll? Gott, Sonntagskind, welch ein dummes Alltagskind warst Du, daß Du auf den Menschen eifersüchtig sein konntest! Man sagt, er solle auffallend schön geworden sein, nur noch »der schöne Armand« genannt werden. Das fehlte gerade! Ich hasse die »schönen Männer«.
Edith schreibt mir, Du werdest zum Herbst nach Berlin gehen; und ich Ärmste muß dann nach Palermo und zum Winter nach Kairo. Die sicilianische Adresse ist Hotel Trinacria, die ägyptische vorläufig unbestimmt, vermutlich: Pyramide des Cheops, links parterre, bitte stark zu klingeln! Die Post, die natürlich, als sie kam, keinen Brief für mich von Dir hatte, geht wieder ab; ich muß schließen. Also, au revoir, Sonntagskind, zum Frühling in Berlin! Und Gnade Dir Gott, wenn Du nicht wiedererkennst
Deine Maiennacht.«
*
So! Nun, mein treues Tagebuch, als Letztes, hinein in den Koffer! Den Koffer zu! Und aus der Einsamkeit hinaus in die weite Welt!