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Zweites Kapitel.

Der alte Arzt hatte recht gehabt: am nächsten Tage war die Temperatur seines Patienten abermals gesunken; wieder einen Tag später der Puls normal; aus den lichten Momenten waren lichte Stunden geworden; nur noch eine große Schwäche zurückgeblieben, die geschont sein wollte und von dem Rekonvalescenten jede Aufregung fern zu halten gebot. Der gute Pfarrer ließ sich das gesagt sein. Ihn graute vor dem Augenblick, wo er mit der schrecklichen Wahrheit nicht länger würde zurückhalten können, die er vorläufig hinter allerlei Ausflüchten verbarg. Er hatte Justus gegenüber aus den Wochen, die dieser ohne Bewußtsein zugebracht, ebensoviele Tage gemacht; man hatte ihn hierher zu ihm gebracht, nachdem man ihn verwundet und ohnmächtig im Walde gefunden; die Mutter konnte den kranken Sohn nicht besuchen, weil sie selber augenblicklich krank sei; der Vater war in einem entfernten Revier, dort einen Kollegen zu vertreten, der von dem Grafen Urlaub zu einer Badereise bekommen habe.

Der gute Mann war nicht wenig stolz auf diese verzeihlichen Notlügen, die er für äußerst geschickt hielt, und äußerst erschrocken, als Marthe Anders, die noch immer in den Nachmittagsstunden kam, ihm eines Tages in ihrer geraden Weise sagte: Geben Sie sich weiter keine Mühe, Herr Pfarrer, er weiß alles.

Um aller Heiligen willen, rief der Pfarrer; hast Du es ihm gesagt?

Ich nicht; aber ich denke, Muhme Anna hat's gethan.

Der Pfarrer schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn: daran hatte er nicht gedacht.

Das entsetzliche Weib! rief er; sie hat ihn töten wollen.

Vielleicht hätte es ihn getötet, sagte Marthe; aber ich bin überzeugt, er wußte es auch schon vorher.

Die Vermutung des klugen Mädchens war völlig richtig.

Das erste, was Justus, als er wieder im Zusammenhang denken konnte, als Thatsache bei sich festgestellt hatte, war der Tod des Vaters. Jenes Bild des bleichen Mannes, den die Waldwärter auf eine Bahre aus Tannenzweigen luden, war keine Fieberphantasie, sondern Wirklichkeit gewesen. Er hatte keine Beweise dafür; er bedurfte auch keiner; er wußte es eben. Die Mutter hatte wiederholt geklagt, wie sehr sie fürchte, daß die Schmuggler, denen er jetzt das Leben so sauer machte, ihm ein Leid anthun könnten, und sie ihm doch nicht zureden dürfe, es mit seiner Pflicht, wie ehemals, leicht zu nehmen. Nun hatten die Schmuggler den Vater erschlagen. Es war nicht der erste Forst- oder Steuerbeamte, der ihrer Rache zum Opfer gefallen war; Justus erinnerte sich aus früherer und späterer Zeit eines halben Dutzend solcher Geschichten, wenn auch nicht stets mit gleich tragischem Ausgang.

War aber der Vater tot, so hatte die Mutter es nicht überlebt. Sicher hatten die einfältigen Menschen ihr den Toten so ins Haus getragen. Da war der schwache Faden, an dem ihr Leben hing, zerrissen. Sie mußte tot sein, oder sie hätte sich längst, selbst todkrank, zu ihrem kranken Justus geschleppt. Denn wenn man ihm einreden wollte, er habe nur ein paar Tage so bewußtlos gelegen, hätte man auch dem Wind verbieten sollen, die welken Blätter an dem Fenster, auf das er stundenlang den Blick gerichtet hielt, vorüberzuwirbeln. Und der Sonne, so spät auf- und so früh unterzugehen, und den Gänsen auf der Dorfstraße so erbärmlich zu schreien, als wüßten sie, daß ihnen ihr Ende bevorstehe. Am zwanzigsten September war er zum letztenmale auf dem Schlosse gewesen; jetzt mußte es Ende Oktober sein. Vater und Mutter waren tot – das stand für ihn fest, noch bevor er Muhme Anna fragte, die es ihm denn auch nach einigem Zögern bestätigte mit dem Hinzufügen, er dürfe sie nicht verraten, denn es sei ihr streng verboten, ihm die Wahrheit zu sagen.

Seltsam! er hatte immer gemeint, er würde einen ungeheuren Schmerz empfinden, wenn die Mutter starb, und jetzt konnte er kaum eine Thräne vergießen. Noch seltsamer: der Tod des Vaters war ihm schmerzlicher als der der Mutter. Er hatte ihre Liebe so vollauf genossen! und es fiel ihm ein, was er einst den alten Doktor zu dem Vater hatte sagen hören: »man kann Ihrer Frau kein langes Leben wünschen«. Aber des Vaters Liebe hatte er erst in der allerletzten Zeit, ja, ihn selbst erst kennen gelernt, und wie er ihn früher wegen seiner Kraft und Kühnheit bewundert, so auch jetzt wegen seiner rauhen Güte geliebt und des offenbaren guten Willens, an Sohn und Gattin wieder gut zu machen, was er früher an ihnen versehen und gesündigt. Diesen kraftvollen, kühnen Mann, der, wenn er auch immer selbst sein schlimmster Feind gewesen war, in günstigeren Verhältnissen gewiß Tüchtiges, vielleicht Großes geleistet haben würde, er hatte sein Leben lassen müssen – wofür? Nicht um des Staates Wohl – was ging den gräflichen Förster der Staat an? – nur damit in dem Walde auch zur Nachtzeit Ruhe und Ordnung herrsche, und die Schmuggler, wenn sie hindurchzogen, nicht gelegentlich auch einen Hasen totschlugen, oder ein junges Reh, oder Wildschwein zum Schaden des Herrn Grafen! zum Schaden des Ogre!

Ja, des Ogre! Er war der Ogre! ihn hatte er gemeint, als er den Ogre seines Märchens schuf, und es war feig von ihm gewesen, daß er es dem Armand nicht ins Gesicht gesagt hatte, und daß er selbst der Ogreprinz sein solle: der herzlose, grausame, niederträchtige Ogreprinz! Wie wäre er wohl darauf gekommen, von dem Ogreprinzen zu sagen, daß er die armen Leute schinde und quäle, hätte er nicht so oft aus dem Munde des Burschen die frechen, schändlichen Reden über die armen Leute gehört, die dazu da seien, sich zu placken, und mit denen man kein Mitleiden zu haben brauche, weil sie es ja doch nicht besser wüßten! Und feig, jämmerlich feig war es von ihm gewesen, daß er das so mit angehört, ohne dem Burschen ins freche Gesicht zu sagen: du lügst! Und feig, erbärmlich feig, daß er es unter diesen Menschen so lange ausgehalten, es sich hatte wohl sein lassen an der üppigen Tafel, in den bequemen Betten, er, der Sohn seiner Mutter, die sich zu Tode gearbeitet hatte, um aus den harten Händen des Juden ein paar Groschen zu ringen! seines Vaters, der im Walde unter den Händen von Meuchelmördern sein Leben lassen mußte, wenn ihm der Herr Graf nicht den Dienst kündigen und aus dem elenden Hause jagen sollte, bevor es ihm über dem Kopfe zusammenfiel!

Warum hatte er den Ogreprinzen nicht totgeschlagen, anstatt sich von ihm halb tot schlagen und aus dem Schlosse jagen zu lassen, wie einen verlaufenen Hund? Der würde nun triumphieren und die Treppe zum Turm hinaufstürzen, die Fee in die Arme nehmen, Huberts Fee, seine Isabel –

Er hatte so laut gestöhnt, daß Marthe, die im letzten Abendschein an dem niederen Fenster über einer Näharbeit saß, aufblickte und fragte:

Was hast Du?

O, nichts! erwiderte er; ein bißchen Schmerz in der Schläfe – es ist schon wieder vorüber.

Ich muß fort, sagte das Mädchen, sich erhebend. Der Herr Pfarrer ist im Dorf, der alten Jadwiga Rosezka die heiligen Sakramente zu geben; sie liegt im Sterben. Soll ich die Muhme Anna schicken?

Nein, ich möchte schlafen.

Also bis auf morgen; ich wünsche Dir eine gute Nacht.

Sie war gegangen; Justus wollte nicht schlafen, nur allein sein. Es war ihm immer, als ob die klaren, klugen, grauen Augen Marthes ihm die Gedanken von der Stirn läsen, und diese Gedanken hätte er am liebsten vor sich selbst verborgen. Aber sie ließen sich nicht verbergen, nicht verbannen; sie hatten sich zugedrängt, als er eben erst wieder zum Bewußtsein erwacht war; in alles hineingedrängt, was er sonst denken wollte, so daß er zuletzt nichts anderes mehr denken konnte: nur noch dies eine: du liebst sie und sie macht sich nichts aus dir.

Er hatte es früher nicht gewußt. Sie zu lieben war ihm so natürlich gewesen, wie zu atmen. Und daß sie oft ungnädig war und ihn mit ihren Launen quälte, es hatte ihm wohl manchmal recht weh gethan, aber es war ihm eigentlich als etwas Selbstverständliches erschienen – man atmet ja auch die rauhe und scharfe Luft, wenn man gleich wünschte, sie wäre mild und weich. Es war ebenso gewiß nicht freundlich von ihr, daß sie sich, als sie ins Schloß gezogen war, wochenlang um ihn nicht gekümmert hatte; aber wie tapfer war sie dann wieder für ihn eingetreten an jenem Morgen in dem seidenen Zelt, als der Graf den lästigen Bittsteller ungnädig wegschicken wollte; und er wußte sehr gut, daß dann seine Berufung in das Schloß ihr Werk gewesen war. Auch sein Aufenthalt auf dem Schloß hatte in ihrem alten Verhältnis nichts wesentlich geändert; er fand es so in der Ordnung, daß alle Welt ihr huldigte, und sie war ja auch immer gut zu ihm gewesen, hatte ihn auf seine kleinen und großen Verstöße so freundlich und klug aufmerksam gemacht. Und wenn sie sich mit dem Baron Schönau auch länger und eifriger zu unterhalten pflegte, als ihm unbedingt nötig schien, war er selbst auf den Spaziergängen nicht stundenlang an der Seite der Komtesse gegangen und des Plauderns mit ihr nie müde geworden? Selbst an dem letzten Abend, als er sein Märchen erzählte, hatte er keine andere Empfindung gehabt, als früher, wenn er ihr einen Strauß Blumen, die er nicht ohne vieles Suchen und Wählen im Wald gepflückt, gebracht hatte, und nur der Umstand, daß er ihr den Strauß in Gegenwart von anderen Leuten überreichen mußte, hatte ihn im Anfang ein wenig geniert. Daß der Strauß noch eine andere, tiefere Bedeutung habe, war ihm unbewußt geblieben, daß die anderen diese Bedeutung herausfinden könnten, daran hatte seine Seele nicht gedacht. Das war ihm erst bewußt geworden, daran hatte er erst gedacht, als Armand mit haßsprühenden Blicken vor ihn hingetreten war, Rechenschaft von ihm zu fordern wegen des unverschämten Märchens, unverschämt, nicht weil ein Ogrekönig und ein Ogreprinz darin vorkamen, sondern weil der junge Jägersmann die Fee zu lieben wagte, die der Ogreprinz liebte. Das war der Gegenstand ihres Streites gewesen; darum hatten sie einander beinahe erwürgt und totgeschlagen. Selbst in jenem Augenblicke war es ihm nicht völlig klar gewesen; jetzt wußte er's; wußte, daß er Isabel geliebt hatte, so lange er denken konnte, und lieben würde, so lange er lebte, und daß es besser für ihn gewesen wäre, die Waldhüter hätten ihn tot mit dem toten Vater aus dem Forst tragen müssen. Wenn sie auch den Ogreprinzen nicht heiratete, oder den blonden Baron – eines war sicher, des armen Jägersohnes Weib würde sie nie werden! nie!

Ein trauriges Erwachen aus der Nacht seiner Schmerzen; aber was sie geboren, es war nun einmal da und stand vor ihm mit schreckhafter Klarheit, als ob er zum Leben nur wieder erwacht wäre, um es zu sehen, zu verstehen, sie zu verstehen, sich selbst und sein Märchen. Ach, sie mußte ja sterben, die Fee, wenn sie den jungen Jäger heiratete, und sie wollte nicht sterben; sie wollte fröhlich leben und lachen und scherzen und tanzen nicht im schattigen Walde, wie einst in den Tagen, die nie wiederkehren würden, sondern da draußen in der Welt, wo die Sonne so hell schien in hohe Prunkgemächer und über breite Terrassen mit farbenprächtigen Blumenkörben und weißen Marmorstatuen, und glatte Teiche, auf denen schwarze Schwäne und bunte Kähne schwammen, und weite Parkwiesen, auf denen Millionen von Blumen ihre zarten Häupter im Morgenwinde schaukelten. Da, und überall, wo es luftig und schön und glänzend war, und nichts sie erinnerte an das armselige Pfarrhaus und die schmutzige Dorfstraße und den dumpfen Wald und den armen Jungen, mit dem sie gespielt und getollt und den sie geküßt und ihren lieben Justus, ihren treuen Justus genannt hatte, und der sich nun um sie, die er auf immer verloren, zu Tode weinen mochte.

Und als der gute Pfarrer nach Hause kam, fand er die Stirn seines lieben Kranken wieder brennend heiß und das Kissen, auf dem die heiße Stirn lag, war naß, und der alte Arzt, nach dem am nächsten Morgen in aller Frühe geschickt war, sagte: Ich verstehe das nicht; es war alles in bester Ordnung und nun haben wir den schönsten Rückfall.


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