Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Insel Seeland ist gegen Nordwesten durch eine schmale, wüste, sandige Landstrecke mit einer Halbinsel verbunden, die anmuthig, fruchtbar, mit Dörfern bedeckt ist, und einen eigenen Bezirk (Olsherred) bildet. Aber jenseit der einzigen kleinen Stadt der Halbinsel ragt ein Theil derselben in das wilde Kattegat hinein. Es bildet eine Gegend von einem furchtbar öden und wilden Ansehn. Der Flugsand hat allen Pflanzenwuchs verdrängt. Bewegliche Sandhügel, das Spiel der Stürme, die von dem rauhen Meer unbehindert über das Land sausen, verändern fortdauernd ihre Stelle, entstehen, verwehen, und häufen sich an einem andern Orte wieder an. Ich brachte, die Gegend durchreisend, hier eine Stunde zu, die mir ein unvergeßliches Bild der wildesten Zerstörung hinterließ, und nicht ohne Gefahr war. Indem ich die öde, sandige Gegend einsam durchritt, erhob sich vom Meere aus Norden her ein Sturm mit Gewitter. Die Wellen hoben sich, die Wolken jagten sich unruhig, der Himmel ward dunkler und drohender, der Sand fing an sich in immer größern und größern Massen unter den Füßen des Pferdes zu bewegen, er erhob sich in Wirbel und erfüllte die Luft. Der Weg ward unkenntlich, das Pferd sank tief in den losen Sand hinein; Himmel, Erde und Meer wurden vermischt, und alle Gegenstände in eine Staub- und Sandwolke verhüllt. Keine Spur von Leben oder Vegetation; der Sturm sauste durch die Luft, die Wellen des nahen Meeres peitschten das Ufer, der Donner rollte in der Ferne, und durch die Staubwolke drang der Blitz, trübe, dunkel, röthlich, kaum hindurch. Die Gefahr war augenscheinlich, als ein plötzlicher gewaltiger Gewitterregen den Sand zur Ruhe brachte, und mich, völlig durchnäßt, den Weg nach der kleinen Stadt finden ließ. Es war eine grauenhafte Vermischung aller Elemente. Wie das Erdbeben ein Seufzer der Natur aus tiefer Brust ist, gab dieses Chaos das Bild eines wildzerrissenen Gemüthes: alle Hoffnung zerstört, jede Freude verschüttet, die Trümmer der Vergangenheit, grause Wuth und Kummer verdeckend, unter der wüsten Stätte unruhiger Leidenschaften vergraben, die Stimme des Gewissens drohend, donnerähnlich, in der Ferne das verzehrende Feuer dunkel leuchtend in der trüben Seele, bis die längst versiegten Thränenquellen sich gewaltsam fluthend eröffnen, und die Wehmuth die zerrissene Seele in ihren Wellen begräbt.
In dieser traurigen Gegend war vor Zeiten ein Dorf, Rörwig, etwa eine Viertelmeile vom Ufer entfernt. Der Flugsand hat das Dorf verschüttet, die Einwohner, meist Schiffer und Fischer, haben sich dicht am Ufer angebaut, nur die feste Kirche, auf einem Hügel erbauet, stehet noch einsam, von der traurigen, beweglichen Oede umgeben. Sie ist der Schauplatz dieser räthselhaften Erzählung.
*
In der einsamen Stube saß, in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, der alte ehrwürdige Prediger des Orts, in fromme Betrachtung versunken. Es war gegen Mitternacht. Das Haus lag am Ende des Dorfes, und die einfachen Sitten der Einwohner kannten das wechselseitige Mißtrauen so wenig, daß Schloß und Riegel ihnen fremd waren und jede Thüre offen blieb. Die nächtliche Lampe brannte trübe, die feierliche Stille ward nur von dem Rauschen des Meeres unterbrochen und der blasse Mond spiegelte sich in seinen Wellen. Da hörte er die Thüre unten öffnen, vernahm starke Männertritte auf der Treppe und erwartete schon die Aufforderung, irgend einem Sterbenden mit geistlichem Troste beizustehen. Zwei fremde Männer traten schnell herein, in weiße Mäntel gehüllt. Der eine näherte sich ihm höflich. »Mein Herr, sagte er, Sie werden uns sogleich folgen. Sie müssen eine Trauung verrichten; das Brautpaar wartet schon in der entfernten Kirche. – Diese Summe, sprach er ferner, und zeigte dem Greis eine volle Goldbörse, wird Sie für die Mühe und für das Schrecken über eine so unerwartete Aufforderung hinlänglich entschädigen.« Der Greis starrte die fremden Gestalten, die ihm etwas Furchtbares, ja Gespenstisches, zu haben schienen, stumm und erschrocken an. Der Fremde wiederholte seinen Antrag dringend und gebieterisch. Als der Greis sich erholt hatte, fing er milde an, den Fremden vorzustellen, wie sein Amt ihm nicht erlaubte, eine solche feierliche Handlung, ohne Kenntniß der Personen und ohne diejenigen Förmlichkeiten, welche die Gesetze fodern, zu begehen. Da trat der Andere drohend hervor. »Mein Herr, Sie haben die Wahl, folgen Sie und nehmen Sie die angebotene Summe, oder bleiben Sie hier, aber dann fährt eine Kugel durch ihren Kopf.« Er hielt ihm ein Pistol vor die Stirne und erwartete die Antwort. Der alte Prediger erblaßte, erhub sich furchtsam und stillschweigend, kleidete sich schnell an und sagte dann: »Ich bin fertig.« Die Fremden hatten zwar Dänisch gesprochen, aber so, daß man die Ausländer nicht verkennen konnte. Die räthselhaften Männer gingen schweigend in der nächtlichen Stille durch das Dorf; der Prediger folgte. Es war eine völlig dunkle Herbstnacht, denn der Mond war schon untergegangen. Als sie aus dem Dorfe traten, sah der von Schrecken und Erstaunen betäubte Greis die ferne Kirche hell erleuchtet; und noch immer stillschweigend schritten seine Begleiter, in ihre weißen Mäntel gehüllt, schnell durch die öde sandige Fläche, während er mühsam und nachdenklich zu folgen strebte. Als sie die Kirche erreicht hatten, verbanden sie ihm die Augen. Die dem Prediger wohlbekannte Nebenthüre eröffnete sich knarrend, und er ward in ein dichtes Gedränge von Menschen gewaltsam hineingestoßen. Um sich hörte er durch die ganze Kirche ein Gemurmel, in seiner Nähe Gespräche in einer ihm völlig unbekannten Sprache. Wie er vermuthete, war es Russisch. Und als er nun mit verbundenen Augen, von allen Seiten gedrängt, rathlos und in großer Verwirrung dastand, fühlte er sich von einer Hand ergriffen, und ward mit Gewalt durch das dichte Gedränge gezogen. Endlich war das Volk, wie es schien, zurückgewichen; man löste die Binde, er erkannte den einen seiner nächtlichen Begleiter, und fand sich vor dem Altare stehend. Eine Reihe großer brennender Wachslichter, in prächtigen silbernen Leuchtern, zierten den Altar; die Kirche selbst war durch viele Lichter so hell erleuchtet, daß man die entferntesten Gegenstände erkannte; und, war kurz vorher, als er, erblindet, in das Gewühl des dichten Haufens gedrängt ward, das Gemurmel ihm fürchterlich, so erfüllte jetzo die furchtbare Stille unter der großen Menge die bange Seele mit Entsetzen. Obgleich die Nebengänge und Stühle dicht mit Menschen besetzt waren, so war dennoch der mittlere Gang völlig leer, und der Prediger erkannte tief unten ein frisch aufgewühltes Grab. Der Stein, der es sonst bedeckt, stand an einen Stuhl gelehnt. Der Prediger sah nichts als Männer, nur in einem entfernten Stuhle glaubte er eine Frau undeutlich zu erkennen. Die Stille dauerte einige Minuten, ohne daß Jemand sich rührte. So mag in der verirrten Seele ein stilles, dumpfes Brüten jeder entsetzlichen That vorangehen.
Endlich richtete sich ein Mann auf, dessen prächtiger Anzug ihn von den Uebrigen unterschied und seinen hohen Stand verrieth. Er schritt rasch über den leeren Gang, indem die Menge ihn anstarrte, und seine Tritte hallten in der Kirche wieder. Der Mann war von mittelmäßigem Wuchse, breitschultrig, von gedrungenem Bau, sein Gang trotzig, das Gesicht gelblich braun, die Haare rabenschwarz, die Züge strenge, die Lippen wie voller Ingrimm geschlossen; eine kühn gebogene Nase erhöhte das Gebieterische seines Ansehns, dunkle, lange und buschige Augenbraunen überschatteten die kleinen schwarzen Augen, in welchen eine wilde Gluth brannte. Er trug ein grünes Kleid, mit starken goldenen Tressen besetzt, an dem Kleide blitzte ein Stern. Die Braut, die neben ihm kniete, war prächtig, ja mit Sorgfalt angezogen. Ein himmelblaues Gewand, reich mit Silber besetzt, umschlang die schlanke Gestalt und warf sich in großen Falten über die anmuthigen Glieder. Ein Diadem, von Edelgesteinen blitzend, zierte die blonden Haare. Die höchste Anmuth und Schönheit ließ sich in den obschon entstellten Zügen des Gesichts erkennen. Die leichenhaften Wangen waren völlig wie erstarrt, kein Zug bewegte sich, die erblaßten Lippen schienen todt, die Augen wie gebrochen, und die erschlafften Arme hingen völlig gerade an dem zusammengesunkenen Leib hinab. So kniete sie, ein Bild des Todes, und ein furchtbares Entsetzen schien so Bewußtseyn wie Leben in einem wohlthätigen Schlummer festzuhalten.
Jetzt erst entdeckte der Prediger ein altes häßliches Weib, in einem fratzenhaft bunten Anzuge, den Kopf mit einem blutrothen Turban bedeckt, welches grimmig, ja spöttisch, über die knieende Braut weg blickte. Hinter den Bräutigam hatte sich ein riesenhafter Mann gestellt, von finsterm Ansehen, der unbeweglich, starr und ernst vor sich hinsah.
Der Prediger, vor Schrecken gelähmt, blieb einige Zeit stumm, als ein wilder Blick vom Bräutigam ihn an die Trauung mahnte. Was ihn in neue Verwirrung brachte, war die Ungewißheit, ob das Brautpaar seine Sprache verstehen würde. Es war ihm nicht wahrscheinlich. Dennoch faßte er sich und wagte es, den Bräutigam nach den Namen des Brautpaars zu fragen. »Neander, Feodora«, antwortete dieser mit einer rauhen Stimme.
Der Prediger fing nun an, die Trauungsformel herzulesen, indem seine Stimme schwankte, und er, oft sich irrend, die Worte wiederholen mußte, doch ohne daß das Brautpaar seine Verwirrung zu bemerken schien, wodurch er in seiner Vermuthung, daß beiden die Sprache, wenn auch nicht völlig, unbekannt seyn müßte, bestätigt ward. Als er nun fragte: »Neander, willst du die hier neben dir knieende Feodora als dein rechtmäßiges Eheweib erkennen?« da zweifelte er, ob der Bräutigam, der Sprache unkundig, antworten würde; aber zu seinem Erstaunen sprach dieser laut, ja fast schreiend, das Ja in einem furchtbar gellenden Tone, der durch die ganze Kirche drang. Tiefe Seufzer, die allenthalben aus der Menge hervordrangen, begleiteten dieses entsetzliche Ja, und ein stilles Zucken, wie ein entfernter Blitz, setzte dir todtenbleichen Züge der Braut in vorübergehende Bewegung. Er wandte sich darauf, lauter redend, als wollte er sie aus dem Todesschlummer erwecken, an die Braut, indem er sagte: »Willst du, Feodora, den neben dir knieenden Neander für deinen rechtmäßigen Ehegemahl erkennen, so antworte durch ein vernehmliches Ja.« Da erwachte die entseelte Braut; ein tiefes, grauenhaftes Entsetzen bewegte die erschlafften Wangen, die erblaßten Lippen bebten, ein schnell verfliegendes Feuer blitzte aus den Augen, die Brust hob sich, ein gewaltsamer Thränenguß löschte die Gluth der Augen, und das Ja ließ sich hören, wie das Angstgeschrei einer Sterbenden, und schien in den unwillkürlichen Tönen des Schmerzes, die aus jeder Brust der Menge hervorbrachen, ein tiefes Echo zu finden. Die Braut sank der widrigen Alten in die Arme. Einige Minuten vergingen in furchtbarem Stillschweigen. Da sah der Prediger die leichenblasse Braut wie vorher in tiefer Betäubung knieen, und beendigte die Trauung. Der Bräutigam erhob sich und führte die schwankende Braut nach ihrem vorigen Platze; die Alte und der riesenhafte Mann folgten. Die Begleiter des Predigers erschienen wieder, verbanden ihm die Augen, zogen ihn nicht ohne Mühe durch das Gedränge, und, nachdem sie ihn aus der Thüre gestoßen hatten, verriegelten sie diese inwendig und überließen ihn sich selber.
Hier stand er nun einsam und ungewiß, ob das schauderhafte Ereigniß, mit allen seinen furchtbaren, ja gespensterähnlichen Umständen, nicht ein Traum wäre, der ihn ängstigte. Als er aber die Binde von den Augen gerissen hatte, als er die hellerleuchtete Kirche vor sich sah, und das Gemurmel der Menge hörte, mußte er sich wohl von der Wirklichkeit der räthselhaften Begebenheit überzeugen. Um den Erfolg, so viel möglich, zu erfahren, verbarg er sich in einen Winkel der Kirche, an der entgegengesetzten Seite, und indem er hier lauschte, hörte er, wie das Gemurmel immer stärker ward. Es war, als entspänne sich ein heftiger Streit; er glaubte die rauhe Stimme des Bräutigams zu erkennen, die gebieterisch Stillschweigen gebot. Dann erfolgte eine lange Pause. Ein Schuß fiel, das Geschrei einer weiblichen Stimme ließ sich hören. Darauf wieder eine Pause; dann ein Wühlen und Arbeiten, welches fast eine Viertelstunde dauerte. Die Lichter wurden ausgelöscht, das Gemurmel erhob sich wieder, und die ganze Menge eilte zur Kirche hinaus, und eilte lärmend dem Meere zu.
Jetzt erhob sich der alte Prediger, und eilte nach seinem Dorfe. Dort erweckte er Nachbarn und Freunde, indem er ihnen, was ihm Wunderbares und Unglaubliches begegnet, noch von Schrecken ergriffen, erzählte. Aber so ruhig, stille, durch die gewohnten Grenzen des Herkömmlichen bestimmt, war Alles, was diesen einfachen Menschen entgegentrat, daß sie von einem ganz andern Entsetzen ergriffen wurden. Sie glaubten nämlich, daß irgend ein unglücklicher Zufall die Einbildungskraft des geliebten Lehrers in Unordnung gebracht hätte, und nur mit vieler Mühe, und indem sie sich nach seinen vermeintlichen Phantasieen richten wollten, überredete er Einige, sich mit Brecheisen und Schaufeln zu versehen und ihm nach der Kirche zu folgen.
Indessen war die Nacht verschwunden, die Sonne zeigte sich schon, und als der Prediger mit seinen Begleitern den Hügel zur Kirche hinaufstiegen, erkannten sie ein Kriegsschiff unter vollen Segeln, welches sich vom Ufer entfernte und nach Norden hinsteuerte. Ein so überraschender Anblick in dieser einsamen Gegend machte die Begleiter schon zweifelhaft, aber noch geneigter waren sie, dem Greise Glauben beizumessen, als sie die Nebenthüre der Kirche gewaltsam erbrochen fanden. Voller Erwartung betraten sie die Kirche. Der Prediger zeigte ihnen nun das Grab, welches er in der Nacht aufgewühlt gesehen hatte. Man erkannte leicht, daß der Stein abgewälzt und von Neuem hingelegt war; das Brecheisen ward angesetzt, und in dem Grabe fand man einen neuen, reich geschmückten Sarg. Mit fast jugendlicher Ungeduld stieg der Greis selber mühsam in das Grab hinab, Andere folgten ihm; der Deckel ward abgehoben, und der Greis fand seine entsetzliche Ahnung bestätigt. In dem Sarge lag die Braut ermordet. Das prächtige Diadem war verschwunden. Die Kugel war in der Gegend des Herzens durch die Brust gegangen. Die entstellenden Züge des tiefen Grams waren aus ihrem Antlitze verschwunden, ein himmlischer Friede hatte das schöne Gesicht verklärt, und wie ein Engel lag sie da. Der alte Greis stürzte laut weinend neben dem Sarge nieder, und betete für die Seele der Ermordeten, und stumme Verwunderung und Grauen ergriff die Begleiter.
*
Der Prediger fand sich verpflichtet, dieses Ereigniß dem Bischof von Seeland, als seiner höchsten Behörde, ungesäumt und umständlich zu melden, und bis er aus Kopenhagen Nachricht erhielt, nahm er den Freunden einen Eid ab, daß sie stille schwiegen. Das Grab ward wieder zugedeckt, und Keiner wagte es, etwas zu sprechen. Plötzlich erschien ein angesehener Mann aus der Hauptstadt, erkundigte sich genau nach Allem, ließ sich das Grab zeigen, lobte das bis dahin beobachtete Stillschweigen, forderte strenge, daß der Vorfall beständiges Geheimniß bleiben sollte, indem er jeden, der davon zu sprechen wagte, mit der härtesten Strafe bedrohte.
Nach dem Tode des Predigers fand man einen schriftlichen Aufsatz, dieses Ereigniß erzählend, dem Kirchenbuche beigefügt. Einige glauben, daß es mit den schnellen und gewaltsamen Thronveränderungen nach Peter des Ersten und Katharinens Tode in irgend einer geheimen Beziehung stehen mag. Das tiefe Räthsel dieser schauderhaften That zu lösen, wird schwer, wo nicht unmöglich seyn.