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6

Der Mittag war längst vorüber, da erblickte Christine, die wegen ihres gefährdeten Mittagessens schon unzähligemal nach Jochen Ausschau gehalten hatte, ihren Mann, von der Heidewasserbrücke herkommend, auf der Feldgasse, den Kopf sinnend geneigt, auf nichts um ihn her, nicht einmal auf seine eigenen Schritte achtend, fast wie ein Lebensverirrter dahingehend, dem es gleich ist, wo er sich in der Welt beendet. Selbst an seinem eigenen Gartenpförtchen führte ihn die Versunkenheit vorüber, und wenn nicht ein Vogelschwarm mit großem Lärm vor ihm aus dem weitästigen Ahorn in die Luft aufgeflogen wäre, daß der Gerber aus seiner Gedankenverkurbelung erschrocken auffuhr und zu sich kam, er wäre bis ans Ende der Feldgasse, bis dorthin gegangen, wo die Glaesersche Gärtnerei mit ihrem schmiedeeisernen Zaun sich quer überlegte und dem Sacksträßlein schon nach fünf Hausbreiten ein Ziel setzte.

Jochen Maechler sah, wo er hingeraten sei, griff nach seiner Nase, trat sich die Hosen herunter, die gar nicht heraufgerutscht waren, und machte geruhig kehrt, wie ein sicherer Mann, der mit Bedacht an seinem Haus vorübergegangen war, und stöberte mit seinem Stock durch den Zaun in dem Gesträuch, um irgend einen Arglistigen irrezuführen, der vielleicht sein verdattertes Gehabe beobachtet hatte. Doch die listige Sorge des Meisters war unnötig. Denn um zwei nachmittags, vor allem an Sonntagen, ist die Feldgasse zu Wilkau wie ausgestorben, und wenn der Himmel über und das Heidewasser neben ihr mit seinem Wellengeplauder nicht wären, das Sträßlein müßte an sich verzweifeln.

Selbst Christine hatte von seinem Vertrudeln nichts bemerkt. Denn kaum daß er vor den Augen der ungeduldig Wartenden aufgetaucht war, hatte sie sich eilig an den Herd gemacht, das Feuer frisch angefacht und den verkühlenden Sonntagsbraten an die heißeste Stelle gerückt. Ihr Jochen, der indes das Gartenpförtchen umständlich zumachte, und obwohl die Haspe diensteifrig eingeschnappt war, es aufriß und wieder zustieß, es wieder öffnete und wieder schloß und dann bedrückt sich übern Zaun lehnte und Ausschau in die Welt hielt, in der für ihn Nabe und Rad sich voneinander gelöst hatten, ihr Jochen schlug sich ganz wie sie mit den Folgen des gestrigen Abends. Aber während sie durch eine traumweiße Nacht in ein neues Lebensglänzen gehoben worden war, hatten die verjährten Schattengewalten aus der Reihe seines Vatergeschlechtes wieder Gewalt über ihn bekommen, daß sein Sieg über den scheinheiligen Inspektor gestern abend und die Glut der verspäteten, wahren Hochzeitsnacht scheinbar spurlos an ihm vorübergegangen waren. Und während er das Vorgärtchen langsam hinschritt, immer wieder stehenblieb und die Stockzwinge tiefsinnig in den Sand bohrte, wurde es ihm zur quälenden Sicherheit, daß sein stundenlanges Schweifen um die Grandorfer Teiche bis an den Schwarzhofer Wald wenig, ja fast gar nichts genützt habe. Denn war er nicht zuletzt an seinem eigenen Haus vorübergeführt worden und hatte das nicht den Sinn, daß seine unverbrüchliche Lebenseinstellung doch von dem arglistigen, hinterhältigen Neefe unterwühlt worden sei?

In dieser Woge bitteren Mißmutes stand Jochen endlich unter der Wohnküchentür, nachdem er, ohne etwas zu sehen, an der Bank unter dem Frontspieß vorüber, durch den Hausflur gekommen war.

Christine, die eben den Braten begoß, rief: »Endlich!« und nickte ihm glühenden glücklichen Gesichtes zu, weil sie alle Hände voll zu tun hatte. Dem beschatteten Jochen fuhr davon ein Schein übers Herz, er trat zu ihr an die Herdglut, legte streichelnd seine große braune Gerberhand auf ihren Scheitel und wollte ihr eigentlich etwas Zärtliches sagen. Beim besten Willen wurde aber nichts daraus. »Ja, ja, Christel«, sagte er nach einem Stocken mit tiefer, zäher Stimme, »es hat lange gedauert«, nichts weiter, so, daß sein Weib betroffen den Kopf wendete und prüfend in sein Gesicht sah, in dem gar nichts von Sieg und Segen, sondern die alte ratlose Gutmütigkeit zu lesen war, nur um den Mund und im Licht der eingekniffenen Augen etwas bitter gewürzt. Frau Christine schob schnell die Pfanne an ihre alte Stelle und legte den Löffel auf den Braten, um durch eine herzliche Umarmung den umschatteten Mann in ihr Glück zu reißen. Als sie sich aber umdrehte, war Jochen schon leise von ihr getreten, lehnte den Stock in die Ecke und hing sein Jackett sorgsam und umständlich an den Kleiderrechen neben der Schlafstubentür, versunken, abseitig, verschollen wie immer. Christine tat wohl einen Schritt zu ihm hin, ließ aber lächelnd von dem beabsichtigten Zärtlichkeitsüberfall ab, denn, ich kann mich doch nicht auf seinen Rücken hocken, sann sie ein wenig schmollend, wendete sich um und fuhr fort, den Tisch zu beschicken.

Nicht anders ging es während des Essens zu. Mit großem Behagen widmete sich der Gerber der sonntäglichen Mahlzeit, schmunzelte dann und wann sein »gut«, »sehr gut, Christel«, trat aber aus seiner unnahbaren Versunkenheit nicht heraus, mochte das Zünglein der Frau auch auf allen Registern spielen. Nur als sie ihn mit seiner Frühflucht aus dem Bett und seiner hinterhältigen Kocherei neckte, blickte er sie aufleuchtenden Auges an und sagte lächelnd: »Ja, ja, liebe Frau, ich weiß, was sich gehört«. »Nach einer solchen Nacht«, hätte er, nach dem Gefühl der erfüllten Frau, hinzusehen müssen. Statt dessen glitt nur ein glückhafter Widerschein über sein großes Gesicht, der auch wie von fern noch lange darin hängen blieb, daß das Herz der lieben Frau wieder ganz hochzeitlich aufblühte und mit ihrer Hand innig die seine umschloß. »Du lieber, lieber Jochen«, sagte sie dabei verschämt und errötete bis in ihre schwarzen Haare hinauf.

Vielleicht wäre dieser Abglanz den ganzen Sonntag in dem Gerberhaus auf der Feldgasse zu Wilkau geblieben, wenn Christine nicht am Ende der Mahlzeit von dem gestrigen Streit zwischen Maechler und Neefe zu reden angefangen hätte. Sie tat es in dem Bestreben, die glückhafte Erhellung ihres Mannes zu befestigen und zu vertiefen. Allein, kaum hatte sie von der Überlegenheit Jochens angefangen, mit der er des Inspektors Wichtigtuerei abgefertigt hatte, als aus Maechlers Gesicht jeder Schimmer verschwand.

»Wie denn Wichtigtuerei?« sagte er bitter auflachend. »Für dich war er doch wochenlang der wahre Heiland. He, ist es nicht so?«

»Gut, mag sein, Lieber!« entgegnete sie mit freier Stirn. »Ist dir nicht auch schon eine Mücke ins Auge geflogen, Jocherlein, Hand aufs Herz? Aber seit gestern, wo du ihn vollkommen zugedeckt hast, ist er es nicht mehr, kann es nicht sein.«

»Na, na, Christel! Zugedeckt sagst du?«

»Nicht bloß das, liebster Mann, total erledigt, der schamlose Mensch.«

Sie griff leidenschaftlich nach seinen Schultern, um ihn wachzuschütteln, denn er sah sie mit großen finster-ungläubigen Augen an und drückte ein wenig unwirsch ihren nach ihm langenden Arm herunter.

»Falsch, falsch! Falsch sag ich, Christel!« erwiderte er erregt, riß sich von dem Stuhle, trat an das Fenster, und, leer hinaussehend, atmete er schwer wie unter einer Last. Dann drehte er sich um, lachte ihr grell ins betroffene Gesicht und sagte spöttisch:

»Vielleicht willst du gar noch sagen Sieg, haha! He?«

Ein Nachklang von dem leidenschaftlichen Aufbrausen des gestrigen Abends war in seiner Stimme, aber nun nicht triumphierend, sondern messerscharf, höhnisch, daß Christine bedrückt war.

»Jawohl, gesiegt hast du, Jochen. Das mußt du doch selbst zugeben«, antwortete sie unsicher, weil sie nicht wußte, was in ihren Mann gefahren war.

Jochen lachte abermals, aber nun sehr verbissen.

»Nennt sich das Sieg, Weib, wenn es mich auf meinem stundenlangen Gang um die Teiche immer wieder wie ein Wolf anfiel, über die Wiesen geraden Wegs nach Wilkau hineinzurennen und vor allen Leuten dem hinterläufigen Kerl, dem … dem Neefe, die Larve vom Gesicht zu reißen, und so einer zu werden, wie mein unglücklicher Vater war, einer, der erst mit der Linken, zuletzt mit beiden Händen die Straßenmaschine dreht. Nennst du das Sieg, Christel? Nein, eher hat mir der Inspektor mit seinem Giftwühlen und großtuerischen Bellen Schaden gebracht, daß ich an meiner lieben Mutter vorbei, wirklich in dieses Klugreden verfallen bin, das meinen Vater endlich im Berggarten um den letzten Atem gebracht hat.

Mach doch die Augen auf, Christel! Hat er nicht selber gesagt, ich habe den Schritt des großen Nathanael an mir? – Ihr Weiber, ihr lieben Weiber, fliegt wie die Vögel durch die Luft. Eines richtigen Mannes Wagen aber kutschiert es in der Tiefe. Jawohl, mit Gedanken beladen, mit einfachem Tun, aber nicht mit Worten.«

Christine saß mit gesenktem Kopfe da und hörte erstaunt und ergriffen ihrem Manne zu. Als sie aufschaute, war sein Platz am Fenster leer. Er hatte immer ruhiger und leiser gesprochen und war dann lautlos aus der Stube geschlichen. Die Tür stand noch auf und sie hörte ihn schwer über die Stiege gehen, brachte es aber nicht fertig, ihn zurückzurufen oder ihm nachzufolgen.


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