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8

So war es. Nachdem der letzte Laut in der Schlafstube erloschen war, erhob sich Jochen Maechler von einem Stuhl am Fenster und trat dann nach einem nochmaligen sichernden Horchen unter die Lampe, zog den Brief des Pfarrers Kelwel, der ihm von Neefe übergeben worden war, aus der Brusttasche. Mit zittriger Greisenhand stand folgendes geschrieben: »Ich, Martin Kelwel, der Diener Gottes, habe meinen lieben Freund Nathanael Maechler mit meinem Herzen begraben helfen, und verlange keinen Lohn dafür. Wenn sein Sohn, Herr Jochen Maechler, aber freiwillig etwas tun will, so möge er der Kirche für ihre Armen 100 Mark schenken. Gott sei uns allen gnädig! Martin Kelwel, Pfarrer an der katholischen Kirche zu Wilkau.«

Erschüttert sank dem Gerber die Hand mit dem Brief auf den Tisch. Nach langem Hinsinnen raffte sich der Meister mit tiefem Atem auf, fast so, als schüttle er eine Last ab, die nicht hierher gehörte und kehrte sich zu seinem Schreibschrank. Während er aufschloß und die Schreibfläche herunterließ, streiften seine Gedanken zu Neefe hin, dem er doch eigentlich diesen Nachlaß der Begräbniskosten zu verdanken hatte, die sonst in die Hunderte gegangen wären. Ja, aber warum hatte er das getan? Nur, um ihn als Mitläufer zu seinen selbstsüchtigen Machenschaften zu gewinnen und ihm seine Ehre und heiligsten Grundsätze abzukaufen. O nein, Neefe, ich bin nicht mein eigner Judas! Daß ich den Vorteil annehme, Inspektorlein, das ist mein Dank an dich, und zugleich die Rache an deiner Verschlagenheit. Mit dieser Entschlossenheit zog Maechler einen Stuhl heran und begann mit der Musterung seiner aufgelaufenen Barschaft. Silber und Gold schwirrten wieder leidenschaftlich durcheinander, Posten wurden aufgestellt und abermals und nochmals verschoben, kurz, das Geldtreiben, das Christine im beginnenden Traum gehört hatte, ergriff den Gerber wieder dermaßen, daß er auf nichts anderes in und um sich achtete. Am Ende stellte es sich heraus, daß ihm 150 Mark übrigblieben, die durch nichts belastet waren. Er las sieben der schönsten goldenen Zwanzigmarkstücke und ein Zehnmarkstück aus dem Geldhaufen, versenkte die Summe in seine Hosentasche, verschloß alles vorsichtig, entzündete eine Kerze und verließ auf den Zehen die Wohnküche, nachdem er die Hängelampe ausgeblasen hatte. Alles geschah nach einem Plan, der sich instinktiv heute nachmittag in seinem Innern zurechtgeschoben hatte. Denn der Verstand war in Jochen Maechler nicht Gesetzgeber, sondern Diener blutsmäßig bedingter Tiefenkräfte. Sicher und doch wie im Zwang einer Vorherbestimmung stieg er vorsichtig die Treppe bis zum Vorraum des Frontspießes hinauf und trat dort in das erste der beiden Mansardenzimmerchen, das ehedem die Schlafstube seiner Eltern gewesen war, und in dem zuletzt sein Vater fast eremitenhaft gewohnt hatte. Ein Bett, ein Stuhl, ein kleiner Tisch und ein uraltes Haubenschränkchen, mit einem verglasten Aufsatz oben und drei Kommodenschüben unten, darin bestand die ganze Einrichtung. Im Anblick des alten Frauenmöbels, das noch die bunte schlesische Tischlermalerei trug, erinnerte sich Jochen Maechler an seine Kinderseligkeit, in den Kramschüben nach Herzenslust zu wühlen, und obwohl ihn heut nicht ein Hauch kindhaften Schatzgräbergelüstes anwehte, stellte er doch den Leuchter mit einer gewissen Bewegtheit auf den Kommodenvorstoß des Schränkchens und begann, den alten Kram wie in der versunkenen Kinderzeit durchzuwühlen, aber nicht um eine Kostbarkeit, sondern um ein Säckchen zu finden, in dem er seinen Schatz verwahren konnte. Denn das Geld in einer Bank zu hinterlegen oder auf Zins auszuleihen kam, nach seiner merkwürdigen Lebenseinstellung, für ihn gar nicht in Frage. Davon hielt ihn das Weltmißtrauen seines Wesens und der Stolz ab, im geheimen bedeutender zu sein als er den Leuten erschien. Der abgelegte Frauenkram des ersten Schubes: alte Barthauben, verblichene Seidenbänder, Mieder, Spitzentüchlein und anderes, auch Strümpfe und Handschuhe, glitten durch seine suchenden Finger. Was er begehrte, fand er nicht. Im zweiten Schub fing dasselbe Spiel an, und nach einigen erfolglosen Griffen durch die wahllos zusammengestopften Sachen, langte er ungeduldig in die hintersten Winkel des Schubes. Endlich kam ihm in der rechten Ecke des Schubes, ganz unten, wie absichtlich versteckt, ein kleines vielverschnürtes Pappkästchen unter die Finger, und als er es in den Schein der Kerze hervorzog, rückte mit eins die Wand von zwei Jahrzehnten seines Lebens auseinander. Das war ja das Kästchen, in dem er vor seinem Wegzuge aus dem Vaterhause nach Görlitz alle ihm damals teuren Erinnerungslücke verwahrt und in den langen Jahren vollkommen vergessen hatte. Hastig schnitt er den vielverknoteten Bindfaden durch und hob den Deckel. Da lag wohlgeordnet der verschollene Reichtum seiner versunkenen Jugendzeit vor ihm: ein Stück roten Bandes, ein wohlgeformter, runder Stein von lederbrauner Farbe, vertrocknete Blumen, jede sorgfältig in Papier gewickelt, eine gut eingeschlagene Taschenmesserklinge, eine aufgeplatzte Weidenpfeife mit herausgefallenem Kern und noch anderes. Maechler drückte den Kommodenschub halb zurück, setzte sich darauf und faßte behutsam wieder und wieder bald dieses, bald jenes Stück an, um mit klarer Erinnerung der Erlebnisse habhaft zu werden, durch die diesen plunderhaften Rückständen einst der Wert großer Kostbarkeiten verliehen worden war. Es gelang Jochen nicht, durch die vernebelte Traummauer in das verschollene Land seiner Kindheit vorzudringen. – Nur wie hinter Bergen streiften unbegreifliche Klänge und Laute hin, halbbelichtete Gestalten huschten vorüber, und Landschaften wogten auf Augenblicke aus einem Rauch, die märchenhaft, nie gesehen und ihm doch ahnungsvoll bekannt waren. Hingenommen sah Maechler bei geschlossenen Augen lange dem Vorüberflug dieser halbzerstörten Bildreihe seiner Erinnerung zu.

Ganz zu unterst, aus dem Boden des Kästchens, entdeckte er zuletzt einen abgegriffenen, altersgrauen, beschriebenen Papierstreifen. Aber kaum, daß er den vergilbten Zettel, der nicht größer war als eine ausgewachsene starke Männerhand, auseinandergefaltet und einen Blick auf die altväterlichen Schriftzüge geworfen hatte, zerriß der dichte Zeitnebel über seiner Jugend das erstemal vollkommen, und er sah das Erlebnis greifbar deutlich vor sich, mit dem dieser zerfaltete, mißfarbene Zettel in Verbindung stand. Seine Mutter, im Sonnenlicht des frühlingsgrünen Ziergärtchens stehend, und er, vierzehnjährig, vor ihr, steht, wie ihr schönes, ernstes Gesicht noch ernster wird in einem kurzen Zögern, das sie schnell überwindet. Mit entschlossenem Griff, die oberen zwei Knöpfe lösend, holt sie unter dem Mieder das vergilbte Papier hervor, das er auf dem Schub sitzend jetzt betrachtet, und legt es ihm in die Hand. Aber er ist nicht imstande zuzufassen. Eine Art Lähmung liegt in seinem Körper, weil er einen Teil von Mutters weißer Brust gesehen hat und an dem Zettel noch die Wärme spürt, die das Papier von ihrem Herzen empfangen hat. »Na, faß nur zu, Jochen!« hört er ihre wohlklingende Stimme sagen. »Solange du diese Worte in Ehren hältst, wirst du auch dein Leben in Ehren halten. Verwahre ihn gut.« Er versteht nicht ganz genau ihre Worte und vermag die ungewohnten Schriftzüge nicht zu entziffern, weil er zu verwirrt ist, steht noch eine Weile und starrt hilflos auf den Zettel. Die Mutter ist verschwunden.

Damit reißt die Erinnerung ab, nein reißt nicht ab, sondern alles, der Garten, seine Mutter und er selbst wird vom Lichte aufgesogen.

Und jetzt, nach mehr als zwei Jahrzehnten, da er in dem Mansardenzimmerchen seines Vaters auf den engbeschriebenen Zettel starrt, ist die Verwirrung von damals wieder über ihm, die Furcht vor etwas Ungeheurem, das auf diesem Zettel steht und eine grenzenlose Verehrung seiner Mutter, alles, was ihn in jener Zeit dazu gebracht hat, das Papier ungelesen so zu verstecken, daß niemand es findet. Aber nun überwindet sich Jochen doch und entziffert mühsam im Schein der Kerze die Worte:

Laß mich, wenn ich hier geschlafen,
Wieder gehen meine Straßen.
Schicke mir durch meinen Fleiß,
Was bei dir steht hoch im Preis.

Guten Willens eine Tracht
Lad mir auf in dieser Nacht.
Stets mein Herr und stets dein Knecht.
Droben Gnade, drunten Recht.

Den Gerber Jochen Maechler überfiel ein Sinnen, als stürze er in einen Brunnen, so, daß ihm der Atem stehenblieb. Das war ja ein geformter Ruf seiner Mutter, nein, von noch weiter her, vielleicht jahrhundert tief, direkt an ihn. »Drunten Recht«, hieß es nicht so? Jawohl, genau das wollte er doch: Das Recht, sein Leben sicher zu stellen. Er sprang von dem Schube auf, überzeugte sich durch einen Griff in die Tasche, daß er das Geld noch besitze, räumte das Erinnerungspäckchen bis auf den Zettel schnell ein, und nachdem er die Schnur lässig darum geschlungen hatte, versenkte er es wieder in den rechten Schubwinkel und stopfte Kram darüber, den er so fest drückte, als maure er das Kästchen ein.

Dann hielt er den Zettel bei geschlossenen Augen in bebender Hand, damit dessen Zauber ganz in ihn eingehe. Denn, das war ein Talisman, ihm von der Fügung in die Hände gespielt, zum Gelingen dessen, was unausgesprochen in seinem Inneren gewartet hatte und nun jäh in ihm aufsprang. Ohne einem Überlegen auch nur Haaresbreite Raum zu geben, griff er einen Strumpf auf und überzeugte sich, daß er noch ganz heil sei. Dann steckte er das Gebet in die Fußspitze und schüttete die Goldmünzen hinterher. So war er sicher, daß seiner Sparsamkeit von der Mutter und den Ahnen her Glück und Segen beschieden sei. Das Folgende vollführte er wieder wie unter dem Zwang unausweichlicher Vorausbestimmung. Er stieg auf den Zehen in den obersten Boden hinauf, und hängte seinen Schatz an den herausstehenden Nagel eines Sparrens. »Wenn mehr wird, kann ja ein Strick gespannt werden«, murmelte er versunken in sich hinein, drückte die Tür der totenheimlichen Kammer fest zu und legte ein Vorhängeschloß vor, dessen Schlüssel er vorläufig in die innere Westentasche steckte.

Dann verlöschte er das Licht und stand eine Weile in der Finsternis, erschöpft wie nach einem langen gefährlichen, schicksalhaften Lauf. Nun war sein Vater ganz überwunden. Die Gewalt über sein Leben hatte er jetzt allein in den Händen und niemand sollte ihn mehr darin stören. Diese Sicherheit erfüllte Jochen mit wahrer Seligkeit. Dann schlich er leise, wie einer, der jemand etwas gestohlen hat, hinunter, erst über die oberste Bodentreppe, die eng und steil wie eine Hühnerleiter war, und dann die untere bequemere, die in den Flur mündete. Lautlos und sicher stieg er die gewohnten Stufen hinunter, bis er an den Absatz kam, wo die Treppe eine Kehre machte. Da wurde der Gerber lächerlicherweise unsicher, daß er nicht mehr weiter wußte, und obwohl es doch ganz finster war, suchte er mit den Augen die Stelle, wohin er den ausschreitenden Fuß zu setzen habe, um sich vor einem Falle zu bewahren.

Als er den Kopf wieder hob, stutzte er. Denn vor ihm in der Nacht stand unbeweglich ein Unsichtbares ihm gegenüber, und musterte ihn drohend und ein wenig traurig.

»Wer bist du?« lispelte Jochen erschrocken, an dem von jeher die Schatten aus dem Unraum Fug hatten, aber wie alle diese Wische gab auch dieser keine Antwort. Um ihn loszuwerden, machte er sich fest, stieg vollends in den Hausflur nieder und ging lautlos aus dem Hause. Allein, obwohl er fortwährend eine schimpfliche Nichtachtung in sich aufrichtete, das Unheimliche wich nicht von seiner Seite. Die Drude aus der Kindheit war es nicht, das spürte der Gerber deutlich. Aber wer sonst? Um eine klare Entscheidung herbeizuführen, lenkte er seine Schritte zu dem schmalen Beet an den Lohtonnen, wo das Bänkchen stand, auf dem sein Vater so viele hundert Stunden gesessen, und sich träumend in den Irrgängen seines durchmessenen Lebens verloren hatte. Und wirklich, je mehr sich Jochen dem Bänkchen näherte, desto leidenschaftlicher wurde das Andringen des Unsichtbaren. »Also du bist es?« rief er empört. »Ich hab an der Luke geschworen, reinen Tisch zu machen und halt es, und wenn ich dabei zugrunde gehe.«

Wie ein Wilder stürzte er sich auf das Bänkchen, und riß es, in Wut und wie ein Verbrecher in sich hineinfluchend, auseinander, trat die Löcher zu, in denen die vier Pflöcke gefleckt hatten und schaffte alles, Latten und Hölzer über die Straße an das Heidewasser, das sie klatschend auffing und davontrug. Von dem untergehenden Monde gloste der letzte schwache Schimmerstreifen in die Nacht, als Jochen den letzten Knüppel ins Wasser warf.

»Ein Augenzwinkern Gottes war das!« sann Jochen Maechler jubelnd, beglückt und befreit, als er in das Haus zurückkehrte, nicht ruhig schreitend, nein stürmend. Und mit jedem Schritte wuchs seine Leidenschaftlichkeit. In der Schlafstube angekommen, stoben die Kleider von ihm, und er stürzte sich auf sein Christel, die von dem Gepolter erwacht war und ihn mit verlangenden Armen auffing.

»Nun ist alles gut, liebstes Christel, alles, alles gemacht«, stotterte er atemlos, fast schluchzend, daß das gesegnete Weib ihm immer wieder die herüberfallenden Haare aus der Stirn strich, beglückt von dem Strom der Erfüllung, der sie überflutete.

Durch das Ineinanderfließen dieser beiden Kreise auf dem Meere des Schicksals tauchte aus dessen Tiefe immer deutlicher das Antlitz eines neuen Menschen.


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