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Der ersehnte Rollsitz

»Meine liebe Gretel!

Dieses Mal hast Du leider länger auf Deinen Brief warten müssen, aber dafür habe ich Dir auch viel Schönes zu berichten. Meine Eltern haben sich endlich davon überzeugen lasten, daß meine Lust und Liebe zum Rudern nicht unberechtigt ist. Seit vierzehn Tagen gehöre ich nun der Ruderriege der Schule als vollwertiges Mitglied an. Wie Du weißt, habe ich vorher schon an den Übungstagen teilgenommen, und seit dem Anrudern üben wir im Boot. Die Arbeit im Boot ist doch viel schöner, man sieht doch da, was man schafft! Morgen wollen wir zum ersten Male mit Rollsitz fahren, das ist dann das letzte, was wir noch zu lernen haben. Unsere ›Erna‹, ach so, ich meine Fräulein Stein (unter uns nennen wir sie nämlich Erna; sie ist ein ganz famoser Kerl, der alle Dummheiten mitmacht), meinte neulich, unser Vierer, in dem ich am Schlag sitze, ist schon recht gut in der Zusammenarbeit. Sie will uns noch tüchtig ›schleifen‹ und hofft, daß wir dann im Herbst zur Schülerregatta im Stilrudern mitfahren können. Das würde mich mächtig freuen. Wenn wir da gewinnen würden! Wir wollen uns große Mühe geben, um einen Preis zu holen, und haben uns untereinander gelobt, keinen Übungstag zu schwänzen.

Im nächsten Monat will ›Erna‹ unsere Mütter mal zum Kaffee ins Bootshaus einladen, damit sie sehen können, was wir schon gelernt haben. – Über den Besuch von Heinz bei den Eltern hast Du inzwischen von ihm selbst schon gehört. Er wird ja öfter zu uns kommen, soweit es sein Studium zuläßt. Denk' an, er hat mir geflüstert, daß er beabsichtigt, der Ruderabteilung seiner Korporation beizutreten, sobald er sich etwas mehr in Berlin eingewöhnt hat. Wollen mal sehen, wer die ersten Lorbeeren erringt!

Doch jetzt muß ich an die Schularbeiten, morgen ist Übungstag, da komme ich dann nicht dazu.

Ich grüße Dich und Deine Eltern herzlich, auch von meinen Eltern. Auch von Hella Wingert soll ich Dich grüßen.

In alter Treue und Freundschaft
Deine Hanni.«

Befriedigt steckte Hanni morgens auf dem Schulwege diese Epistel in den Briefkasten. Ihre Gedanken eilten schon einige Stunden voraus zum Bootshaus und beschäftigten sich mit dem Problem »Rollsitz«. Zum ersten Male zog sie sich in der Geographie, die sonst zu ihren Lieblingsfächern gehörte, eine Rüge zu, da sie offensichtlich mit den Gedanken abwesend war. Obendrein mußte sie sich dann noch die Neckereien Hellas gefallen lassen. Auf der Fahrt ins Bootshaus war aber der ganze Kummer wieder vergessen.

Als das Boot aus dem Schuppen gezogen war, brachte Hanni schleunigst die vier übereinandergetürmten Rollsitze angeschleppt. »Hanni, du Unglücksrabe, die Rollen dürfen nicht auf den Sitzflächen liegen! Sie sind doch geölt! Nachher habt ihr Ölflecke an euren Ruderbuxen. Wische die Sitze mit einem Lappen gut ab, und merkt euch alle, daß immer zwei und zwei Sitze mit den Rollen gegeneinander getragen werden«, sagte Fräulein Stein.

.

Hanni hatte heute offensichtlich einen Unglückstag. Das Boot sollte zu Wasser gebracht werden. »Mannschaft am Boot verteilen«, sagte Fräulein Stein, und Hanni hielt es dabei in Höhe des Steuersitzes auf »Kiel«, das ist eine eiserne Schiene auf dem tiefsten Längspunkte des Bootes, auf dem es auf Land vorwärts geschoben wird. Als das Boot nun über die Rolle am Ende des Steges in das Wasser gleiten sollte, wobei es an den Auslegern weitergegeben wird, kam Hanni nicht schnell genug am Ausleger von Nummer vier vorbei, während von der Spitze aus weitergeschoben wurde. Sie wurde mitgerissen und verschwand im Wasser, gerade als sie noch »Halt!« schrie. Verdutzt schauten die Mädel drein und brachen dann in ein schallendes Gelächter aus, als Hanni pustend auftauchte. »Lauf' schnell nach oben an meinen Schrank, da findest du einen Bademantel und trockenes Ruderzeug«, tröstete Fräulein Stein. »Ziehe dich um, wir warten so lange. Solch' kleine Taufe gehört auch zur Ruderei!« Mit der nassen Spur, die Hanni bis hinauf zum Schuppen hinterließ, wurde sie nachher noch tüchtig aufgezogen. Im Winkel ihres Herzens aber dachte sie: Spottet ihr nur, ihr fallt ja auch noch mal ins Wasser, und dann lache ich!

Nach diesem Zwischenfall stiegen die Mädel ein, und rückwärts rudernd ging es los. »Beim Rückwärtsdrücken und Drehen bleibt der Rollsitz fest stehen«, sagte die Lehrerin, dann ließ sie die Mädel einige Schläge machen und fing an zu erklären: »Wenn ihr in die Auslage geht, beginnt ein langsames Vorrollen des Sitzes, sobald die Hände über die Knie hinweg sind. Die Beine bleiben nun nicht mehr gestreckt, sondern werden im Kniegelenk angezogen. Dabei dürfen sich die Knie etwas öffnen, aber nicht über Schulterbreite hinaus. Beim Anriß kräftig die Beine gegen das Stemmbrett drücken und beim Rückschwung strecken, wobei der Rollsitz durch den Oberkörper nachgezogen wird; er darf nicht etwa durch das Strecken der Beine nach hinten gedrückt werden. Das gäbe das unschöne ›Kisteschieben‹.« Das Boot hatte einen ganz anderen Lauf als bisher, weil die Auslage durch den Gebrauch des Rollsitzes vergrößert wurde. »Jetzt rudern wir wenigstens erst mal richtig«, strahlte Hanni den Steuermann an. »Gewiß«, bestätigte Fräulein Stein, »aber um das zu erreichen, ist auch der feste Sitz notwendig gewesen, denn ehe nicht Körper- und Wasserarbeit gut ›sitzt‹, hättet ihr auch den richtigen Gebrauch des Rollsitzes nicht erlernen können. Und trotzdem müßt ihr noch eine ganze Menge üben, um vollendet zu rudern, noch wirkt die ganze Arbeit etwas eckig. Die flüssige Ruderarbeit kann nur durch Übung erreicht werden.«


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