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Im Burckschen Hause, durch das Harry von Rhenus und Barbara schritten, war alles neu. Es fehlte jener Urväterkram, der sich sonst im Lauf der Zeiten in Familien ansammelt. Was davon je vorhanden gewesen, das war bei der Übersiedlung im Lande zurückgeblieben und verlorengegangen. Nur in seinem Arbeitszimmer hatte Otto Burck eine dämmerige Ecke, die einigen alten Erbstücken der Vergangenheit vorbehalten war. Ein sehr altes württembergisches Gesangbuch lag da, mit der fast vergilbten Inschrift: »Anno 1812 hab' ich daß Büchlein gekauft um 3 Rappen. Anna Barbara Schinzigin, eine gebohrene Häserin« auf der ersten Seite, ein eingerahmter Trauschein des Propstes der protestantischen Kirche in Polen, mit der Bestätigung, daß Lambert Burck dort im Jahre 1840 die Theresia Waldvogel geheiratet, und daneben an der Wand die beiden kleinen, fast schwarz gewordenen Ölbilder der beiden, der Eltern Otto Burcks – zwei strenge, gefurchte Köpfe, die an bäuerliche Abstammung gemahnten. Es war eine Überlieferung in der Familie, daß sie irgendwo aus Schwaben oder vom Breisgau her vor siebzig, achtzig Jahren in Polen eingewandert waren. Genau wußte es niemand zu sagen, und es interessierte auch eigentlich keinen. Die beiden Alten in dem einfachen Holzrahmen, die fix und fertig aus Darmstadt vor fünf Jahren bezogenen Möbel, die Perserteppiche und Bronzefiguren, die Seidentapeten und Gläser wirkten um so unpersönlicher, als zuweilen mitten darin wieder irgendein billiges Basarplunderstück stand und verriet, wie wenig die Bewohner innerlich mit ihren Räumen zusammenhingen.
Aus dem großen Salon, dem sich die beiden näherten, tönten Frauenstimmen. Die Herren waren noch nicht da. Frau Konstanze Burck, Barbaras Mutter, stand in der Mitte, eine große, geräuschvolle Dame, die hohe hagere Gestalt in ein viel zu jugendliches, hellila Seidenkleid gepreßt und mit überreichlichem Schmuck behängt.
Ihre beiden anderen Töchter saßen am Tisch. Anna, die Frau des Rittmeisters, weniger hübsch als die Schwestern, etwas spitz und mager. Sie hatte sich ganz in die Welt ihres Regiments hineingefunden, sie lebte nur in der Armee und mit der Armee, sie ritt und fuhr und war Offiziersdame von Kopf bis zu Fuß. Lizzie von Hafner, die zweite, hatte mit ihrer rosigen, gedankenlosen Schönheit einen Stich in das Wiener Oberflächliche. Sie lachte fortwährend, auch wenn gar kein Grund dazu war, sie hörte nie recht zu, wenn man zu ihr sprach, sondern ließ die Augen im Zimmer herumwandern wie ein neugieriger Vogel und unterbrach einen plötzlich mit etwas ganz anderem. Es war schwer, mit ihr, so liebenswürdig sie war, länger als eine halbe Stunde auszukommen – am schwersten für ihren Mann, den einzigen Menschen auf der Welt, den sie immer schlecht behandelte.
Die beiden jungen Frauen mußten schon seit einer Stunde zwischen ihren beiden Kusinen die Dolmetscherin spielen, der Mistreß Jane von Rhenus, Harrys Schwägerin, die nur Englisch, und der Madame Maurice Bürk aus Paris, die nur Französisch verstand. Und dabei hatten sich die beiden doch so wenig zu sagen, die rotwangige gesunde Angelsächsin, bei deren Anblick man unwillkürlich an viel Wasser und Seife und frische Luft und eine große Kinderstube dachte, und die kleine, üppige Pariserin mit dem vielen weißen Puder auf dem lustigen Gamingesicht, mit ihren überlebendigen Bewegungen und der scharfen Stimme. Aber es war ein Glück, daß die prüde und zurückhaltende Britin nur einen Teil der Konversation der anderen zu hören bekam. Frau von Heinreich und Frau Hafner von Hradeck übersetzten bei weitem nicht alles und warfen sich zuweilen einen halb verzweifelten, halb unwillkürlich belustigten Blick zu. Es war unglaublich, über was alles Madame Bürk in ihrer gallischen Naivität, unbefangen wie ein kleines Kind, plauderte.
Jetzt, als die Schwestern zu Barbara und ihrem Vetter traten, war überhaupt das Band des geistigen Verkehrs zwischen Mistreß von Rhenus und Madame Bürk abgeschnitten. Die beiden schauten sich nur noch an und lächelten wohlwollend und fühlten dabei deutlich, wie ungemein unsympathisch sie sich gegenseitig waren. Und Frau Konstanze Burck hütete sich wohl, ihnen zu Hilfe zu kommen. Sie stand am Tisch in der Mitte und ordnete da in aller Eile die Visitenkartenschale, so daß die aristokratischen Damen, falls jemand einen Blick hineinwerfen sollte, oben lagen. Sie hatte auch den Namen: »Robert Burck« in der Fremdenliste gelesen, die sie jeden Tag eifrig studierte, und äußerte ihr Befremden. Erstens: Robert – das sei doch an sich schon ein Verbrechername! Frau von Heinreich zuckte bei ihrer schallenden Stimme leicht zusammen und sagte zu Frau von Hafner: »Dabei heißt mein Schwiegervater so!« – und zweitens: was wollte der junge Mann hier? Das sei doch taktlos, sich hier heranzudrängen . . . und in dem Punkte – nein, Kinder – da sei sie unerbittlich.
»Er ist doch noch nicht da, Mama!« sagte Barbara kurz und ungeduldig. Ihre Mutter ging ihr heute mehr als je auf die Nerven. »Warte es doch ab!« Und zugleich hallte es auf der Treppe; die Herren kamen herab, Onkel Pauluscha allen voraus, durch den Ruf zum Lunch belebt wie ein altes Schlachtroß durch einen Trompetenstoß. Er vergaß, daß die Damen unten waren und stimmte in düsterem Baß die Arie aus dem Freischütz, sein Leiblied vor Tisch, an:
»Alle meine Därme schlagen
Und mein Bauch wallt ungestü . . . ü . . . m!«
so daß Mistreß von Rhenus, die die Worte glücklicherweise nicht verstand, besorgt fragte, ob dem alten Gentleman nicht wohl sei, und die beruhigende Versicherung in englischer Sprache von Harry erhielt: Doch! Der würde gerade jetzt erst Mensch.
Er reichte, als es zu Tisch ging, Barbara den Arm. Beide plauderten während der Suppe miteinander über gleichgültige Dinge. Es war ihnen wie eine Verstellung, und doch waren sie wieder froh darüber, daß sie durch diese zwischen ihnen halblaut gewechselten Worte von der allgemeinen Ebbe des Gesprächs bewahrt blieben. Das war ein Verhängnis und wiederholte sich immer wieder, wenn die Burcks und ihre Verwandten zusammenkamen: solange die Männer um einen Tisch mit Geschäftspapieren herumsaßen und ihre Geschäfte erörterten, ging es gut. Aber nachher, im Familienkreis, stockte der Gedankenaustausch oder schleppte sich nur mühsam fort. Für alles, was der eine sagte, fehlte beim anderen die Grundlage. Und dazu mußte, der beiden Ausländerinnen wegen, in deren Nähe immer noch Englisch und Französisch geredet werden. Jane von Rhenus faßte das auch als ganz selbstverständlich auf. Sie erwiderte auf eine Frage, ob ihre Kleinen denn auch schon Deutsch könnten, ganz entrüstet: »Oh, meine Kinder sind Engländer!« – und ebenso war Gaston, Maurice Bürks einziger Sohn, der sich zur Zeit in Lyon in der Seidenbranche als Volontär umtat, nach seiner Photographie, die bei Tisch herumgereicht wurde, ein typisches, achtzehnjähriges französisches Jüngelchen mit spitzen, altklugen Zügen.
Schließlich sprach man, während man aß, vom Essen. Onkel Pauluscha warf das Thema auf und belebte dadurch die Unterhaltung. Mitten in diesem Stimmengewirr schauten sich Harry von Rhenus und Barbara unwillkürlich an. Er sagte trocken, mit einem leisen Spott, zu ihr: »Unter Larven die einzige fühlende Brust . . .« Sie seufzte und hatte wirklich die Empfindung, daß sie und er gar nicht hierher gehörten, sondern ganz woanders hin.
Und nun erhob sich Otto Burck, eine gewisse Feierlichkeit auf seinem guten, müden, alten Gesicht, und klopfte an sein Glas und räusperte sich und hielt, als alles still geworden, seine Begrüßungsansprache an die Verwandten. Es sei ja leider den Burcks nicht so leicht gemacht, zusammenzukommen, wie anderen, die seit langem irgendwo seßhaft seien. Sie müßten zu diesem Zweck weite Reisen machen und Landesgrenzen überwinden. Aber trotzdem hätten sie seit drei Generationen den Zusammenhang bewahrt und sich die Treue gehalten.
»Das heißt: sie haben Geschäfte miteinander gemacht!« brummte Onkel Pauluscha vernehmlich. »Die anderen könnt' der Teufel holen!«
Sein Schwager warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. Dann fuhr er fort: Und dieser Familiensinn ehre sie, die Burcks! Wenn auch getrennt, seien sie sich stets eingedenk gewesen, daß sie vom selben Stamme seien . . .
Das war Onkel Pauluscha zuviel. »Jeder Amerikaner«, verkündete er laut, »weiß besser, wer sein Urgroßvater war, als wir.«
Eine Bewegung des Unmuts ging durch die Gesellschaft. Man sah den Störenfried strafend an, und Otto Burck sagte müde und mild: »Also – dann bitte – rede du! . . . Ich bin, scheint's, schon zu alt dazu . . .« Und als jener nun böswillig schwieg, fuhr er fort und gab absichtlich, um die Spannung zu heben, seiner Rede eine etwas scherzhaftere Wendung: »Wenn man uns fragt, was besitzt ihr denn eigentlich noch gemeinsam, dann müssen wir antworten: wir sind arme Leute . . .« Dabei lächelte er und die anderen Millionäre um ihn mit. »Wir haben nur noch eine Handvoll Buchstaben zusammen – die bilden den Namen ›Burck‹ – und sogar von dem hast du, Maurice, schnöde in Paris das ›c‹ weggelassen.«
»Dafür hat sich ja Joseph seinerzeit ein ›e‹ angehängt!« äußerte Barbaras Mutter mit lauter Stimme.
Es war unmöglich, in diesem Augenblick etwas Unpassenderes zu sagen. Tiefes Stillschweigen trat ein. Jeder sah im Geiste wieder Onkel John Burke, den einstigen Stolz der Familie, den entthronten Börsenkönig von London, vor sich. Der Hausherr mußte sich sammeln, um weiter zu sprechen. Es erschien ihm selbst fast wie Hohn. Auf die Vettern, die Schwiegersöhne, die Verwandten brachte er ein Hoch aus, und seinen Bruder, seinen einzigen Bruder, durfte er nicht nennen. Der verfolgte ihn mit Todfeindschaft seit vielen Jahren . . .
Er nahm sich zusammen. Er wollte nicht mehr daran denken. Er konnte doch nichts dafür. Traf ihn denn irgendwelche Schuld, wenn der unselige Mann in seiner Verbitterung Gott und die Welt anklagte und allen anderen die Verantwortung für das Unglück zuschob, das er sich selbst durch die fiebernde Rastlosigkeit seines Wesens, durch seine Spekulationen zugezogen, bei denen er lange schon vor seinem Sturz Maß und Ziel und den Boden unter den Füßen verloren hatte? Nein. Wahrlich nicht! Aber als Otto Burck sich nun anschickte, seine Rede fortzusetzen, war es ihm doch, als säße, wie Bankos Geist, der Bruder mit seinen vergrämten und abgezehrten Zügen ihm gegenüber. Er mußte sich noch einmal räuspern und eine Pause machen.
In diesem Augenblick trat der Diener von hinten zu ihm heran und meldete ihm gedämpft, beinahe ins Ohr flüsternd: »Herr Burck ist draußen!« Der alte Herr schrak förmlich zusammen. Er vergaß ganz, den Mann zu tadeln, daß er ihn unpassenderweise in dem, was er eben sagen wollte, unterbrach. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirne, verstört, wirklich für eine Sekunde von dem Gedanken durchzuckt, sein Bruder Joseph stehe vor der Tür und würde jetzt gleich über die Schwelle treten, und starrte auf die Karte, die vor ihm auf dem silbernen Tablett lag. Er las halblaut: »Robert Burck, London.«
Eine Bewegung ging um den Tisch. Die Dame des Hauses sagte gefaßt, aber mit einer so starken Stimme, daß man es mit Leichtigkeit im Flur hören konnte: »Da haben wir's. Das gehört sich doch nicht!« Harry von Rhenus zuckte stumm die Achseln – ob über sie, ob über den da draußen, blieb unbestimmt. Auch die anderen schwiegen. Der einzige, der, mit beiden Backen kauend, über das ganze, rote Vollmondsgesicht strahlte, war Onkel Pauluscha. Er war immer selig, wenn sich irgend etwas Unangenehmes ereignete.
Otto Burck hatte sich inzwischen gefaßt und fragte: »Was will denn der Herr?«
»Geld!« antwortete vom anderen Ende des Tisches her Onkel Pauluscha, aber Otto Burck hörte nicht hin, sondern wandte sich noch einmal an den Diener: »Hat er nichts gesagt?«
»Doch! Der Herr bedauert, bei Tisch gestört zu haben. Er hätt' es nicht gewußt. Und man möchte doch so gut sein, ihm eine andere Stunde zu nennen, wo er wiederkommen könnte . . . ich dachte, ich sollte ihn doch melden, weil er doch auch ein Herr Burck ist . . .«
In diesen letzten Worten des Mannes lag etwas, was Otto Burck fast beschämte. Es griff ihm ans Gewissen. Tatsächlich, der draußen gehörte doch auch zur Familie. »Wenn ich nur wüßte, was er will . . .«, sagte er zweifelnd, den Blick im Kreise schweifen lassend. Onkel Pauluscha kam prompt mit der Antwort: »Er wird die neuesten Erpressungsversuche seines Vaters bei dir persönlich unterstützen. Wozu wäre er denn sonst da!« Seine Schwester, Frau Konstanze Burck, war auffallenderweise einmal mit ihm einverstanden und erklärte sehr laut: »Otto . . . wir sind nicht zu sprechen . . .«
Aber ihr Mann zögerte. »Anhören muß ich ihn doch!« sagte er unruhig. »Und wenn ich ihn jetzt wegschicke . . . dann verdirbt mir die Ungewißheit, was da wieder für neuer Ärger und Verdruß von Joseph kommt, doch das ganze Mittagessen. Ich will es lieber gleich hinter mir haben. Entschuldigt mich, bitte, ein paar Minuten.«
Sie hatten die letzte Zeit, des Dieners wegen, Französisch gesprochen. Jetzt wandte sich Otto Burck an den und sagte: »Führen Sie den Herrn in den Salon!« Dann seufzte er, stäupte sich sorgfältig die Brotkrümel vom schwarzen Rock, knöpfte den von oben bis unten zu, wartete noch eine Minute, während sein Gesichtsausdruck schon unwillkürlich so kaufmännisch kühl und zurückhaltend wurde wie sonst im Büro. Er ging dann auch hinüber in den Empfangsraum.
Unterwegs dachte er daran, wann er eigentlich seinen Neffen zuletzt gesehen hatte. Er konnte sich an den Zeitpunkt nicht mehr erinnern, so weit lag das zurück. Vor langen, langen Jahren, zwanzig und mehr, da hatte sein Bruder Joseph ein paarmal, wenn man sich traf, seine beiden blonden Buben mitgebracht, richtige englische Boys – schon halb kleine Gentlemen mit ihren kurzen schwarzen Röcken, den breiten weißen Umlegkragen, der silbernen Uhr in der Weste –, die sich damals sehr manierlich benahmen, den Damen die Hand küßten und den Herren freimütig die Rechte schüttelten. Aber was war inzwischen aus ihnen geworden? Der eine, der ältere, war ein vollkommener Lump – das wußte man. Und dieser da, der zweite?
Otto Burck war angenehm überrascht, als er am Fenster im Salon einen großen, schlanken, unauffällig, aber gut gekleideten jungen Mann zu Anfang der Dreißig mit dichtem blondem Haar stehen sah. Er mußte sich sogar beim ersten Eindruck sagen, daß es ein ungewöhnlich hübscher Mensch sei. Etwas Frisches und Jugendliches lag über ihm. Das spiegelte sich in der Haltung, der gesunden Gesichtsfarbe und vor allem in den blauen Augen, die lebhaft und lustig dreinblickten, so förmlich er sich jetzt auch vor dem eintretenden Oheim verbeugte.
Er streckte ihm nicht die Hand entgegen, sondern wartete, ob jener sie ihm reichen würde. Und Otto Burck tat das, wenn auch zögernd, mit einem inneren Vorbehalt. Er wußte ja noch nicht, was nun kommen solle, und fürchtete es doch bereits – aber immerhin – vorläufig war das doch sein leiblicher Neffe. Er sagte mit einem unterdrückten Seufzer in der Stimme: »Bitte, nimm Platz! . . . Wie geht es dir?«
»Danke! Sehr gut!« Robert Burck lachte. »Und euch . . .? Ihr seid da alle beisammen! Verzeih – ich wußt' es wirklich nicht . . .«
»Mir geht es nicht gut!« sagte der kleine alte Herr. »Und hauptsächlich deines Vaters wegen! . . . Und der schickt dich ja nun wohl hierher?«
»Nein!«
Otto Burck zog die Augenbrauen hoch und schwieg.
»Ich habe von meinem Chef in Liverpool aus eigenem Antrieb Urlaub genommen. Und nun, um gleich zur Sache zu kommen; ich weiß, daß Papa in nächster Zeit wieder mit neuen Forderungen an dich herantreten wird . . .«
Otto Burck rückte etwas mit dem Stuhl. Nun war die Unterredung wohl gleich zu Ende.
»Wenn er kommt, dann bitte, gib ihm nichts, gar nichts. Versprich es mir, denn deswegen bin ich hierhergereist . . . Papa muß doch einmal zur Ruhe kommen und endlich auf diese vergangenen Geschichten verzichten. Die führen ihn ja nur mehr und mehr in den Nebel hinein! . . . Sieh mal – ich sorge ja doch für ihn . . . ich habe mich ja doch in den letzten Jahren tüchtig in die Höhe gerappelt. Ich verdiene jetzt gut und gerne meine zwanzigtausend Mark im Jahr. Davon geb' ich Papa ein Fünftel – etwas brauch' ich für mich, der Rest kommt auf die hohe Kante – na – da kann man doch leben! Da braucht man doch nicht seinen Verwandten zur Last zu fallen! Das ist mir ein peinlicher Gedanke. Onkel, das drückt mich jetzt schon die ganze Zeit! Das soll sich nicht mehr wiederholen!«
»Ja, das ist freilich . . .« Otto Burck war ganz überrascht. Auf seinem alten, faltigen Gesicht war jetzt ein viel freundlicherer Zug, und so sagte er: »Das wußte ich gar nicht, daß du soviel für deinen Vater tust! Das hat er mir nie geschrieben!« Der junge Mann lachte heiter. »Ja, das glaub' ich! Mit viertausend im Jahr ist ihm nicht gedient. Der will vierzigtausend haben oder viermalhunderttausend . . . wie damals, als wir noch so reich waren . . .«
Er sprach ganz unbefangen von dieser goldenen Zeit, an die er selbst sich höchstens noch ganz unbestimmt aus seinen Kinderjahren erinnern konnte. Sein Oheim sagte, jetzt sehr versöhnlich, denn ihm war ein Stein vom Herzen gefallen: »Nun, das macht dir jedenfalls alle Ehre, dies Opfer, das du da bringst . . .«
»Ach, der gute Papa!« Es waren nur die paar Worte, die Robert Burck einfach und lächelnd sagte. Aber es lag unendlich viel Weichheit, beinahe Zärtlichkeit darin. Er schien seinen Vater nicht nur zu lieben, sondern auch jetzt noch zu bewundern! Otto Burck dachte unwillkürlich: Ein so guter Sohn ist sicher auch ein guter Mensch!
Und laut sagte er: »Das ist recht, daß du deinen Vater noch liebhast!« Der andere stand auf und griff nach seinem Hut und sagte: »Na, wenn ich's nicht tu, die anderen haben ihn doch alle längst vergessen! . . . Aber die Dummheiten muß er nun mal lassen! Also nicht wahr, Onkel – das ist abgemacht: Wenn er kommt, verweisest du ihn einfach an mich! Dann weiß er schon Bescheid! Und nun verzeihe, daß ich gestört habe . . .«
Dabei wandte er sich schon zur Türe. Es war klar, daß er seinen Besuch nur als einen rein geschäftlichen betrachtet wissen wollte, um auch den Schein von Aufdringlichkeit zu vermeiden. Deswegen hatte er auch nicht einmal nach den Damen des Hauses gefragt oder gebeten, ihn ihnen zu empfehlen. Aber nun wollte ihn Otto Burck doch nicht so gehen lassen. Er kämpfte einen Augenblick noch mit sich, dann meinte er: »Warum willst du denn schon wieder fort? Komm doch mit hinüber! . . . Setze dich ein bißchen zu uns . . .«
Dabei war ihm etwas beklommen zumute. Er wußte, daß er damit auf die Billigung seiner Frau und der meisten anderen am Tisch nicht rechnen konnte. Aber es war doch immerhin ein Burck, sein Neffe und ein anständiger Mensch. Das sah er, und insgeheim hoffte er noch halb, jener würde ablehnen. Doch Robert Burck sagte unbefangen: »Wenn ich euch nicht störe, gern . . .« Er setzte dann, während sie durch die Zimmer gingen, ernster werdend hinzu: »Sieh mal, Onkel, ich bin ja froh, wenn ich endlich einmal dazu komme, mich mit meinen Verwandten gut zu stellen; ich kann doch schließlich für das alles nichts. Es ist mir ein schrecklicher Gedanke, daß ich das Erbe von all dem Haß und der Feindschaft von früher antreten soll und mein Leben lang unnütz mit mir herumschleppen . . .«
Drüben, am Familientisch, ging es zur Beruhigung des alten Herrn besser, als er gefürchtet hatte. Die Überraschung über das plötzliche Erscheinen des neuen Gastes war zu groß. Der saß schon an seinem, schnell von dem Diener hergerichteten Platze, Barbara gerade gegenüber, ehe sich die anderen von der Verblüffung erholt hatten. Er fing, während er sich ohne Scheu aus den ihm präsentierten Schüsseln bediente, ganz harmlos, als finde er gar nichts an seiner Anwesenheit hier, von selbst zu reden an. Er beantwortete Tante Konstanzes feinfühlig über die Tafel gerufene Frage, ob und wo er zur Zeit in Stellung sei, dahin, daß er sich jetzt, in seiner Tätigkeit in England, recht wohl fühle. In Polen, wo er dieselbe Firma bis vor einem Jahr vertreten, habe es ja mehr Nerven gekostet. Und davon ausgehend schilderte er lebendig, wie das englische Nähgarnsyndikat den polnischen Markt zu erobern versuchte und die polnischen Fabrikanten das durch eine Einfuhrzollerhöhung zu hintertreiben strebten, und sie, die Liverpooler, wieder die paar Wochen vor Torschluß dazu benutzten, um alle Waren des Weltmarktes, die zu haben waren, auf allen Bahnlinien, auf allen Schiffen, die unter Volldampf noch dorthin schwimmen konnten, in das Polenreich zu schleudern, es förmlich mit Nähgarn zu überschwemmen, daß auf Jahre hinaus der Markt bis in die kleinsten Plätze gesättigt war und die Fabrikanten mit ihrem schönen Zollschutz wie die betrübten Lohgerber dastanden und doch nicht nachgaben, sondern den Kampf bis aufs Messer weiterführten. Ernsthafte Gegner, ganze Kerle! Das mußte man sagen. Dabei leuchteten seine Augen in kriegerischem Feuer. Die Begeisterung, die Freude an solch kaufmännischem Wagemut riß ihn hin. Und auch der anderen, der Großkaufleute am Tisch, bemächtigte sich eine gewisse Erregung. Das war ja ihr Feld. Das interessierte sie, und hier doppelt, wo sie es einmal nicht von ihrer kühlen Millionenhöhe, sondern von unten, vom Standpunkt eines einfachen Angestellten sahen, einer unter vielen, der mit Begeisterung für sie Schlachten schlug und seine Haut zu Markte trug. Und sogar Onkel Pauluscha war frohbewegt und sagte: »Na – dies war ein gutes Stück Arbeit! . . . Ja . . . Arbeit ist etwas Schönes!« Diese Anerkennung klang bei ihm, der sein ganzes Leben nichts getan, besonders seltsam.
Auch Barbara hatte aufmerksam zugehört. Der Vetter amüsierte sie, wenn sie auch einen leichten Spott über zu viel Eifer und Begeisterung bei ihm nicht unterdrücken konnte. Aber er war etwas Neues nach den vielen blasierten, reichen Männern ihrer Kreise. Das erfrischte. Wenigstens für einige Zeit. Später, wenn es sich wiederholte, mochte es wohl langweilig werden.
Der edle Franz Hafner von Hradeck, der die ganze Zeit über still und sorgenvoll dagesessen hatte, als dächte er nur darüber nach, wie er die achtzehn Prozent Reingewinn aus seiner Farbenfabrik noch steigern könne, öffnete jetzt plötzlich zu allgemeinem Staunen den Mund und sagte gedrückt zu seinem Schwiegervater: »Du bist uns doch eigentlich noch deinen unterbrochenen Toast schuldig!« Der alte Herr schlug sich vor die Stirn. Wahrhaftig, der Franzl hatte recht! Das hatte er im Drang der Ereignisse ganz vergessen. Aber nun ließ es sich ja noch nachholen und in besserer Stimmung als vorher. Und so stand er wieder auf und klopfte mit dem Obstmesser am Sektkelch und begann dann behaglich: »Also kommen wir rasch zum Schluß! Eben, als du kamst, Robert, war ich dabei. Ich rühmte gerade, daß die Burcks ihren Familiensinn noch nicht verloren haben und sich eins fühlen, so verschiedene Nationalitäten sie auch vertreten.
Also möge das immer so bleiben, so bestehen wie jetzt. Auf diesen neuen Bund leere ich mein Glas . . .«
Man lachte und stieß an, und Otto Burck lehnte sich behaglich in seinen Sessel zurück. Er freute sich, wenn ihm solche kleine Reden geglückt waren. Dagegen war über das Gesicht seines Neffen Robert – Barbara sah es deutlich und mit Befremden – ein Schatten geglitten, ein Zug von Verstimmung, obwohl doch gerade er sich besonders geschmeichelt fühlen durfte, daß man ihn hier als gleichberechtigtes Familienglied mitnannte. Gleich darauf war das bei ihm wieder weg, und er übersetzte Madame Maurice Bürk, die bisher in dem deutschen Stimmengewirr ebenso wie Mistreß von Rhenus verständnislos lächelnd dagesessen, den Sinn der Rede. Es fiel Barbara auf, wie gut seine Aussprache des Französischen war. Sie beobachtete ihn, fast wider ihren Willen. Es reizte sie, bei ihm irgendein kleines Manko zu entdecken – ein fast unsichtbares Zeichen, das dem Kundigen verriet: »Der gehört nicht hierher!« Aber sie fand nichts. Daß er einmal, nach einem Schluck aus seinem Glase, unbefangen lächelnd zum alten Burck sagte: »Na, das ist mal ein Wein, Onkel! . . . Alle Achtung!« – daß er manchmal ein bißchen lebhafter sprach und gestikulierte, als man es hier gewohnt war, das wollte nichts bedeuten. Und was sie sonst an ihm musterte – Hände, Wäsche, Anzug, alles war tadellos. Er war wirklich ein ungewöhnlich gut aussehender junger Mann – sie sagte sich im stillen, daß er als Erbe einer Millionenfirma einen weit wahrscheinlicheren Eindruck machen würde als etwa der bleiche, blonde Franzl Hafner da unten oder der Sybarit Pauluscha.
Ein paarmal trafen sich über die Tafel hinüber ihre Blicke. Sie sprachen miteinander, gleichgültige Dinge, wie sie die allgemeine Konversation gerade mit sich brachte. Es fiel ihr wieder auf, daß Robert Burck seit der Rede ihres Vaters verändert und zerstreut war, so, als laste etwas auf ihm oder als kämpfe er mit einem Entschluß – und dann schien er diesen Entschluß gefaßt zu haben. Gerade, als Frau Konstanze Burck durch ihre Fremdwörtersucht eine peinliche Pause der Beklemmung hervorgerufen – sie hatte etwas von der Einfahrt in den Phosphorus bei Konstantinopel erzählt –, gerade in diesem Augenblick wurde Robert Burck ein wenig rot, erhob sich und sagte hastig zum Hausherrn: »Darf ich ein paar Worte sprechen – ja?«
Man sah ihn verdutzt an. Onkel Pauluscha murmelte befriedigt: »Na, endlich!« – endlich ging die Geschichte schief, wie er die ganze Zeit schon gehofft hatte. Robert begann, halb lachend, halb verlegen: »Ich weiß ja: es ist eine Frechheit, Onkel – und du kannst mich ja nachher hinaus . . . hinauskomplimentieren, wenn dir das nicht paßt. Aber vorher möcht' ich das doch sagen – es gibt Sachen, die muß man sagen – ich wenigstens – es ist so meine Art . . .«
»Na, nun schon zur Sache!« meinte Harry von Rhenus ihm gegenüber halblaut und wenig freundlich: der arme Vetter fiel ihm auf die Nerven. Es war recht lustig, daß seine Mutter und dessen Vater Geschwister gewesen.
»Ich komme schon zur Sache!« Robert Burck wandte sich an seinen Onkel, der ihm gespannt und etwas unruhig zuhörte: »Du hast vorhin die Freundlichkeit gehabt, von den verschiedenen Burcks zu sprechen – darunter auch von mir. Und da ist mir eingefallen: ich besitze ein kleines Photo meines Großvaters – deines Vaters –, es ist das einzige Familienstück, was sich bei uns erhalten hat – und der war doch – das wissen wir doch – ein Deutscher und gar nicht weit von hier aus dem Schwarzwald zu Hause . . . und hatte eine Deutsche zur Frau – und wir selbst führen doch noch seinen guten deutschen Bauersnamen Burck und sprechen Deutsch miteinander, wenn wir zusammenkommen. Sagt selbst: Würden denn Engländer in irgendeinem Teil der Erde beisammensitzen und sich in englischer Sprache erzählen, daß sie Österreicher oder Polen oder Spanier sind? Würden Franzosen sich nicht eher die Zunge abbeißen, ehe sie das tun? Sind nicht die Polen stolz auf ihre Nationalität und wollen sie nicht verleugnen? . . . Warum sind wir Deutsche darin so anders – auch jetzt noch – und immer für die anderen Völker da? Es geht dabei doch soviel für uns verloren, für jeden einzelnen. Man verliert doch seinen natürlichen Rückhalt in der Welt, wenigstens ich hab' das immer so empfunden, wenn ich mich natürlich auch mit euch an Erfahrung und Stellung im Leben nicht vergleichen kann. Ich habe mir immer gesagt: Gedenk', daß du ein Deutscher bist . . .«
»Hört! Hört!« rief Onkel Pauluscha, eine lange Selleriestaude, an der er wie ein Kaninchen knabberte, in der Hand schwenkend. Aber die anderen lachten nicht mit. Sie waren zu verblüfft. Nur der Rittmeister von Heinrich machte ein zufriedenes Gesicht. Da hörte er zum ersten Male etwas, was er in diesem Kreis verstand. Und Robert Burck, etwas durch das allgemeine Schweigen entmutigt, setzte mit leiserer, aber immer noch fester Stimme hinzu: »Ich bin da vielleicht zu weit gegangen – ich meine – ich habe mich vielleicht zu allgemein ausgedrückt. Ich wollte natürlich niemandem Vorhaltungen machen, solche Überhebung liegt mir fern. Ich wollte eigentlich nur von mir und meiner Person reden und die verteidigen – weil du mich als Vertreter der englischen Burcks ansiehst. Da führe mich lieber als Vertreter der deutschen Burcks auf, oder als den deutschen Burck, wenn kein anderer da ist. Ich bin keine glänzende Vertretung – das weiß ich schon, aber doch besser als nichts . . . so . . . das war's.« Er atmete auf. »Und ich wollte eben bloß mein Deutschtum nicht verleugnen . . . und wenn dir das zu viel war, lieber Onkel, dann sag's mir jetzt nur . . . ich bin auf alles gefaßt . . .«
In der allgemeinen Stille am Tisch sah Otto Burck das selige, Unheil witternde Lächeln seines Schwagers Pauluscha und ganze Faltenlinien eisiger Beschränktheit und Gekränktheit auf dem Antlitz seiner Frau. Das verdroß ihn und bestimmte ihn noch mehr, Milde zu üben. »Warum sollst du nicht auch deine Meinung haben, lieber Robert . . . sie macht dir Ehre.« Dies mit einem nachdrücklichen Blick auf Onkel Pauluscha, der immer noch grinste. »Sie macht dir Ehre . . . sie ist nur leider nicht immer in der Praxis durchzuführen – und um so weniger, je größer die Verhältnisse sind und je mehr auf dem Spiel steht . . . bei dir, der du ja noch ein junger Mann bist und am Anfang deiner Laufbahn stehst . . .« – »Und nix hast und bist!« murmelte unten Onkel Poldi, der alte Wiener Ringstraßendandy, gutmütig und so leise vor sich hin, daß nur seine Nachbarin, Frau von Heinreich, sein »Keck sein s' heutzutag', die jungen Leut« verstand – »bei dir, lieber Robert, ist das ja etwas anderes, und ich wünsche dir Glück dazu . . .«
Damit war der Spannung die Spitze abgebrochen. Aber die Wirkung zitterte noch nach. Ein Befremden über den Eindringling blieb. Die meisten machten befangene Gesichter. Auch Barbara war erstaunt. Sie hatte das dem Vetter aus der Liverpooler Nähgarnbranche gar nicht angesehen. Und als Madame Maurice Bürk sie fragte, was jener gesagt habe, und auf ihre Antwort, sie sollten alle durch die Bank Deutsche werden, mit einem »Pruh« die gepuderten Hände erhob, da ärgerte sie sich fast über diese Naturbewegung und dachte zum ersten Male in ihrem Leben darüber nach, wie planlos eigentlich eine Familie wie die ihre in der Welt herumtreibe – so wie eine Qualle im Meer!
Und neben ihr sagte Harry von Rhenus kühl und spöttisch über den Tisch hinüber zu jenem: »Dabei bist du doch selber englischer Untertan.«
»Nein. Ich bin wieder Deutscher! Schon seit sieben Jahren. Frag nur den deutschen Konsul in Liverpool.«
»Um Deutscher zu sein, muß man gedient haben!« sprach Harrys schweigsamer Bruder Augustus langsam mit englischem Stimmenklang.
»Daraufhin hab' ich ja eben mein Jahr abgedient, in Berlin.«
Das wußte man nicht. Das war neu. Die Verbindung mit Onkel Joseph in London war eben immer nur durch Gerichte und Rechtsanwälte aufrechterhalten worden. Von seiner Familie hatte man wenig gehört. Und der Rittmeister von Heinreich, der jetzt lebendig wurde, fragte teilnehmend: »Dann sind Sie vielleicht auch Reserveoffizier, Herr Burck?« Robert antwortete lachend: »Nein. Dazu hat's doch nicht gelangt. Als Angestellter, der ich damals, vorher und nachher, in England war. Aber Unteroffizier bin ich jetzt noch – den Ruhmestitel kann man mir nicht rauben . . .«
»Hm . . . das ist ja sehr nett!« meinte Herr von Heinreich etwas ernüchtert. Und Harry von Rhenus hub wieder an, gereizt durch die fragenden Blicke, die Barbara viel öfter, als ihm lieb war, auf dem neuen Vetter ruhen ließ. »Na schön! Dann würde ich aber doch auch an deiner Stelle in Deutschland bleiben . . .«
». . . und hinter dem Ofen hocken und den Engländern die weite Welt überlassen!« Robert Burck richtete sich kampflustig auf. Jetzt kam wieder der kriegerische Geist über ihn wie vorhin bei der Erzählung seiner polnischen Kampagne. »Nee, lieber Vetter. Jetzt heißt's Farbe bekennen. Die Engländer sollen sich noch wundern, wie wir ihnen die Hölle heiß machen . . .«
Das war so offenherzig, beinahe grob, daß Barbara lachen mußte. Otto Burck, der dem Wortwechsel gefolgt war, beeilte sich jetzt, die Tafel aufzuheben.
Man trank den Kaffee draußen im Garten, unter schattigen Bäumen, von denen aus man den Blick über die grünen Rasenflächen der Burckschen Villa genoß. Die Fremden, die draußen auf der steil zu den Höhen ansteigenden Straße vorbeigingen, konnten in das alles hineinsehen. Frau Konstanze Burck hatte diese Ruheplätzchen, die Altane und Lauben so eingerichtet, daß sich von außen ein hübsches lebendes Bild bot – dieser Kranz elegant gekleideter, anständiger Menschen, drei, vier schöne junge Frauen in duftigen Toiletten darunter, dazwischen noch der Glanz einer Offiziersuniform – im Hintergrund der korrekte Diener – sie kämpfte in solchen Augenblicken mit der Versuchung, selbst einmal zur Probe auf die Straße hinauszutreten und durch ihr Lorgnon zu prüfen, ob Burcks sich wirklich von da draußen so fein ausnähmen, wie sie hoffte.
Aber sie blieb sitzen. Es war eine etwas unbehagliche Pause des Kaffeelöffelns und Zigarrenanzündens nach dem Essen. Es änderte auch nichts daran, daß sich Onkel Pauluscha mit einem feierlichen Seufzer: »Na – nun muß ich mal über die Kurse nachdenken!« empfahl und ins Haus zurückging. Das tat er jeden Tag, und fünf Minuten später schnarchte er wie ein Murmeltier. Seine Schwester entschloß sich, das Eis zu brechen. Sie wandte sich an Robert mit jenem eigentümlich strengen Ton, den sie immer gegen Menschen hatte, die nach ihrer Meinung irgendwie unter ihr standen: »Wie lange denkst du eigentlich in Baden-Baden dich aufzuhalten?« Diesmal zuckte nicht nur ihr Gatte unter dieser neuen Taktlosigkeit zusammen, sondern auch Barbara richtete sich auf und sagte absichtlich freundlich: »Hoffentlich bleibst du noch einige Zeit! Jetzt ist ja gerade soviel los!«
»Aber nicht für mich!« meinte ihr Vetter lachend. »Das ist für mich ein zu teures Pflaster. Ich will morgen weiter. Aber da möchte ich dich fragen, Onkel . . .« Er wandte sich an Otto Burck. »Wie kommt man am besten nach Peterswalde?«
»Nach Peterswalde?«
»Nun ja, in den Schwarzwald, gar nicht so weit von hier, wo unsere Familie her ist. Dein Vater ist ja noch dort geboren . . .«
»Ja freilich . . .« Otto Burck zögerte. »Das ist er. Aber ich war noch nie dort!«
Sein Neffe riß vor ungläubigem Erstaunen die blauen Augen auf. »Du nicht? Und auch sonst keiner von euch?«
»Nein.«
»Ja, aber wie ist denn das nur möglich?«
Otto Burck, der sonst bei aller Stille und Einfachheit seines Wesens etwas sehr Selbstsicheres besaß, war verlegen. »Sieh mal – ich stamme doch aus Polen – ich bin dort geboren. Ich habe mein Leben dort zugebracht. Und jetzt, wo ich alt bin – die letzten fünf Jahre hier – mir ist's eigentlich nicht recht in den Sinn gekommen, daß mich nach dem Schwarzwald hin noch etwas verbindet – und meinen Kindern, scheint es, noch weniger . . .«
»Aber dein Vater ist doch dort geboren«, wiederholte Robert mit einem leichten Kopfschütteln – »unser aller Großvater hier . . .« Hierbei blickte er den spöttisch lächelnden Harry von Rhenus an und dessen Bruder Augustus und dann die Damen – »und der Bruder unseres Großvaters, dein Vater, doch auch.« Damit wandte er sich an Maurice Bürk, und der alte Pariser Boulevardier machte bei diesem Versuch, ihn mit den Schluchten des Schwarzwaldes in Verbindung zu bringen, ein ganz verdutztes und skeptisches Gesicht. Der Gedanke kam allen so unerwartet – er war so außerhalb ihres Lebensbereiches und Interessenkreises, daß Robert Burck wieder wie ein Fremder ihnen gegenübersaß. Wenigstens den Männern. Den Frauen gefiel er. Er gefiel ihnen nur zu gut. Das sagte sich Harry von Rhenus schon die ganze Zeit mit wachsendem Ärger. Nicht nur Barbara – auch in den Augen ihrer beiden Schwestern und in denen der Mistreß von Rhenus und der Madame Maurice Bürk lag ein freundlicher Ausdruck, wenn sie den auffallend hübschen jungen Mann betrachteten, und jener – so verstohlen und unauffällig er es tat, so entging es doch der steigenden Eifersucht des anderen nicht – nahm jede Gelegenheit wahr, um einen Blick von Barbaras Schönheit zu erhaschen. Und von deren Zügen war das Frostige und Mißtrauische jetzt halb geschwunden. Sie ging aus sich heraus, sie lachte ein paarmal herzlich und beteiligte sich so unbefangen am Gespräch wie sonst selten, ganz offenbar, um Robert Burck in seiner Vereinsamung zu unterstützen.
Der alte Burck hatte inzwischen nach dem Chauffeur geklingelt, und als der Mann vor ihm stand, befahl er kurz: »Suchen Sie auf der Karte den Ort Peterswalde im Schwarzwald. Ich fahre morgen dorthin!« Er setzte, gegen die anderen gewandt, hinzu: »Und wer Lust hat, mag mich begleiten . . . du selbstverständlich, Robert. Du hast mich da wirklich an etwas erinnert, was ich längst schon einmal hätte tun sollen! Wer weiß, wie lange ich noch leb'! Und nun komm mal mit! Ich will dir etwas zeigen!« Damit führte er ihn in das Haus zurück und in sein Arbeitszimmer, wo aus der dämmerigen Ecke die beiden gefurchten, strengen Bauerngesichter des Lambert Burck aus dem Schwarzwald und seiner Frau, der Therese Waldvogel, auf sie herabschauten. Er wies ihm die, von einem plötzlichen Ernst der Vergangenheit gegenüber dem jungen Mann ergriffen, und ebenso das alte Gesangbuch, alles, als schäme er sich ein wenig vor sich selber und müsse ein vergessenes Unrecht gutmachen.
Unten im Garten hatte sich nach dem Weggang der beiden die Gesellschaft zerstreut. Man wandelte zwischen den Beeten, und Harry von Rhenus benutzte die Gelegenheit, sich allein an Barbaras Seite zu gesellen. Er sagte, sobald sie allein waren, halb hastig, halb höhnisch: »Sag mal, was fällt denn dem Kerl ein?«
»Welchem Kerl?«
»Nun – diesem taufrischen Vetter aus der Fremde! Ich dachte, ich höre nicht recht. Statt daß solch ein Mensch seinem Schöpfer dankt, daß man ihn in unseren Kreis aufnimmt . . .«
»Da gehört er hinein . . . gerade so gut wie du oder ich!«
»Gewiß! Er ißt nicht mit dem Messer . . . er hat einen schwarzen Rock an. Er pumpt deinen Vater nicht an, er ist ein ganz korrekter junger Mann. Mehr kann man nicht verlangen . . .«
»Bitte, laß diesen Ton!« Sie stampfte gereizt mit dem Fuß auf den Kies des Gartenweges. Auch über sein Gesicht glitt eine flüchtige Röte des Unmuts. Aber er hielt an sich und sagte ruhig, beinahe wegwerfend: »Dieser Knabe Robert und wir – lächerlich! . . . Sein Vater läuft mit ausgefransten Hosen in der City herum – der Bruder ist ein Taugenichts . . . die Schwester . . .«
»Das weiß ich alles!«
»Nun also! Es ist ja Pech, eine solche Familie zu haben – ich geb' es ja zu – aber wir können die Leute doch nicht respektabel machen. Und nun« – Harry von Rhenus sah nach der Uhr – »es wird nämlich Zeit, daß ich mich empfehle. In ein paar Stunden geht mein Zug. Und vorher hab' ich eine Bitte!«
»Nun?«
»Fahr morgen nicht mit nach Peterswalde!«
»Doch! Ich möchte es!«
»Auch wenn ich es nicht möchte?«
»Dazu hast du gar keinen Grund!«
Sie gingen stumm eine Strecke weiter, die Augen am Boden. Dann hub er wieder, ärgerlich und trotzig, an. »Schließlich – nach dem, was wir vorhin besprachen, hätte ich doch fast ein Recht, solche Wünsche zu äußern . . .«
»Ich weiß noch nichts von einem Recht!« sagte Barbara. »Wir haben miteinander geredet. Aber unsere Entscheidung steht für uns beide noch aus, bis du zurückkommst. Das war doch zwischen uns ganz klar – nicht wahr?«
Auf der Terrasse am anderen Ende des Gartens erschienen Otto Burck und Robert. Sie traten aus dem Hause. Harrys Gesicht verfinsterte sich noch mehr. Dann sagte er plötzlich kurz und verächtlich, als kämpfe er gegen seinen eigenen Gedankengang: »Ach was! Es ist ja auch alles Unsinn. Ist's dir recht, wenn wir wieder zu den anderen gehen, Barbara?«
»Ja!« erwiderte sie kurz, und sie legten stumm den Weg zu der Villa zurück.